Als ich nach Hause komme, sitzt meine Mutter im Wohnzimmer. Mein Vater sitzt ihr gegenüber. Sie sehen aus wie zwei Salzsäulen.
»Setz dich.«
Ich stelle den Rucksack zwischen die Beine, um mich gegen den Zorn zu wappnen, der gleich über mich hereinbrechen wird. Meine Mutter redet als Erste.
»Die Schule hat angerufen. Deine Versetzung ist gefährdet. Von heute bis zum Ende des Schuljahres verlässt du das Haus nicht mehr.«
Ich sehe meinen Vater an, um zu kapieren, ob das wieder eine von Mammas Drohungen ist, die nach einigem Hin und Her nur auf gekürztes Taschengeld oder ein samstägliches Ausgehverbot hinauslaufen. Doch mein Vater ist todernst. Ende der Diskussion. Ich sage nichts. Ich schnappe meinen Rucksack und verschwinde in meinem Zimmer. Was kratzt mich so eine Strafe? Wenn es sein muss, haue ich ab, die können mich bestimmt nicht abhalten. Und wenn ich abhaue, was machen sie dann, mich für ein ganzes Jahr verknacken? Dann haue ich eben wieder ab, bis sie mich lebenslänglich bestrafen, und dann hat es eh keinen Wert, denn schließlich ist das ganze Leben eine Strafe, was nützt da eine zweite. Ich schmeiße mich aufs Bett. Meine Augen starren an die Decke, an der wie ein Fresko Beatrices Gesicht erscheint.
»Vielleicht hast du es noch nicht verstanden: Ich sterbe.«
Ihre Worte durchlöchern meine Adern wie tausend Nadeln. Ich habe nichts kapiert vom Leben, vom Schmerz, vom Tod, von der Liebe. Dabei hatte ich geglaubt, die Liebe siege über alles. Armer Irrer. Genau wie alle anderen: Jeder leiert das gleiche Drehbuch dieser Komödie herunter, und am Ende werden alle umgenietet. Von wegen Komödie, das ist ein Horrorfilm. Während ich auf dem Bett versteinere, merke ich, dass mein Vater hereingekommen ist. Er sieht aus dem Fenster.
»Weißt du, Leo, ich hab auch mal die Schule geschwänzt. Der Bruder eines Klassenkameraden von mir hatte gerade ein Spider-Cabrio geschenkt bekommen, und wir haben eine Probefahrt ans Meer gemacht. Ich weiß noch genau, wie der Wind unsere gebrüllten Worte mit sich forttrug, während das Auto wie ein motorisierter Pfeil die Luft durchschnitt. Und dann das Meer und all diese Freiheit, die uns zu gehören schien. Die anderen eingesperrt in den Klassenzimmern und wir hier, schnell und frei. Ich kann mich noch an den weiten Horizont erinnern, an dem nichts den Blick hielt und der bis zur Sonne reichte. In dem Moment begriff ich, dass es angesichts der Freiheit des Meeres nicht darauf ankommt, ein Schiff zu besitzen, sondern ein Ziel, einen Hafen, einen Traum, der es wert ist, all dieses Wasser zu überqueren.«
Mein Vater hält inne, als würde er vor dem Fenster wie im Traum den Horizont und die fernen Lichter eines Hafens sehen.
»Wäre ich an jenem Tag in die Schule gegangen, Leo, wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin. Die Antworten, nach denen ich suchte, habe ich an einem Tag erhalten, an dem ich auf die Schule gepfiffen habe. An einem Tag, an dem ich zum ersten Mal auf eigene Faust nach dem gesucht habe, was ich wollte, auch auf die Gefahr hin, dafür bestraft zu werden…«
Ich weiß nicht, ob sich mein Vater in Albus Dumbledore oder in Dr. House verwandelt hat, Fakt ist, dass er hundertprozentig begriffen hat, wie es mir geht. Ich kann’s kaum fassen. Schon, als er mir die Begegnung mit Mamma erzählt hat, ist mir die Spucke weggeblieben, aber hiermit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Da kenne ich ihn nun schon seit rund sechzehn Jahren, aber eigentlich weiß ich kaum etwas von ihm oder von dem, was wirklich zählt. Ich will etwas sagen, aber mir fällt nur peinlicher Schwachsinn ein, und zum Glück redet mein Vater weiter.
»Ich weiß nicht, warum du heute nicht in der Schule warst, und deshalb hast du die Strafe verdient, denn das gehört zum Spielchen nun mal dazu, man muss für seine Handlungen geradestehen. Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen. Ich vertraue dir.«
Die Welt verändert sich. Man muss damit rechnen, dass sie sich im nächsten Moment andersherum dreht, Homer Simpson ein Vorzeigeehemann wird und Inter die Champions League gewinnt. Mein Vater sagt unglaubliche Sachen. Es ist wie im Film. Er sagt genau das, was ich jetzt brauche. Ich frage mich, warum er das nicht schon früher gemacht hat. Und da kommt auch schon die Antwort, ohne dass ich danach fragen musste.
»Jetzt verstehe ich, dass du für das, was dir wichtig ist, bereit bist, ein Jahr zu wiederholen, und ich bin sicher, dass es kein Blödsinn ist.«
Ich bleibe stumm und frage mich, wie es sein kann, dass man nur einen Tag nicht zur Schule zu gehen braucht, damit das Leben von Schwarzweiß auf Farbe umstellt. Erst Beatrice, dann mein Vater. Das Einzige, was ich rausbringe, ist:
»Welche Strafe hast du damals gekriegt?«
Mein Vater dreht sich zu mir um und sagt mit einem ironischen Lächeln:
»Auch darüber werden wir sprechen. Ich kenne da zwei oder drei Tricks, wie man gewisse Anfängerfehler vermeiden kann.«
Ich lächle zurück. Und dieses Lächeln zwischen meinem Vater und mir ist das Lächeln zwischen zwei Männern. Er geht hinaus, und die Tür ist schon fast zu, als ich mir einen Ruck gebe.
»Papa?«
Er steckt den Kopf wieder herein.
»Ich würde nur gern rausgehen dürfen, um Beatrice zu besuchen. Ich war heute bei ihr.«
Mein Vater sieht mich einen Moment lang ernst an, und ich bin schon auf ein kommt gar nicht in Frage gefasst. Er sieht zu Boden und dann wieder zu mir.
»Erlaubnis erteilt, aber nur dafür. Sonst …«
»… verwandelst du mich in den Staub meines Schattens, ich weiß, ich weiß …«
Ich grinse.
»Und Mamma?«
»Ich rede mit ihr.«
Die Tür ist schon zu, als er das sagt.
»Danke, Papa.«
Ich sage es zweimal. Die Worte kullern über den Fußboden, während ich mich zurücklege und zusehe, wie sich die weiße Zimmerdecke in einen Sternenhimmel verwandelt. Das Blut pulsiert durch die Adern und bringt sie zum Glühen. Zum ersten Mal empfinde ich nach einer Bestrafung keinen Hass gegen meine Eltern und mich selbst. Und der Staub meines Schattens ist Sternenstaub.