Silvia hat mich besucht. Sie hat mir ein Buch mitgebracht. Eines mit Erzählungen.
»Damit dir die Zeit nicht lang wird.«
Silvia ist wie die Brandung, sie ist immer da, auch wenn man sie nicht hört. Und wenn man ihr lauscht, wiegt sie einen in den Schlaf. Würde ich sie lieben, würde ich sie sofort heiraten, doch die Liebe ist nicht Brandung, sie ist Sturm. Ich frage sie nach Beatrice. Sie sagt, sie sei wieder im Krankenhaus. Zur zweiten Runde Chemotherapie.
»Sie ist hier, in diesem Krankenhaus.«
Ich fasse es nicht. Ich schlafe unter demselben Dach wie Beatrice und wusste es nicht. Die Nachricht macht mich völlig kribbelig vor Freude. Silvia gegenüber lasse ich nur wenig durchblicken, der Gedanke ist so schön, dass ich ihn allein auskosten möchte. Nachher will ich noch mal darauf zurückkommen, und außerdem muss ich noch etwas erledigen. Ach was, ich mach’s sofort.
»Wieso bringst du ihr nicht meinen Brief?«, frage ich Silvia.
Sie meint, das sei wohl nicht so gut, und sieht fast traurig zu Boden. Vielleicht hat sie recht. Während der Chemo schläft Beatrice viel, die Therapie nimmt sie total mit. Sie muss oft kotzen. Silvia traut sich nicht, zu ihr zu gehen und ihr einen Brief von jemand anderem zu geben. Vielleicht ist es nicht der richtige Moment. Wahrscheinlich hat Silvia recht.
Wir reden über die Schule. Erika-mit-K ist jetzt mit Luca zusammen. Sie sind unzertrennlich. Das merkwürdige ist, dass Erika-mit-K, die normalerweise gut ist, schon zweimal nicht vorbereitet war. Den Tag davor hat sie mit Luca verbracht. Luca hat noch nie viel gelernt und ist den ganzen Nachmittag mit Erika-mit-K unterwegs. Sie hängen die ganze Zeit ab und knutschen rum. Erika-mit-K meint, sie hätte gemerkt, dass Lernen im Grunde total unwichtig ist. Jetzt, wo sie die Liebe gefunden hat, hat alles andere weniger Gewicht. Nichts erfüllt einen so sehr wie die Liebe. Erika-mit-K hat recht, ich bin ganz ihrer Meinung. Ich sage zu Silvia, Glück bedeutet, ein verliebtes Herz zu haben. Sie stimmt zu, findet es allerdings seltsam, wie sehr man sich verändert, wenn man sich verliebt. Erika hat immer gelernt, wieso lässt sie es jetzt, wo sie verliebt ist, bleiben? Es scheint, als wäre sie eine x-beliebige Erika-mit-K geworden, als wäre sie nicht mehr sie selbst.
Wieso muss Silvia bei Themen, die mir klar wie Kloßbrühe erscheinen, immer mit ihren Spitzfindigkeiten kommen? Jetzt hat sie sogar meine felsenfeste Überzeugung übers Verliebtsein ins Wanken gebracht. Ich frage sie, ob sie jemals verliebt war. Silvia nickt und starrt auf ihre Fingerspitzen.
»In wen?«
»Das ist ein Geheimnis. Vielleicht erzähl ich’s dir eines Tages.«
»Okay, Silvia, ich respektiere deine Privacy, aber du sollst wissen, dass du immer auf mich zählen kannst, egal, was du für Geheimnisse hast.«
Silvia lächelt unsicher und erzählt mir dann von der Nicolosi. Die Nicolosi ist unsere Sportlehrerin. Sie ist um die fünfzig und muss als junges Mädchen ziemlich hübsch gewesen sein, aber das war einmal. Sie tut alles, um jung zu wirken, ist aber nur lächerlich. Doch keiner hat den Mumm, es ihr zu sagen. Die ist nicht wie die Carnevale. Die Carnevale unterrichtet Bio. Die ist auch um die fünfzig, aber immer noch eine schöne Frau, eben eine schöne fünfzigjährige Frau. Die Nicolosi hingegen zieht sich an wie eine Zwanzigjährige, und das ist lächerlich. Silvia hat mir jedenfalls erzählt, die Nicolosi sei mit einem Minirock in der Schule aufgetaucht, worauf die Jungs total durchgedreht sind.
»Nein! Und ich hab’s verpasst …«
»Du bist ein Schwein!«
»Nein, ein Löwe …«
Wie auch immer, die Jungs haben sie jedenfalls mit dem Handy fotografiert.
»Wirst du denn nicht gerne angesehen?«
Silvia zögert kurz.
»Doch … sehr sogar … aber ich will niemanden dazu zwingen, und eine Frau weiß, wie man jemanden dazu zwingt. Andere Frauen warten lieber, bis jemand kommt, der ganz für sie allein da ist und sie nach und nach entdecken möchte, wie einen Traum …«
Das ist noch so eine Sache, über die ich nachdenken muss. Träume sind wie Sterne: Man sieht sie erst, wenn alles künstliche Licht erloschen ist, dabei waren sie auch vorher schon da. Man hat sie bei dem ganzen Licht nur nicht gesehen. Silvia zwingt mich zum Nachdenken. Das macht sie extra. Und ich schlafe fast sofort ein. Ich kann einfach nicht lange nachdenken. Ich schlafe mit dem tristen Gedanken ein, was ich alles in der Schule verpasse. Auch wenn kurz vor dem Tiefschlaf die Idee aufglimmt, dass es nichts Lebenswichtiges ist …
Es ist offiziell: Schule ist sinnlos. Wenn ich Bildungsminister werde, mache ich als Erstes die Schulen dicht.