Und da bin ich, mit meinen leuchtenden Fußballschuhen, die den Rasen der dritten Generation liebkosen wie eine Frauenwange. Wieder mit Niko auf dem Spielfeld. Er weiß nicht, was mir in diesen Wochen alles passiert ist, ich erzähle ihm nicht alles wie Silvia. Es ist nicht nötig. Oder vielleicht ist es mir peinlich. Doch auf dem Spielfeld sind wir wieder die Besten. Als Kinder wollten wir wie die Tachibana-Brüder sein, die Zwillinge mit dem Katapultschuss aus »Die tollen Fußballstars«, aber leider hatte keiner von uns einen Zwilling. Als wir uns in der Schule kennengelernt haben, ist uns sofort klar geworden, dass wir füreinander die Zwillinge sind, die wir uns gewünscht hatten. Einen Katapultschuss haben wir zwar nie hingekriegt, aber immerhin haben wir es einmal probiert: Ich habe einen monstermäßigen blauen Fleck bekommen, und Niko ist mit dem Gesicht gegen den Pfosten geknallt …
Aber wenn’s ernst wird, beherrschen wir den Dreierpass, dass selbst Pythagoras mit seinem Dreiecksatz blass aussieht. Wir gewinnen haushoch. Ich schieße fünf Tore. Wir sind mit der Mannschaft des Vandalen gleichauf, und ich bin mit einem Tor in die Torschützen-Rangliste reingerutscht. Besser hätte es nicht laufen können. Ich springe hastig in die Klamotten, um unbemerkt wieder nach Hause zu kommen. Niko unterbricht mich.
»Ich hab ’ne Frau.«
Er sagt es mir einfach so, während er sich das Piraten-Shirt auszieht, und die Neuigkeit vermischt sich mit seinem Schweißgeruch.
»Sie heißt Alice und ist in der 10 h.«
Ich versuche mir die Mädchen aus der Zehnten ins Gedächtnis zu rufen, aber eine Alice fällt mir nicht ein.
»Du kennst sie nicht. Ihre Eltern sind mit meinen befreundet, aber das wusste ich gar nicht. Eines Abends saß sie plötzlich bei uns am Abendbrottisch.«
Ich will wissen, wie sie so ist.
»Die ist echt obergeil. Groß, lange schwarze Haare, dunkle Augen. Sie macht auch Leichtathletik, Geschwindigkeitslauf. Du solltest sie sehen. Wenn ich mit der unterwegs bin, drehen sich alle nach uns um.«
Ich sage nichts mehr. Ich kann mich über diese Neuigkeit einfach nicht freuen. Niko ist zu sehr von seinem Paarlauf mit dieser supergeilen Braut und vom heutigen Sieg eingenommen, um zu merken, dass meine Neugier und Freude nur geheuchelt ist. Mit einem Mal stehe ich wieder in dem Krankenhauszimmer, wo das schönste Mädchen der Welt zusammengekauert liegt wie ein verletztes Kind, die Schönheit aufgezehrt vom Schlangengift, nicht nur für mich verloren, sondern verloren.
»Ich freue mich für dich.«
Niko will sie mir so schnell wie möglich vorstellen. Ich stimme mechanisch zu, dabei hoffe ich heimlich, dass ich diese Alice nie zu Gesicht bekomme.
»Hast du das neue FIFA gesehen? Das müssen wir uns unbedingt cracken.«
Ich nicke mit gequältem Grinsen, während ich mitansehe, wie Niko von der Steinzeit in Alices Wunderland katapultiert worden ist.
»Ja, unbedingt …«
Mehr bringe ich nicht heraus. Und das Einzige, was ich nicht »gecrackt« kriege, ist die schreiende Angst, Beatrice zu verlieren. Noch nie habe ich mich nach einem Sieg mit meiner Piraten-Mannschaft so allein gefühlt.
»… es geht um Leben und Tod …«
»Übertreib nicht gleich, Leo, es ist nur ein Videospiel! Ich hau ab, Alice wartet auf mich. Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Wie ein Dieb schiebe ich den Schlüssel ins Schloss.
Die Tür öffnet sich sacht. Niemand zu sehen. Ich höre das Radio, das vor sich hin dudelt, erkenne Vasco Rossis Stimme, die singt, »Ich will ein wildes Leben, ein Leben wie im Film«, und klingt wie ein schlechter Witz. Ich drücke die Tür zu. Meine Mutter hat mich nicht gehört, doch Terminator kläfft los wie ein Irrer mit Blasendruck, weil er jedes Mal durchdreht, sobald ich die Tür auf- und zumache. Meine Mutter guckt um die Ecke, um nachzusehen, was los ist, und da stehe ich mit Trainingsanzug und Sporttasche, und Terminator hüpft winselnd um mich herum.
»Was machst du denn da? Warst du nicht in deinem Zimmer, um zu lernen?«
Leo, tief durchatmen: Es geht um alles oder nichts.
»Ja, aber ich hab ’ne Pause gemacht und bin mit Terminator rausgegangen …«
Die einzige Ausrede, die mich retten kann …
Meine Mutter starrt mich an wie ein amerikanischer Cop bei einem Verhör.
»Und wieso stinkst du dann so?«
»Ich hab die Gelegenheit genutzt und bin ein bisschen gelaufen. Ich kann einfach nicht immer nur lernen … entschuldige, Mamma, ich hätte dir was sagen sollen, aber Terminator hat die Krise gekriegt … du weißt ja, wie er ist!«
Das Gesicht meiner Mutter entspannt sich. Und ich verschwinde in meinem Zimmer, wo Vasco brüllt: »Ist ja sowieso alles egaaaal«, ehe mein Gesicht mich verrät und Terminator den schlagenden Beweis liefert, dass niemand seine schwache Blase zum Pinkeln ausgeführt hat …