Während Silvia die Übersetzung einiger sauschwerer Sappho-Verse wiederholt – »Aphrodite, ewig, auf buntem Throne …« –, starre ich sie ohne zuzuhören an und folge den Bewegungen ihrer Lippen.
»… Aber du, Sel’ge, / fragtest, was mich wieder bekümmre, was ich wieder dich rufe, / was ich mir im rasenden Herzen wieder sehnlichst wünsche …«
Ich folge den Wellen ihres schwarzen Haares, das sich im Takt der Worte bewegt. Möwenflügel, die sich schwerelos dem Wind hingegeben.
»… Komm zu mir auch jetzt, und aus schwerer Sorge löse mich / vollende, was zu vollenden mein Gemüt begehrt …«
Ich betrachte ihre Augen, die mir gegenüber so voller Anteilnahme und Leben sind. Zum zweiten Mal sehe ich nicht nur ihre Augen, sondern sehe tief in sie hinein. Ein Sprung in blaues Meer, ruhig und kühl.
»Was ist los, Leo?«
Ich schrecke aus meinem Traum, in den ich ohne es zu merken abgetaucht bin und aus dem ich am liebsten nicht erwacht wäre.
»Du bist wohl nicht bei der Sache. Wie deine Augen leuchten. Denkst du an Beatrice …? Wir machen mal ’ne Pause …«
Ich erwache aus meinem Traum.
»Nein, nein, mach weiter. Ich höre dir zu.«
Silvia lächelt verständnisvoll:
»Na gut, jetzt kommt der Teil, den ich am schönsten finde, der über den roten Apfel. Pass auf: Wie der süße Apfel sich rötet am oberen Aste, / oben am obersten, doch vergessen von pflückenden Händen – / nicht vergaßen sie ihn, nein, konnten nicht dahin langen.«
Während Silvia vorliest und mit dem Finger unter den griechischen Worten entlangfährt, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, diese tote Sprache zu begreifen.
Ich habe diese Verse auswendig gelernt und sie vor mich hin gesagt, bis die mir unbekannte Morgenröte mich vor Verliebtheit tief errötet ertappt hat. Aber wie kann ich Beatrice betrügen? Wie kann ich je an Silvias Vollkommenheit heranreichen? Und doch war es Beatrice, die mir die Augen geöffnet hat, sie hat mir gezeigt, was ich nicht gesehen habe. Silvia ist ein Zuhause. Silvia ist ein Hafen. Silvia, werde ich dich je erreichen?