Der Mann von der Argentieri ist gestorben. Wir werden sie nicht wiedersehen: Sie hat beschlossen, vorzeitig in den Ruhestand zu treten. Sie ist am Boden zerstört. Zwar hat sie noch ihre zwei Kinder, doch der Mann war ihr Lebensinhalt, Geschichte und Philo hingegen schon lange nicht mehr. Der Träumer bleibt uns erhalten: Vertretungslehrer bringen einfach Unglück … für einen Job murksen sie sogar die Männer armer, unschuldiger Lehrerinnen ab.
Wie auch immer, wir müssen auf die Beerdigung vom Mann der Argentieri gehen, und von solchen Sachen habe ich überhaupt keinen Blassen. Ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Silvia, die einzige Frau, der ich in Stilfragen vertraue, meint, ich muss was Dunkles anziehen, vielleicht einen dunkelblauen Pulli mit Hemd drunter. Jeans sind auch okay, wenn ich keine anderen Hosen habe. Die Kirche ist voll mit Leuten aus der Schule. Ich setze mich ganz nach hinten, weil ich auch keinen Blassen habe, wann man aufstehen muss und wann nicht. Und wenn ich die Argentieri treffe? Was sagt man in so einer Situation? Das Wort Beileid – so heißt das doch? – klingt irgendwie platt. Besser, im Hintergrund zu bleiben, in der Menge unterzutauchen, unsichtbar und unbedeutend.
Der Trauergottesdienst wird von dem Priester abgehalten, bei dem ich auch Reli habe: Gandalf. Er ist winzig klein, hat fast Taschenformat und dazu unzählige freundlich blitzende Falten, weshalb ihn alle nur Gandalf nennen, nach dem Zauberer aus Der Herr der Ringe.
Die Argentieri sitzt in der ersten Reihe, außen schwarz, innen weiß. Mit einem Taschentuch tupft sie sich die Tränen weg, und ihre Kinder sitzen daneben. Ein Mann um die vierzig und eine etwas jüngere, gar nicht übel aussehende Frau. Die Kinder von Lehrern sind immer ein Rätsel, weil man nie weiß, ob Lehrer überhaupt normale Kinder haben können: Von morgens bis abends werden sie belehrt! Die reinste Hölle …
Doch die Argentieri weint, und das tut mir leid. Am Ende läuft sie zufällig an mir vorbei und sieht mich an, als würde sie etwas erwarten. Ich lächle ihr zu. Etwas anderes fällt mir nicht ein. Sie senkt den Blick und folgt dem hölzernen Sarg hinaus. Ich bin echt ein Pirat. Das Einzige, was mir bei einer Frau, die ihren Mann verloren hat, einfällt, ist, sie anzugrienen. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte ich etwas sagen sollen. Aber in manchen Situationen weiß ich einfach nicht, wie ich mich verhalten soll: Was kann ich dafür?
Als ich wieder zu Hause bin, habe ich zu nichts Lust. Ich wäre gern allein, aber ich ertrage das Weiß einfach nicht. Ich mache Musik an und gehe ins Netz. Ich chatte mit Niko über die Beerdigung.
Wer weiß, wo der Mann von der Argentieri jetzt ist.
Ist er wiedergeboren?
Oder nur Asche?
Leidet er?
Ich hoffe, dass er nicht mehr leidet, er hat schon genug gelitten. Niko weiß es nicht. Er glaubt, dass nach dem Tod irgendetwas kommt. Aber er will auf keinen Fall als Fliege wiedergeboren werden. Wie kommt er denn auf Fliege? Weil zu Hause alle zu ihm sagen, er sei lästig wie eine Fliege, erklärt er mir.
Übrigens, oder gar nicht mal so übrigens: Ich darf Beatrices Geburtstag nicht vergessen. Am besten schicke ich ihr gleich eine SMS: »Ciao Beatrice, ich bin Leo, der Typ aus der 11 d mit der crazy Mähne. Du hast bald Geburtstag. Was machst Du Schönes? Bis bald, Leo §:-)«. Sie antwortet nicht. Ich fühle mich mies. Ich hab wieder mal voll danebengehauen. Wer weiß, was sie jetzt denkt. Der übliche Schwachmat, der es mit einer SMS versucht. Die Funkstille schleicht sich in mein Herz wie ein Maler, der alles weiß streichen und Beatrices Namen übertünchen will. Mein stummes Handy verwandelt sich in einen Schraubstock aus Schmerz, Angst und Einsamkeit, der mir die Eingeweide zerquetscht…
Erst die Beerdigung, dann Beatrice, die nicht antwortet. Rasselnd senken sich zwei weiße Rollläden mit der Aufschrift »Durchfahrt freihalten«. Die Schotten gehen runter, und man muss Leine ziehen. Nicht weiter drüber nachdenken. Wie soll das gehen?
Ich rufe Silvia an. Wir hängen zwei Stunden am Telefon. Sie kapiert, dass ich nur jemanden zum Reden brauchte und sagt es mir. Sie weiß immer sofort, was Sache ist, auch wenn ich über etwas anderes rede. Silvia muss im vorigen Leben ein Engel gewesen sein. Sie kriegt alles sofort mit, und bei Engeln muss das genauso sein, sonst hätten sie keine Flügel. Das zumindest behauptet die Nonne (Anna, unsere krachkatholische Klassenkameradin): »Jeder hat einen Schutzengel. Man muss ihm nur sagen, was los ist, und er weiß sofort, wo der Schuh drückt.« Das glaube ich zwar nicht, aber ich glaube, dass Silvia mein Schutzengel ist. Ich fühle mich besser. Sie hat die Rollläden wieder hochgeschoben. Wir sagen uns Gute Nacht, und ich schlafe beruhigt ein, denn mit ihr kann ich immer reden. Hoffentlich wird es Silvia immer geben, auch wenn wir erwachsen sind. Aber lieben tue ich Beatrice.
Ehe ich einschlafe, werfe ich noch einen Blick auf das Handydisplay. Eine Nachricht! Das wird Beatrices Antwort sein: Ich bin gerettet. »Falls du nicht schlafen kannst, ich bin für dich da. S.« Ich wünschte, das S wäre ein B …