Nachdem er mich mindestens eine Viertelstunde hat überlaufen lassen (hinter dem Feuer der Wut verbirgt sich gut das doppelte an Salzwasser …), bricht der Träumer das Schweigen, das dem Weinen folgt wie die Stille einem heftigen Sandsturm.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen.«
Er hält mir ein Papiertaschentuch hin (es riecht nach Vanille …).
»Ein Freund von mir hatte mit seinem Vater gestritten. Er liebte ihn sehr, aber diesmal war ihm der Geduldsfaden gerissen, und er hatte ihm gesagt, er könne ihn mal. Als sie abends bei Tisch saßen, hatte der Vater versucht, mit ihm zu reden, aber er ist einfach aufgestanden und wortlos weggegangen. Er wollte ihm noch nicht einmal zuhören. Mein Freund hat sich stark gefühlt. Er spürte, dass er gewonnen hatte, dass er recht hatte. Am nächsten Tag blieb der Platz seines Vaters leer. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt. So waren sie auseinandergegangen. Ohne ein Wort. Doch wie hätte er das wissen sollen? Seit jenem Tag kommt mein Freund über diesen Fehler einfach nicht hinweg, er schämt sich wie der übelste aller Mörder. Und weißt du, warum der Typ sich niemals verzeihen wird, seinem Vater das Lebewohl verweigert zu haben?«
Ich schüttele den Kopf und ziehe die Nase hoch.
»Weil der Vater ihm in einem ungehaltenen Moment gesagt hatte, er sei ein Hungerleider, er habe sich einen Hungerleiderjob ausgesucht, dabei hatte er eine gut gehende Praxis, die der Sohn problemlos hätte übernehmen können. Und jetzt sag mir, ob das ein Grund ist, sich zu schämen und wegzulaufen?«
Ich brauche einen Augenblick, ehe ich das Schweigen nach seiner Frage breche.
»Wie ist Ihr Freund über diesen Moment hinweggekommen?«
Der Träumer tritt wütend nach einer alten Getränkedose, die auf dem Gehsteig liegt.
»Indem er damit gelebt hat. Wohl wissend, dass das ebenfalls zu ihm gehört, aber mit dem festen Vorsatz, sich nicht die kleinste Gelegenheit entgehen zu lassen, um eine warum auch immer angeknackste Beziehung wieder zu kitten. Man kann immer etwas tun.«
Es geht mir schon besser. Ich, der sich wegen eines Fehlers wünschte, das Leben hätte eine Rückspultaste. Aber das Leben hat keine solche Taste. Das Leben geht trotzdem weiter, es spielt seine Musik, ob man will oder nicht, man kann es nur lauter oder leiser drehen. Und man muss tanzen. So gut man kann. Doch irgendwie habe ich jetzt weniger Angst. Der Träumer reißt mich aus meinen Gedanken.
»Jeder von uns hat etwas, wofür er sich schämt. Wir sind alle schon einmal weggelaufen, Leo. Aber das macht uns menschlich. Nur, wenn uns etwas im Gesicht geschrieben steht, wofür wir uns schämen, wird unser Gesicht lebendig …«
»Weinen Sie?«
Der Träumer schweigt.
»Jedes Mal, wenn ich Zwiebeln schäle.«
Ich pruste los, auch wenn der Witz mehr als lau ist. Ich ziehe die Nase hoch und schlucke die restlichen Tränen hinunter.
»Es ist ganz normal, Angst zu haben. Genauso normal wie Weinen. Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Feige zu sein bedeutet, so zu tun, als wäre nichts, wegzusehen. Drauf zu pfeifen. Klar bist du weggerannt. Klar warst du scheißwütend – er hat scheißwütend gesagt! – auf dich und die ganze Welt. Aber das ist normal. Aber scheißwütend zu sein – da waren’s zwei … – bringt nichts. Du kannst noch so scheißwütend werden – drei! –, aber davon wird Beatrice nicht gesund. Ich hab mal gelesen, dass die Liebe nicht dazu da ist, uns glücklich zu machen, sondern uns zu zeigen, wie viel Schmerz wir ertragen können.«
Schweigen.
»Aber ich bin abgehauen! Dabei sollte ich doch bereit sein zu sterben, um sie gesund zu machen!«
Der Träumer sieht mich an.
»Du irrst dich, Leo, Reife zeigt sich nicht darin, für ein hehres Ziel zu sterben, sondern in Demut dafür zu leben. Mach sie glücklich.«
Ich sage nichts. Irgendetwas in mir kriecht aus seiner Höhle. Etwas, das sich verletzt und hilfsbedürftig darin verschanzt hatte, hat sich vielleicht endlich dazu durchgerungen, es mit den Dinosauriern aufzunehmen. In diesem Augenblick gehe ich von der Steinzeit zur Metallzeit über. Kein großer Schritt, aber immerhin habe ich das Gefühl, eine scharfe Waffe gegen die Dinosaurier des Lebens in der Hand zu halten. Und das Gefühl ist stärker als die Rüstung aus Feuer und Eisen, die ich durch meine Wut zu haben glaubte. Es ist eine andere Kraft, dieses neue Etwas legt sich auf meine Haut, macht sie durchscheinend, stark, geschmeidig.
»Es ist schon spät«, sagt der Träumer, während ich einen Evolutionssprung von mindestens zweitausend Jahren vollführe.
Er sieht mir direkt in die Augen.
»Danke für die Gesellschaft, Leo. Und vor allem danke für das, was du mir heute Abend geschenkt hast.«
Ich verstehe nichts.
»Schmerz mit jemandem zu teilen, ist der größte Vertrauensbeweis, den es gibt. Danke für die heutige Lektion, Leo. Heute bist du der Lehrer gewesen.«
Er lässt mich völlig belämmert sitzen. Schon dreht er mir den Rücken zu, einen schmalen, aber kräftigen Rücken. Einen väterlichen Rücken. Am liebsten würde ich hinter ihm herlaufen und ihn fragen, wer dieser Freund von ihm ist, aber dann geht mir auf, dass man manche Dinge besser im Ungewissen lässt.
Meine Augen sind rotgeweint, ich bin völlig ausgelutscht, und trotzdem bin ich der glücklichste Sechzehnjährige der Welt, weil es Hoffnung für mich gibt. Ich kann etwas tun, um alles wiedergutzumachen: Beatrice, Silvia, die Freunde, die Schule … Manchmal genügt ein Wort von jemandem, der an einen glaubt, um einen in die Welt zurückzuholen.
Ich singe laut vor mich hin, keine Ahnung was. Die Leute auf der Straße halten mich für irre, aber das ist mir wurscht, und sobald mir jemand begegnet, singe ich noch lauter und zwinge ihn, sich mit mir zu freuen.
Als ich singend und mit verheultem Gesicht wieder nach Hause komme, wirft meine Mutter meinem Vater einen fragenden Blick zu, und mein Vater schüttelt seufzend den Kopf. Wieso glauben Eltern eigentlich, nur wenn man normal rüberkommt, geht es einem gut?