Fünf Stunden Schule. Fünf Stunden Krieg. Ich habe der Hundepelz-Massaroni gesagt, sie kann mich mal, als sie mich gefragt hat, was ich mit dem Handy mache. Eintrag ins Klassenbuch. In der Englischstunde war ich auch nicht dabei, aber keiner hat’s gemerkt. Während der Philostunde habe ich in Snake einen neuen Rekord aufgestellt, während der Träumer von irgendeinem erzählt hat, der meinte, der Tod existiere nicht, denn wenn man lebt, gebe es keinen Tod, und wenn man tot sei, sei man tot, also gebe es ihn auch nicht.
Wieder einmal ein unfassbarer Schwachsinn. Beatrice hat gelebt, und jetzt stirbt sie. Wie dieser Dichter gesagt hat: »Den Tod/ verbüßt man/ im Leben.« Ich habe das immer für Dichtergeschwafel gehalten, aber es ist leider wahr. Beatrice ist nicht wiederzuerkennen, oder vielmehr: Ich habe sie nicht wiedererkannt. Der Tod vergiftet alles Lebendige. Die Philosophie ist für die Katz. Im T9 gibt es das Wort »Gott« nicht, also gibt es Gott nicht. Und um nicht darüber nachdenken zu müssen, bleibt nur Snake.
Dann hat der Träumer seine Tasche aufgemacht, aus der er jedwedes Buch hervorzaubern kann, als wären es Gamma-Shorts. Manchmal hat er tatsächlich was von einem Außerirdischen. Oft schaut er in die Bücher noch nicht mal rein, er lässt sie auf dem Pult liegen. Er meint, Bücher seien für ihn ein Stück Heimat, wo sie sind, fühlt er sich zu Hause. Die Bücher … was für eine Scheiße! All diese Seiten voller Geschichten und Träume sind nicht annähernd die Nummer des Krankenhauszimmers wert, in dem sich Beatrice in ein kleines Mädchen zurückverwandelt, das in den Bauch der Erde zurückkehrt: verschluckt.
Der Träumer liest die Briefe einiger zum Tode verurteilter Widerständler vor, eine seiner Außerplanmäßigen. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er hat immer irgendetwas zu sagen, vor dem man nicht weghören kann. Wieso lässt er mich nicht in Ruhe? Ich höre nur hin, weil ich nicht anders kann und man die Ohren nicht wie die Augen zumachen kann, aber ich glaube kein einziges Wort. Zur Hölle mit ihm. Er liest:
»4. August 1944 – Papa, Mama, der finstere Sturm des Hasses reißt mich in den Tod, dabei wollte ich nur für die Liebe leben. Gott ist Liebe, und Gott stirbt nicht. Die Liebe stirbt nicht …«
Der Träumer macht eine Pause.
»Schwachsinn!«
Ich erhebe mich wie Feuer und verbrenne die papiernen Träume, die Worte aus Stroh. Mein Ausruf trifft den Träumer hart ins Gesicht, wie die mit Nägeln beschlagene Faust eines nächtlichen Kriegers. Statt angesichts der ersten Wahrheit, die jemals in der Schule ausgesprochen wurde, sprachlos zu sein, drehen sich alle lahm zu mir um. Ich würde sie alle niederbrennen, außer Silvia. Auch der Träumer glotzt mich an, als hätte er nicht richtig gehört.
»Schwachsinn!«, wiederhole ich herausfordernd.
Mal sehen, was du machst, wenn jemand den Mumm hat, die Dinge beim Namen zu nennen und dein literarisches Kartenhaus umzublasen.
Er schweigt eine Minute. Als suchte er nach etwas, das er in sich nicht finden kann. Dann fragt er mit vollkommen ruhiger Stimme:
»Wer bist du, dass du das Leben dieses Mannes beurteilen kannst?«
Ich schieße zurück, er hat Benzin auf mein Feuer gegossen.
»Nichts als Einbildung. Das Leben ist eine leere Schachtel, die wir mit Scheißdreck vollstopfen, damit wir’s besser ertragen, aber es genügt eine Winzigkeit, und puff …«, ich halte inne und mache eine theatralische Handbewegung, die eine zerplatzende Seifenblase mimen soll, »steht man ohne was da. Dieser Mann hat sich eingebildet, für eine Sache zu sterben, von der er glaubte, sie gäbe seinem Leben einen Sinn. Schön für ihn. Dabei ist es nichts als ein Überzug, um die Pille weniger bitter zu machen. Die Schachtel bleibt trotzdem leer.«
Der Träumer sieht mich wieder schweigend an. Dann bricht er die Stille mit einem lapidaren, seelenruhigen:
»Schwachsinn!«
Sein Wort gegen meins, Schwachsinn hin oder her. Trotzdem hat er getroffen. Ehe der Träumer noch etwas sagen kann, schnappe ich mir meinen Rucksack und gehe raus. Noch immer brennt das Feuer zerstörerisch. Es kehrt nicht um, um Erklärungen zu geben.
Sollen sie mich doch rausschmeißen, mich das Jahr wiederholen lassen, mir ist es wurscht. Es gibt keine Rechtfertigung für das, was gerade passiert, und wenn es denn so ist, wieso soll ich mich dann noch bemühen? Ich bin allein und zum ersten Mal stark. Ich bin Feuer und brenne die ganze Welt nieder.
Ich rufe Niko nicht an, der würde einen Scheißdreck verstehen. Ich rufe Silvia nicht an, weil ich sie nicht mehr brauche.
Und das Bild des kleinen Mädchens ohne Haare, Beatrices Schatten, macht mir Lust zu fluchen. Ich fluche mehrmals, immer wieder, mit aller Kraft. Jetzt fühle ich mich besser. Und ich verstehe, dass Gott existiert, sonst würde ich mich nicht besser fühlen. Auf den Weihnachtsmann zu fluchen, lässt einen nicht besser fühlen. Auf Gott zu fluchen, schon.