Ich habe den ganzen Tag im Bett gesessen. Durchs Mikroskop meiner Erinnerungen habe ich mir Beatrices schlafendes Gesicht noch einmal Millimeter für Millimeter angesehen. Ich habe mich in das Grübchen auf ihrer rechten Wange geschmiegt und bin stundenlang darin liegengeblieben, wie ein Neugeborenes in der Wiege oder wie damals als Kind, als ich diese grauenhaften schwarzweißen Malbücher bunt ausgemalt habe. Von dort hatte man einen besseren Blick auf die Welt, mir war, als könnte ich der Stille lauschen, ohne vor ihr Angst zu haben, als könnte ich das Dunkel berühren. Es war, als würden sich meine nach langem Schlaf tauben Sinne endlich recken. So sind die Stunden unbemerkt vergangen. Anders als mit der Glotze. Denn jetzt bin ich nicht müde, ich könnte wieder von vorn anfangen.

Es ist schon Abend. Draußen ist es dunkel. Ich will Beatrice vor der Nacht schützen. Ich steige aus dem Bett und mache mich auf den Weg zu ihrer Station. Ich rieche den Krankenhausgeruch nicht mehr, nur den Geruch der Kranken nehme ich noch wahr und habe weniger Angst vor ihm. Ich kehre um. Ich kann nicht mit leeren Händen ankommen. Ich schlüpfe in ein Zimmer, in dem Blumen in einer Vase stehen. Zwei Frauen sehen fern. Einen dieser öden Filme auf Retequattro. Trotzdem scheinen sie in eine stumme Retequattro-Hypnose gefallen zu sein. Die Alten. Ich gehe zur Vase. Nehme eine Margerite. Eine weiße. Eine der beiden Frauen sieht mich an. Ich lächele.

»Für eine Freundin.«

Ihr Gesicht, das gerade aus einer Steinzeithöhle hervorgekrochen zu sein scheint, nickt und legt sich dabei in kratertiefe Falten.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagt sie mir sanft, und die Krater glätten sich zu einer ruhigen See. Beschwingt verlasse ich mit der Blume in der Hand das Zimmer. Die Margerite ist wunderschön. Schlicht und ergreifend, genau wie eine Margerite sein muss. Es ist, als hätte jemand den Samen extra für diesen Moment gesät. Der Gärtner wusste es nicht, aber er tat es für mich. Dieser Moment hat seiner Arbeit Sinn gegeben. In der weißen Stille des Abends trage ich eine Margerite durch den Krankenhausflur zu Beatrice, onkologische Abteilung, Zimmer 234. Als ich eintrete, liegt das Zimmer im Halbdunkel. Beatrice und die Faltenfrau sind nur als Schemen zu erkennen. Sie schlafen schon. Sie sehen so gleich aus im Dämmerlicht! Beide sind von ihrem Leiden gezeichnet. Sie sind sich so nah und doch so verschieden. Es ist nicht fair, dass ein junger Mensch so schnell altert. Beatrice schläft. Unter der braunen Krankenhausdecke kann ich nur ihr Profil ausmachen, und es erscheint mir, als vereinten sich darin die schönsten Profile, die ich kenne. Ich trete ans Bett und lege die Margerite neben sie auf den Nachttisch. Ich summe ein Lied, ohne mich zu schämen, ohne rot zu werden.

Gute Nacht,

gute Nacht, kleine Blume,

gute Nacht

zwischen Bett und Sternenzelt.

Mein Traum von dir

braucht deine Nähe,

deine Nähe,

die mich umfängt und hält …

Schweigend gehe ich hinaus. Was ich tun musste, habe ich getan: meine erste Serenade. Im Schlafanzug, aber immerhin.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-04143-4.xhtml
978-3-641-04143-4-1.xhtml
978-3-641-04143-4-2.xhtml
978-3-641-04143-4-3.xhtml
978-3-641-04143-4-4.xhtml
978-3-641-04143-4-5.xhtml
978-3-641-04143-4-6.xhtml
978-3-641-04143-4-7.xhtml
978-3-641-04143-4-8.xhtml
978-3-641-04143-4-9.xhtml
978-3-641-04143-4-10.xhtml
978-3-641-04143-4-11.xhtml
978-3-641-04143-4-12.xhtml
978-3-641-04143-4-13.xhtml
978-3-641-04143-4-14.xhtml
978-3-641-04143-4-15.xhtml
978-3-641-04143-4-16.xhtml
978-3-641-04143-4-17.xhtml
978-3-641-04143-4-18.xhtml
978-3-641-04143-4-19.xhtml
978-3-641-04143-4-20.xhtml
978-3-641-04143-4-21.xhtml
978-3-641-04143-4-22.xhtml
978-3-641-04143-4-23.xhtml
978-3-641-04143-4-24.xhtml
978-3-641-04143-4-25.xhtml
978-3-641-04143-4-26.xhtml
978-3-641-04143-4-27.xhtml
978-3-641-04143-4-28.xhtml
978-3-641-04143-4-29.xhtml
978-3-641-04143-4-30.xhtml
978-3-641-04143-4-31.xhtml
978-3-641-04143-4-32.xhtml
978-3-641-04143-4-33.xhtml
978-3-641-04143-4-34.xhtml
978-3-641-04143-4-35.xhtml
978-3-641-04143-4-36.xhtml
978-3-641-04143-4-37.xhtml
978-3-641-04143-4-38.xhtml
978-3-641-04143-4-39.xhtml
978-3-641-04143-4-40.xhtml
978-3-641-04143-4-41.xhtml
978-3-641-04143-4-42.xhtml
978-3-641-04143-4-43.xhtml
978-3-641-04143-4-44.xhtml
978-3-641-04143-4-45.xhtml
978-3-641-04143-4-46.xhtml
978-3-641-04143-4-47.xhtml
978-3-641-04143-4-48.xhtml
978-3-641-04143-4-49.xhtml
978-3-641-04143-4-50.xhtml
978-3-641-04143-4-51.xhtml
978-3-641-04143-4-52.xhtml
978-3-641-04143-4-53.xhtml
978-3-641-04143-4-54.xhtml
978-3-641-04143-4-55.xhtml
978-3-641-04143-4-56.xhtml
978-3-641-04143-4-57.xhtml
978-3-641-04143-4-58.xhtml
978-3-641-04143-4-59.xhtml
978-3-641-04143-4-60.xhtml
978-3-641-04143-4-61.xhtml
978-3-641-04143-4-62.xhtml
978-3-641-04143-4-63.xhtml
978-3-641-04143-4-64.xhtml
978-3-641-04143-4-65.xhtml
978-3-641-04143-4-66.xhtml
978-3-641-04143-4-67.xhtml
978-3-641-04143-4-68.xhtml
978-3-641-04143-4-69.xhtml
978-3-641-04143-4-70.xhtml
978-3-641-04143-4-71.xhtml
978-3-641-04143-4-72.xhtml
978-3-641-04143-4-73.xhtml
978-3-641-04143-4-74.xhtml
978-3-641-04143-4-75.xhtml
978-3-641-04143-4-76.xhtml
978-3-641-04143-4-77.xhtml
978-3-641-04143-4-78.xhtml
978-3-641-04143-4-79.xhtml
978-3-641-04143-4-80.xhtml
978-3-641-04143-4-81.xhtml
978-3-641-04143-4-82.xhtml
978-3-641-04143-4-83.xhtml
978-3-641-04143-4-84.xhtml
978-3-641-04143-4-85.xhtml
978-3-641-04143-4-86.xhtml
978-3-641-04143-4-87.xhtml
978-3-641-04143-4-88.xhtml
978-3-641-04143-4-89.xhtml
978-3-641-04143-4-90.xhtml
978-3-641-04143-4-91.xhtml
978-3-641-04143-4-92.xhtml
978-3-641-04143-4-93.xhtml
978-3-641-04143-4-94.xhtml
978-3-641-04143-4-95.xhtml
978-3-641-04143-4-96.xhtml
978-3-641-04143-4-97.xhtml
978-3-641-04143-4-98.xhtml
978-3-641-04143-4-99.xhtml
978-3-641-04143-4-100.xhtml
978-3-641-04143-4-101.xhtml
978-3-641-04143-4-102.xhtml
978-3-641-04143-4-103.xhtml
978-3-641-04143-4-104.xhtml
978-3-641-04143-4-105.xhtml
978-3-641-04143-4-106.xhtml
978-3-641-04143-4-107.xhtml
978-3-641-04143-4-108.xhtml
978-3-641-04143-4-109.xhtml
978-3-641-04143-4-110.xhtml
978-3-641-04143-4-111.xhtml
978-3-641-04143-4-112.xhtml
978-3-641-04143-4-113.xhtml
978-3-641-04143-4-114.xhtml
978-3-641-04143-4-115.xhtml
978-3-641-04143-4-116.xhtml
978-3-641-04143-4-117.xhtml
978-3-641-04143-4-118.xhtml
978-3-641-04143-4-119.xhtml
978-3-641-04143-4-120.xhtml
978-3-641-04143-4-121.xhtml