Lieber Leo,

anbei Dein Manuskript. Ich habe es in einer Nacht an einem Stück gelesen, und mir ist die Geschichte eines berühmten griechischen Feldherren eingefallen, der mit nur sechshundert Mann, mit denen er auf den Parnass geflüchtet war, einem riesigen Feindesheer gegenübertreten musste, das sie am Fuße des Berges eingekesselt hatte. Die Niederlage war abzusehen, doch der Seher des kleinen Heers hatte eine Eingebung: Er trug seinen Kameraden auf, sich und ihre Waffen mit Kreide einzureiben.

Diese Gespenstertruppe griff den Feind nächtens an, mit dem Ziel, jeden zu töten, der nicht weiß sei. Kaum erblickten die feindlichen Wachen die weißen Gestalten, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Sie glaubten an irgendein grausiges Wunder und fingen an, vor der Geisterschar schreiend davonzulaufen, die das Mondlicht weiß erstrahlen ließ. Die Truppen waren vor Angst wie versteinert, und so gelang es den sechshundert schließlich, das Lager samt viertausend blutüberströmten Leichen einzunehmen. Das Blut klebte an ihren Waffen und an ihrer weißen Haut, sodass sie, weiß und rot wie sie waren, im ersten Morgenlicht noch erschreckender aussahen.

Leo, manchmal fürchten wir uns vor Feinden, die sehr viel schwächer sind, als wir glauben. Einzig das Weiß, in das sie sich in tiefster Nacht gewandet haben, lässt sie gespenstisch und schrecklich wirken. Der wahre Feind sind nicht die kalkweißen Soldaten, sondern unsere Ängste.

Das Weiß muss es geben.

Ebenso wie das Rot.

Womöglich weißt Du es nicht, doch jüngste anthropologische Studien haben ergeben, dass die meisten Kulturen beim Benennen von Farben zunächst zwischen Hell und Dunkel unterscheiden. Wenn eine Sprache sich entwickelt und zwischen drei Farben unterscheiden kann, bezeichnet der dritte Begriff fast immer Rot. Die Namen für die anderen Farben kommen erst später hinzu, wenn der Begriff für Rot allgemein gebräuchlich ist, und oft ist dieser Begriff mit der Bezeichnung für Blut verbunden.

Die Wissenschaft bestätigt, was Dich das Leben gelehrt hat. Für das, was Du in einem Schuljahr herausgefunden hast, haben Kulturen und Zivilisationen Jahrzehnte gebraucht. Danke, dass Du Deine Entdeckung mit mir geteilt hast.

Ich habe mir lediglich erlaubt, die Abschnitte, in denen von mir die Rede ist, zu ergänzen und den einen oder anderen Konjunktiv zu verbessern, ansonsten habe ich jede Zeile gelassen, wie sie ist. Ich hätte sonst das Gefühl gehabt, in dein Leben einzugreifen, und das soll unberührt bleiben.

Ich bin glücklich, an diesem Abenteuer teilgehabt zu haben, und stolz auf Dich.

Auf ewig Lehrer,

Dein Träumer

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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