Als ich aufwache, ist mein erster Gedanke, dass Beatrice auch in diesem Krankenhaus ist, und ich koste ihn aus, als würde ich ein Mentos lutschen. Er lässt mich den Schmerz vergessen, die Genervtheit, die Glotze. Wenn der wunderbarste Mensch, den man kennt, einem nahe ist, ändert das alles, selbst die hässlichsten Dinge. Vorher hatten sie keinen Sinn. Dann haben sie einen. Ich muss mir einen Plan ausdenken. Ich will sie wenigstens sehen. Inzwischen darf ich sogar aufstehen. Den Arm trage ich in einer Schlinge, und der Hals ist mit einer Manschette fixiert, aber ich muss nicht mehr reglos daliegen. Die Röntgenbilder sind gut.
Also fasse ich einen Entschluss. Ich stehe auf. In meinem jetzigen Zustand bin ich nicht gerade ein Ausbund an Schönheit, nicht mal aus dem Schlafanzug komme ich raus. Aber was soll’s. Im Krankenhaus gewöhnt man sich dran, Leute im Schlafanzug zu sehen. Unglaublich, wie schnell man sich damit abfindet, vor wildfremden Menschen im Schlafanzug dazustehen. Im Krankenhaus ist das so. Vielleicht, weil vor Schmerz und Leid alle gleichermaßen lächerlich sind. Alle sind sich derart ähnlich, dass der Schlafanzug die richtige Uniform ist, um die Unterschiede verschwinden zu lassen. Ich habe einen superschicken Schlafanzug von Papa. Meine Mutter hat ihn mir mitgebracht, weil er ein bisschen größer ist und der Gips gut drunterpasst. Und außerdem riecht er nach meinem Vater und nach zu Hause.
Derart elegant wage ich mich durch die Flure der Frauenabteilung. Ich traue mich nicht, die Krankenschwestern direkt nach Beatrice zu fragen, und schlendere herum, als würde ich spazieren gehen. Ich betrete die Onkologie. Silvia hat mir gesagt, dass die Krebsabteilung so heißt. Ich bin mir nicht sicher, aber dieses »onko« muss was Griechisches sein, das mit Tumoren zu tun hat, denn neben dem Wort »logie« steht immer noch was Griechisches. Ich muss im Griechisch-Diktionär nachsehen, wenn ich wieder zu Hause bin. Der Griechisch-Diktionär, Traum aller Augenärzte! Fehlt mir kein bisschen. Ich spähe in die Zimmer. Auch hier liegen hauptsächlich ältere Menschen. Greise. Ich bin so eine Art Maskottchen. Der Elefant ist fünfundsiebzig … Das Krankenhaus ist ein Panoptikum alter weißer Leute. Junge Menschen landen im Krankenhaus, weil sie Pech hatten, alte, weil sie alt sind.
Doch wenn man einen Kopf mit spärlichen roten Haaren sieht, der auf einem weißen Kissen ruht wie eine Rose auf einem Schneebett oder die Sonne in der Milchstraße, dann ist das Beatrice, die schläft. Ich trete ein. Ihre Zimmergenossin ist eine dermaßen faltige Alte, dass es aussieht, als hätte man ihr die Falten künstlich reingemacht. Sie lächelt mich an wie ein zusammengeknülltes Stück Alufolie.
»Sie ist sehr müde.«
Ich lächle zurück. Wie eine wandelnde Mumie nähere ich mich Beatrices Bett. Ich kriege einen Schreck. Über ihr baumelt ein Tropf, und der Schlauch führt direkt in ihr Handgelenk, in die Adern, und an der Nadel, die Beatrices Haut durchsticht, ist ihr rotes Blut zu sehen. In diesen Adern fließt auch mein Blut. Meine knallroten Blutkörperchen verschlingen ihre weißen und färben sie rot. Ich spüre Beatrices Schmerz und wünschte, es wäre meiner und ihr ginge es gut. Schließlich bin ich eh schon im Krankenhaus.
Beatrice schläft. Sie ist anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Schutzlos. Blass, mit einem seltsam bläulichen Schimmer um die Augen, der keine Schminke ist. Sie schläft. Ihre Arme stecken in einem leichten blauen Pyjama und liegen kraftlos zu beiden Seiten. Ihre Hände sind zart und knochig. Ich habe sie noch nie so nah gesehen. Sie sieht aus wie eine Fee. Sie ist allein. Sie schläft. Mindestens eine halbe Stunde sitze ich da und sehe sie an. Und sie schläft. Wir wechseln kein Wort, aber das ist egal. Ich betrachte ihr Gesicht, um mir jede Kleinigkeit einzuprägen. Sie hat ein kleines Grübchen auf der rechten Wange, das sie selbst im Schlaf aussehen lässt, als würde sie lächeln. Sie macht kein Geräusch. Kein Atem ist zu hören. Sie ist still. Doch strahlend wie immer, wie ein Stern in der Nacht. Dann kommt die Schwester zur Kontrolle herein und schickt mich raus. Linkisch quäle ich mich in meinem Festtagsschlafanzug aus dem Stuhl.
»Na, Dressman, kennst du sie?« Die Speckrollen der presswurstdicken Krankenschwester beben vor Vergnügen über ihren soeben gemachten Witz. Einen Moment lang sage ich nichts und antworte dann mit einem seligen Lächeln:
»Ja, sie ist meine Freundin. Ich hab mir den Arm gebrochen, um ihr nahe zu sein …«
Die Presswurst-Schwester unterdrückt etwas schwer zu Deutendes, das über ein Lächeln hinausgeht. Bevor ich gehe, streichele ich Beatrice über die Wange. Ich wecke sie nicht, doch ich will, dass sie beim Aufwachen meine Zärtlichkeit spürt.
Werde gesund, Beatrice. Ich habe einen Traum. Und du sollst mich begleiten.