Sogar Gandalf ist mich besuchen gekommen. Damit habe ich nicht gerechnet. Er hat zwanzigtausend Klassen, mindestens acht Millionen Schüler, seine Gemeinde und rund hundert Jahre auf dem Buckel, die er jeden Tag mit seinem hauchzarten Körper durch die Gegend schleppt und dabei aussieht, wie der von ihm so angebetete Heilige Geist höchstpersönlich … trotzdem ist er mich besuchen gekommen. Nicht, dass ich was dagegen hätte, es hat mich eher umgehauen. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich soll ihm erzählen, was passiert ist. Ich erzähle ihm alles, auch von dem Brief. Ich fühle mich wohl. Ich sage ihm nicht, dass es um Beatrice geht, und bleibe vage. Er meint, ich sei ein Liebling Gottes. Ich sage ihm, dass ich von Gott nichts hören will, denn wenn es ihn gäbe, hätte er Beatrice nicht krank werden lassen.
»Wenn er wirklich so allmächtig und allsonstwas ist, wieso hat er mir das angetan? Wieso tut er Leuten wie mir das an, die nichts verbrochen haben? Von wegen Liebling Gottes. Ich verstehe Gott einfach nicht. Was für ein Gott bist du denn, wenn es das Böse gibt?«
Gandalf sagt, ich habe recht. Wie, ich habe recht? Ich provoziere ihn, und er gibt mir recht? Wenigstens die Pfaffen sollten ihre Position verteidigen. Gandalf sagt mir, dass selbst Jesus, Gottes Sohn, sich von seinem Vater verlassen gefühlt und es ihm im Moment seines Todes ins Gesicht geschrien hat.
»Wenn Gott seinen eigenen Sohn so behandelt, wird er auch all jene so behandeln, die zu seinen Lieblingskindern zählen.«
Was ist denn das für eine Argumentation? Trotzdem habe ich dem nichts entgegenzusetzen, denn so – sagt Gandalf – steht es im Neuen Testament:
»Wenn jemand einen starken Gott erfinden wollte, könnte er das ohne Probleme, er würde sich gewiss keinen schwachen Gott einfallen lassen, der sich zudem im Moment seines Todes vom eigenen Vater im Stich gelassen fühlt.«
Gandalf sieht das Blut auf dem Brief, der neben mir auf dem Nachttisch liegt. Er meint, das erinnere ihn an das Kreuz: ein Brief an die Menschheit, unterschrieben mit dem Blut Gottes, durch das wir gerettet werden. Ich unterbreche ihn, sonst lässt er noch eine stundenlange Predigt vom Stapel, und das muss wirklich nicht sein. Aber immerhin hat er mir was zum Nachdenken gegeben, und außerdem gefällt mir die Sache mit dem Blut. Genau wie bei mir und Beatrice. Vielleicht ist das das einzig Wahre in diesem ganzen Christus-Sermon: Liebe bedeutet, sein Blut zu geben. Liebe ist blutrot.
»Es gibt keine triftige Antwort auf den Schmerz, Leo. Doch seit Christus am Kreuz gestorben ist, gibt es für uns einen Sinn. Einen Sinn gibt es …«
Ich umarme ihn so herzlich ich kann. Als er schon weg ist, sehe ich, dass er sein Kruzifix auf Beatrices Brief gelegt hat.
Auf der Rückseite des t-förmigen Holzstückes steht: »Es gibt keine größere Liebe, als das Leben für seine Freunde zu geben.« Nicht schlecht. Will ich mir merken. Ich stecke das Kreuz in den Umschlag. Wenn ich wieder in der Schule bin, muss ich es Gandalf zurückgeben, und außerdem ist es mir peinlich, mit einem Kruzifix rumzurennen: Das bringt Unglück.