Es ist Abend geworden. Einer jener Septemberabende, an denen Düfte, Farben und Geräusche einem Regenbogen gleichen, der die Welt mit dem Himmel eint. Beatrice sieht von ihrem Stern auf mich herab. Ich habe die Gitarre in der Hand und einen pensionierten Dackel zu Füßen: Terminator war die passende Ausrede, um zu dieser Tageszeit noch vor die Tür zu gehen, ohne allzu großen Verdacht zu erregen. Ich klingele und bitte sie, an ihr Fenster zu kommen.

»Wer ist denn da?«

Als sie aus dem zweiten Stock ihres zum Märchenschloss mutierten Wohnhauses hinaussieht, kann sie mich bei der funzeligen Straßenbeleuchtung kaum sehen. Aber sie kann meine Stimme hören.

»Als du für mich den Brief geschrieben hast, hatte ich dir versprochen, für dich zu singen …«

Stille. Ich stimme die Gitarre, verliere mich im Nachtblau des Himmels und fange an:

Sai, nascono così

fiabe che vorrei

dentro tutti i sogni miei …

E le racconterò

per volare in paradisi

che non ho.

E non è facile restare

senza più fate da rapire,

e non è facile giocare

se tu manchi …

So werden Märchen geboren,

wie ich sie in all meinen Träumen herbeiwünsche.

Ich erzähle sie,

um in Paradiese zu fliegen,

die ich nicht habe.

Es ist nicht leicht, zu bleiben,

wenn es keine Feen mehr zu rauben gibt,

es ist nicht leicht, zu spielen,

wenn du nicht da bist …

Im Dunkel stelle ich mir Silvias Gesicht vor, wie sie zuhört, meiner Stimme lauscht, und mir ist nichts mehr peinlich, denn wenn ich eine gute Stimme habe, dann, um sie ihr zu schenken:

Portami con te,

tra misteri di angeli

e sorrisi demoni.

E li trasformerò

in coriandoli di luce tenera.

E riuscirò sempre a fuggire

Dentro colori da scoprire…

Nimm mich mit,

zwischen engelhaften Geheimnissen

und teuflischem Lächeln.

Ich verwandele sie in Konfetti aus zartem Licht.

Immer kann ich in einen Strudel

unentdeckter Farben entfliehen…

Ich bin in sämtlichen Märchen der Welt und erfinde sie allesamt neu, verlege sie ins Hier und Jetzt, um sie greifbar zu machen. Andere Gesichter erscheinen von meinem Ständchen angelockt an den Fenstern des verzauberten Mietshauses. Doch ich pfeife drauf, ich bin der freiste aller Menschen, der es mit der ganzen Welt aufnehmen würde, um das, was wirklich zählt, nicht zu verlieren.

Aria, respirami il silenzio,

non mi dire addio,

ma solleva il mondo …

Luft, atme die Stille,

sag mir nicht Lebwohl,

heb die Welt aus den Angeln …

Ich höre meine Stimme, die frei und schwer zugleich klingt. Ihre Schwere ist das Durchlebte, das sich in Schwingen und Federn verwandelt hat und sie schweben lässt, leicht und gewichtig zugleich. Erst jetzt, da ich schwer bin, kann ich fliegen.

Aria, abbracciami.

Volerò, volerò, volerò,

volerò …

Luft, umarme mich.

Ich fliege, fliege, fliege,

fliege …

Stille. Als ich aufsehe, ist Silvias Blick nicht mehr da. Jemand pfeift und buht. Jemand anderes lacht, vielleicht aus Neid. Manche klatschen.

Das Tor des verwunschenen Schlosses öffnet sich. Ein Schatten kommt langsam auf mich zu. Ich starre in das Gesicht, das sich im Halbdunkel nähert.

»Silvia ist beim Tanzen … ich hab’s dir von oben zugerufen, aber du hast mich nicht gehört … sie müsste gleich zurück sein. Aber du bist gut. Ich hab genau zugehört. Das warst zu hundert Prozent du …«

Silvias Mutter lächelt. Ich dachte, es wäre Silvia, aber es ist ihre Mutter. Zum Glück sieht man im Dunkel das Rot nicht, das mir ins Gesicht schießt und es im nächsten Moment womöglich zum Platzen bringt wie im übelsten Splattermovie.

»Willst du raufkommen, bis sie zurück ist?«

»Nein, danke, ich warte hier …«

»Wie du möchtest. Aber … sing es ihr noch einmal …«

Mit der Gitarre in der Hand hocke ich mich auf die Eingangsstufen wie ein Zigeuner, der um Geld für seine Kunst bettelt und versucht, seine Scham oder irgendein Geheimnis in der Schwärze der Nacht zu ertränken. Terminator rollt sich zu meinen Füßen zusammen und ist zum ersten Mal in seinem Leben zufrieden.

Ich schließe die Augen und singe noch einmal, fast flüsternd, während meine Finger die Melodie zupfen, auf der meine Stimme wie auf einem fliegenden Teppich über die Dächer der Stadt dahingleitet und nach den Sternen greift, als wären sie die Noten des Liedes, versprengt auf der endlosen Himmelspartitur.

Als ich die Augen öffne, sieht ein Gesicht mich an.

Auf diesem Gesicht mit den blauen, aufmerksamen Augen bricht sich ein Lächeln Bahn, als würde man eine verrostete Tür öffnen, und aus diesem Türspalt weht mir plötzlich all das vergessene Glück entgegen, das ich nach Beatrices Tod verdrängt hatte. Es weht mich an, umfängt mich, überflutet mich und raunt mir fast singend zu: »E riuscirò sempre a fuggire dentro colori da scoprire …«

Unsere Umarmung fügt uns zusammen wie zwei Legosteine.

»Ich finde, wir passen perfekt ineinander«, flüstere ich ihr ins Ohr.

Silvia umarmt mich noch fester. Ihre Umarmung lässt mich meine Kanten, meine Macken und Stacheln spüren. Und ich fühle, wie sie runder und weicher werden und sich sanft in ihre Kerben schmiegen.

Terminator wetzt in Kreisen um uns herum, die uns wie im Märchen vor jedem bösen Zauber schützen.

Und ein Kuss ist die rote Brücke zwischen unseren Seelen, die ohne jede Angst über dem weißen Abgrund des Lebens tanzen.

»Ich liebe dich, Leonardo.«

Mein Name, mein vollständiger Name mit dem vorangestellten Verb in erster Person, ist die Formel, die alle verborgenen Geheimnisse der Welt erklärt.

Ich werde Leo genannt, aber ich bin Leonardo.

Und Silvia liebt Leonardo.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-04143-4.xhtml
978-3-641-04143-4-1.xhtml
978-3-641-04143-4-2.xhtml
978-3-641-04143-4-3.xhtml
978-3-641-04143-4-4.xhtml
978-3-641-04143-4-5.xhtml
978-3-641-04143-4-6.xhtml
978-3-641-04143-4-7.xhtml
978-3-641-04143-4-8.xhtml
978-3-641-04143-4-9.xhtml
978-3-641-04143-4-10.xhtml
978-3-641-04143-4-11.xhtml
978-3-641-04143-4-12.xhtml
978-3-641-04143-4-13.xhtml
978-3-641-04143-4-14.xhtml
978-3-641-04143-4-15.xhtml
978-3-641-04143-4-16.xhtml
978-3-641-04143-4-17.xhtml
978-3-641-04143-4-18.xhtml
978-3-641-04143-4-19.xhtml
978-3-641-04143-4-20.xhtml
978-3-641-04143-4-21.xhtml
978-3-641-04143-4-22.xhtml
978-3-641-04143-4-23.xhtml
978-3-641-04143-4-24.xhtml
978-3-641-04143-4-25.xhtml
978-3-641-04143-4-26.xhtml
978-3-641-04143-4-27.xhtml
978-3-641-04143-4-28.xhtml
978-3-641-04143-4-29.xhtml
978-3-641-04143-4-30.xhtml
978-3-641-04143-4-31.xhtml
978-3-641-04143-4-32.xhtml
978-3-641-04143-4-33.xhtml
978-3-641-04143-4-34.xhtml
978-3-641-04143-4-35.xhtml
978-3-641-04143-4-36.xhtml
978-3-641-04143-4-37.xhtml
978-3-641-04143-4-38.xhtml
978-3-641-04143-4-39.xhtml
978-3-641-04143-4-40.xhtml
978-3-641-04143-4-41.xhtml
978-3-641-04143-4-42.xhtml
978-3-641-04143-4-43.xhtml
978-3-641-04143-4-44.xhtml
978-3-641-04143-4-45.xhtml
978-3-641-04143-4-46.xhtml
978-3-641-04143-4-47.xhtml
978-3-641-04143-4-48.xhtml
978-3-641-04143-4-49.xhtml
978-3-641-04143-4-50.xhtml
978-3-641-04143-4-51.xhtml
978-3-641-04143-4-52.xhtml
978-3-641-04143-4-53.xhtml
978-3-641-04143-4-54.xhtml
978-3-641-04143-4-55.xhtml
978-3-641-04143-4-56.xhtml
978-3-641-04143-4-57.xhtml
978-3-641-04143-4-58.xhtml
978-3-641-04143-4-59.xhtml
978-3-641-04143-4-60.xhtml
978-3-641-04143-4-61.xhtml
978-3-641-04143-4-62.xhtml
978-3-641-04143-4-63.xhtml
978-3-641-04143-4-64.xhtml
978-3-641-04143-4-65.xhtml
978-3-641-04143-4-66.xhtml
978-3-641-04143-4-67.xhtml
978-3-641-04143-4-68.xhtml
978-3-641-04143-4-69.xhtml
978-3-641-04143-4-70.xhtml
978-3-641-04143-4-71.xhtml
978-3-641-04143-4-72.xhtml
978-3-641-04143-4-73.xhtml
978-3-641-04143-4-74.xhtml
978-3-641-04143-4-75.xhtml
978-3-641-04143-4-76.xhtml
978-3-641-04143-4-77.xhtml
978-3-641-04143-4-78.xhtml
978-3-641-04143-4-79.xhtml
978-3-641-04143-4-80.xhtml
978-3-641-04143-4-81.xhtml
978-3-641-04143-4-82.xhtml
978-3-641-04143-4-83.xhtml
978-3-641-04143-4-84.xhtml
978-3-641-04143-4-85.xhtml
978-3-641-04143-4-86.xhtml
978-3-641-04143-4-87.xhtml
978-3-641-04143-4-88.xhtml
978-3-641-04143-4-89.xhtml
978-3-641-04143-4-90.xhtml
978-3-641-04143-4-91.xhtml
978-3-641-04143-4-92.xhtml
978-3-641-04143-4-93.xhtml
978-3-641-04143-4-94.xhtml
978-3-641-04143-4-95.xhtml
978-3-641-04143-4-96.xhtml
978-3-641-04143-4-97.xhtml
978-3-641-04143-4-98.xhtml
978-3-641-04143-4-99.xhtml
978-3-641-04143-4-100.xhtml
978-3-641-04143-4-101.xhtml
978-3-641-04143-4-102.xhtml
978-3-641-04143-4-103.xhtml
978-3-641-04143-4-104.xhtml
978-3-641-04143-4-105.xhtml
978-3-641-04143-4-106.xhtml
978-3-641-04143-4-107.xhtml
978-3-641-04143-4-108.xhtml
978-3-641-04143-4-109.xhtml
978-3-641-04143-4-110.xhtml
978-3-641-04143-4-111.xhtml
978-3-641-04143-4-112.xhtml
978-3-641-04143-4-113.xhtml
978-3-641-04143-4-114.xhtml
978-3-641-04143-4-115.xhtml
978-3-641-04143-4-116.xhtml
978-3-641-04143-4-117.xhtml
978-3-641-04143-4-118.xhtml
978-3-641-04143-4-119.xhtml
978-3-641-04143-4-120.xhtml
978-3-641-04143-4-121.xhtml