Es klingelt. Es klingelt an der Tür. Es ist für mich. Wer kann das sein, abends um neun? Silvia. Bestimmt ist sie nach meinen dreiundzwanzig SMS weich geworden, die ich ihr heute geschickt habe, um die Peinlichkeit der vorhergehenden wieder wettzumachen …

»Komm runter.«

Sie ist es.

»Mamma, ich gehe kurz runter. Es ist Silvia.«

Ich gehe runter, aber da wartet keine Silvia auf mich. Ich habe mir ihre Stimme nur eingebildet, so überzeugt war ich, dass sie es sein muss. Es ist der Träumer. Scheiße. Das hat gerade noch gefehlt. Bestimmt will er mir auch noch reinreiben, was für eine nichtsnutzige Lusche ich bin.

»n Abend, und, was hab ich ausgefressen?«, frage ich und starre auf einen unbestimmten Punkt an seiner linken Schulter.

Er lächelt.

»Ich dachte, ich komme mal vorbei, vielleicht hast du ja Lust, unsere Unterhaltung von neulich zu Ende zu führen.«

Na bitte, ich hab’s gewusst. Pauker bleiben einfach Pauker, selbst vor der Haustür müssen sie einen unterrichten.

»Vergessen wir doch die Unterhaltung von neulich …«

Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, und will nur, dass das hier sofort aufhört, wie immer, wenn mir etwas nicht schmeckt. Man schaltet um, und die Szene ist weg. Verschwunden, ausgeknipst, vorbei.

»Lass uns ein Eis essen gehen.«

Er lächelt mich an. Ja, genau das hat er gesagt: ein Eis. Lehrer essen Eis. Sie essen Eis und haben dabei genauso einen verschmierten Mund wie jeder Normalsterbliche auch. Zwei Erkenntnisse, die ich mir merken muss, vielleicht schreibe ich eines Tages darüber. Übrigens:

»Ihr Blog ist schön, manchmal ein bisschen zu philosophisch, aber wenn ich dazu komme, lese ich ihn.«

Er bedankt sich und leckt weiter an seinem Pistazien-Mokka-Eis – echte Lehrergeschmacksrichtungen – und erinnert mich an Terminator, der meine Tennisschuhe ableckt.

»Also, was war los neulich?«

Ich wusste, er würde nicht lockerlassen. Lehrer sind wie Boas, kaum passt man mal nicht auf, wickeln sie einen ein, dann warten sie, bis man ausatmet, und drücken zu, bei jedem Atemzug ein bisschen stärker, bis der Brustkorb einknickt und man erstickt.

»Was interessiert Sie das?«

Der Träumer sieht mir in die Augen, und nur mühsam halte ich seinem Blick stand.

»Vielleicht brauchtest du Hilfe, einen Rat …«

Ich schweige. Den Blick gesenkt. Ich starre auf den Asphalt, als wäre jeder Zentimeter Bitumen plötzlich hochinteressant. Irgendetwas in mir hat genau darauf gewartet, es will raus, aber es hockt in seinem Winkel, wehrt sich und hat Angst, zum Vorschein zu kommen, denn wenn es das tut, würde es den Typen mit den strubbeligen Haaren und dem verschmitzten Blick mit reinziehen, und zwar so, dass es ihn eine Menge salziges Wasser in Form von Tränen kosten würde. Also starre ich weiter auf die Erde, aus Furcht, dieses Etwas könnte aus mir herauskommen wie Zahnpasta, zu viel und alles auf einmal.

Der Träumer wartet stumm. Er hat keine Eile, wie alle, die einem den Teppich unter den Füßen wegziehen. Also zahle ich es ihm mit der gleichen Münze heim.

»Was würden Sie machen, wenn Ihre Freundin stirbt?«

Diesmal sehe ich ihm in die Augen. Der Träumer mustert mich schweigend. Er hört auf zu essen. Vielleicht hat er noch nie darüber nachgedacht. Vielleicht hat ihm meine Frage nicht gepasst. Na bitte, dann kapiert er endlich mal was und hört mit seinen dämlichen Theorien auf. Er antwortet, dass er es nicht weiß und etwas dermaßen Heftiges womöglich gar nicht ertragen könnte.

Er weiß es nicht. Es ist das erste Mal, dass der Träumer etwas nicht weiß. Das erste Mal, dass er nicht selbstgewiss und brillant ist wie eine blank gewienerte Schaufensterscheibe. Er weiß es nicht.

»Tja, sehen Sie, genau das mache ich gerade durch, und deswegen kommt mir alles andere wie lächerlicher Schwachsinn vor.«

Der Träumer blickt in den Himmel.

»Beatrice.«

Er schweigt. Dann fragt er mich, ob das das Mädchen ist, über das man in der Schule redet: das Mädchen, das an Leukämie erkrankt ist. Ich senke den Kopf, fast verletzt durch seine Worte, die jedoch leider wahr sind: das Mädchen, das an Leukämie erkrankt ist … Schweigen. Das Schweigen der Erwachsenen ist einer der größten Triumphe, die man sich vorstellen kann. Also rede ich.

»Sie ist nicht wirklich meine Freundin, aber es ist so, als wäre sie’s. Wissen Sie, als ich Ihnen von meinem Traum erzählt habe, habe ich von Beatrice geredet. Ich weiß, dass, egal welchen Weg ich nehme, sie mich begleiten wird, und wenn sie nicht dabei ist, weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.«

Der Träumer schweigt weiter. Wortlos legt er mir eine Hand auf die Schulter.

»Sie ist jetzt ganz bleich. Sie hat ihre roten Haare verloren, wegen derer ich mich in sie verliebt habe. Und ich habe noch nicht einmal den Mumm gehabt, mit ihr zu reden, ihr zu helfen, sie zu fragen, wie es ihr geht. Ich bin weggelaufen, als ich sie so gesehen habe. Wie ein Schisser weggelaufen bin ich. Ich hatte geglaubt, ich liebe sie, ich hatte geglaubt, mit ihr bis ans Ende der Welt zu gehen, ich hätte alles für sie getan, sogar Blut gespendet habe ich, und dann, als ich vor ihr stehe, renne ich weg. Ich renne weg wie ein Feigling. Ich liebe sie nicht. Einer, der wegläuft, liebt nicht wirklich. Sie war klein, schutzlos und blass, und ich bin abgehauen. Ich bin das Letzte.«

Meine letzten Worte durchbrechen eine Stahlbetonmauer, die langsam vom Bauch bis zur Kehle emporgewachsen ist und jetzt auf Augenhöhe in bleischwere, schmerzende Tränen zerbirst.

Ich weine haltlos und mit allem Schmerz, den ich in mir trage, weil es mir gut tut, fast so, als spendete ich Blut. Ich kann weinen, wer weiß, wann mir das noch mal passiert, so endlos bescheuert ich mir dabei auch vorkomme.

Der Träumer sitzt schweigend neben mir, seine starke Hand auf meiner Schulter. Ich bin mir peinlich. Ein Junge von sechzehn Jahren, der heult. Ich heule vor meinem Geschichts- und Philolehrer, den Mund noch eisverschmiert. Was soll’s, jetzt ist es eh zu spät. Der Damm ist gebrochen, und meinetwegen ergießen sich eine Millionen Kubikmeter Schmerz über die Welt, aber wenigstens muss ich sie nicht mehr allein mit mir herumschleppen.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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