Ich bin bereit. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, aber ich trage das Licht in mir. Ich habe den von Silvia geschriebenen Brief dabei. Ich glaube nicht, dass ich direkt mit Beatrice sprechen werde, und auch deswegen habe ich mich so gut wie möglich angezogen, denn allein mein Äußeres muss ihr klarmachen, wie sehr ich sie liebe. Und außerdem spricht der Brief für sich.

Als ich das Krankenhaus betrete, werde ich von einer Schwester gefragt, wo ich hin will, und ich antworte, ich gehe eine Freundin besuchen.

»Wie heißt sie?«, will sie mit typisch argwöhnischem Krankenschwestergesicht wissen.

»Beatrice«, antworte ich und sehe ihr herausfordernd in die Augen. Die biestige, vogelscheuchendürre Schwester ahnt nicht, wozu ich fähig bin. Ohne ein Wort kehre ich ihr den Rücken zu. Blöde Kuh. Ich suche Beatrice. Und finde sie nicht. Ich finde sie einfach nicht. Nach einer Stunde irre ich noch immer durch die Flure und finde sie nicht.

Ich habe alles gesehen. Das ganze Leidensmuseum samt typischem Krankenhausgeruch nach Alkohol und kotzgrünen Wänden. Manche lächeln, wenn ich in ihr Zimmer platze. Eine Alte wird sauer. Sie schickt mich dahin, wo der Pfeffer wächst, und ich sie ebenfalls. Als ich aus dem Zimmer komme, stoße ich fast mit der Vogelscheuchenschwester zusammen, die mich schief ansieht, und ich senke den Blick.

»Zimmer 405«, sagt sie mit freundlich zufriedener Stimme und verschränkt die Arme, als wäre es ein Vorwurf.

»Wie sind Sie draufgekommen?«, frage ich ohne aufzusehen.

»Sie ist die einzige Beatrice, die wir im Computer haben.«

Ich sehe sie an und lächele. Zwinkernd werfe ich ihr eine Kusshand zu.

»Andere Seite«, ruft sie mir kopfschüttelnd nach, »vierter Stock.«

Ich springe die Treppen hoch und spüre Beatrices Nähe. Ich springe die Treppen hoch, weil Beatrice da ist und ich zu ihr will, und jede Stufe, die ich hochspringe, ist eine Stufe ins Paradies, wie bei Dante in der Göttlichen Komödie. Die Tür ist geschlossen oder vielmehr angelehnt. Ich öffne sie ganz sacht.

Ein einziges Bett steht im Halbdunkel, und mitten in diesem riesigen weißen Rechteck liegt zusammengekauert ein winziger Schemen. Leise schleiche ich näher. Das ist nicht Beatrice. Das ist nicht Beatrice. Die dämliche Krankenschwester hat sich geirrt und mich ins falsche Zimmer geschickt. Ehe ich wieder rausgehe, werfe ich einen Blick auf die zusammengekauerte Figur auf dem Bett. Es ist ein kleines Mädchen. Erst hatte ich gedacht, es ist ein Junge. Das Gesicht ist knochig und eingefallen. Die Haut ist farblos, fast durchscheinend blass. Dort, wo die Kanüle im Handgelenk steckt, ist der Arm violett. Doch sie schläft friedlich. Sie hat keine Haare. Sie sieht aus wie ein kleiner Außerirdischer, zusammengerollt wie ein Baby im Mutterbauch. Sie scheint im Schlaf zu lächeln.

Auf dem Nachttisch sind ein Buch, eine Wasserflasche, ein Armband aus blauen und orangefarbenen Perlen, eine Muschel, in der man das Meer rauschen hört, und ein Foto. Ein Foto des Mädchens mit seiner Mutter, die es umarmt. Auf dem Foto steht, »Ich bin immer bei dir, hab keine Angst, meine kleine Beatrice«. Das Mädchen hat rotes Haar.

Das Mädchen ist Beatrice.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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