Der Sommer ist der Grund, weshalb man am Leben ist, doch dieser Sommer war anders: kein Radau, sondern Stille. Den ganzen Sommer lang habe ich niemanden gesehen oder gesprochen. Fast drei Monate lang habe ich in der Pension in den Bergen verbracht, wo wir immer hinfahren. Dieses Jahr habe ich mich zum ersten Mal drauf gefreut. Ich hatte die Stille nötig. Ich hatte es nötig, allein spazieren zu gehen; keine neuen Freunde zu finden; nicht um jeden Preis ein Mädel aufzureißen, nur, um Niko nach den Ferien was erzählen zu können. Ich hatte meine Eltern nötig. Ich hatte Beatrices Tagebuch nötig, denn es enthielt einen Funken Glück. Ich hatte das Nötigste nötig, und das ist in den Bergen leichter zu finden.

Einen Sternenhimmel wie in den Bergen findet man nirgendwo sonst. Mein Vater erzählt mir oft Geschichten von den Sternen. Meine Mutter hört zu und hat eher Augen für uns als für die Sterne. Eines Abends erzählt mein Vater mir die Geschichte des Sterns, den ich Silvia geschenkt habe, und sein noch immer warmes Licht erhellt ein winziges Eckchen meines Herzens, das ich mit zahllosen Riegeln verrammelt hatte.

Ich habe es nicht geschafft, Silvias Brief zu öffnen, ich habe ihn noch nicht mal mitgenommen. Ich schreibe ihr noch immer SMS, aber ich pack’s nicht, sie abzuschicken. Aber ich speichere sie alle: Kategorie NGN.

Ich hab auch alle Nachrichten gespeichert, die sie mir geschickt hat. Ich kann sie einfach nicht löschen. Es müssen über hundert sein, und hin und wieder, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll, an nichts denke, mich langweile oder es nötig habe, lese ich ein paar. Ich scrolle sie runter und picke mir die Nummer raus, die mich am meisten anspricht. Dreiunddreißig: »Du bist der dämlichste Typ, den ich kenne, aber wenigstens bist du nicht langweilig …« Zwölf: »Denk an das Geschichtsbuch, Blödmann!« Sechsundfünfzig: »Jetzt hör auf, dich so anzustellen. Lass uns was trinken gehen und dann erzählst du mir alles.« Einundzwanzig: »Was für ne Schuhgröße hast du? Welche ist deine Lieblingsfarbe?« Hundert: »Ich auch«.

Meine Lieblingsnachricht: Ich hab alles hineingedacht, was ich wollte, und immer antwortete sie mir, »ich auch«. So war ich nie allein. Sie hat die Nummer hundert, und das ist eine Glückszahl. Ich könnte einen ganzen Roman aus SMS schreiben. Bisher gibt es nur wenige Protagonisten: Silvia, Niko, Beatrice und ihre Mutter, den Träumer und mich. Ja, der Träumer: Ich hatte seine Handynummer und habe ihm diesen Sommer eine Nachricht geschickt, um ihm hallo zu sagen und zu fragen, ob es seinem Freund, der Probleme mit seinem Vater hatte, inzwischen besser geht. Und er hat geantwortet, dass sich sein Freund dank der Worte, die ich bei der Beerdigung aus Beatrices Tagebuch vorgelesen hatte, ganz allmählich von dem Schlag erholt. Ich hab ihn gefragt, was denn sein Freund von Beatrice wisse. Ob er ihn vielleicht auf die Beerdigung mitgebracht hatte.

»In gewissem Sinne … Danke, Leo, ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.«

Ich antworte: »Und weshalb?«

Kann man bestimmte Unterhaltungen per SMS führen? Ja, man kann.

»Weil du den Mut gehabt hast, diese Worte zu lesen. Wen wir geliebt haben, werden wir wiederfinden, und um Verzeihung zu bitten, bleibt uns das ganze Leben.«

Ich habe diese Antwort mindestens hundertsiebenundzwanzig Mal gelesen, sie war zu philosophisch, und beim hundertachtundzwanzigsten Mal habe ich drei Dinge begriffen:

Ab jetzt nenne ich alles philosophisch, was wirklich wichtig ist, und dazu braucht es vielleicht die Philosophie …

Ich muss auf die SMS des Träumers antworten: »Der Dank gilt Beatrice. Bis bald!«

Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und Silvias Brief zu lesen.

Den ganzen Abend über betrachte ich ihren Stern, dann setzt sich meine Mutter in der Dunkelheit neben mich, die Tannen duften, und der Mond bescheint ihr entspanntes Gesicht.

»Mamma, wie kann man lieben, wenn man nicht mehr liebt?«

Meine Mutter sieht weiter zum Himmel auf, sie liegt jetzt neben mir und betrachtet den Weißen Zwerg Roten Riesen namens Silvia.

»Leo, lieben ist ein Verb, kein Substantiv. Das ist keine ein für alle Mal festgelegte Sache; sie entwickelt sich, wächst, steigt, sinkt, stürzt hinab, wie unterirdische Flüsse, die sich ihren Weg durch den Fels graben, sich von ihrem Weg zum Meer jedoch niemals abbringen lassen. Manchmal lassen sie die Erde verdorren, doch im Verborgenen fließen sie weiter, dann steigen sie wieder an die Oberfläche, sprudeln hervor und machen alles ringsherum fruchtbar.«

Der Himmel scheint der Resonanzkörper für diese sanften Worte zu sein, die nur an einem solchen Abend nicht dahergesagt klingen.

»Und was soll ich jetzt tun?«

Meine Mutter schweigt mindestens zwei Minuten lang, dann erklingen ihre Worte aus der Stille wie ein Fluss, der nach langen Mühen das Meer erreicht:

»Trotzdem lieben. Das kann man immer: Lieben ist eine Tätigkeit.«

»Auch, wenn man jemanden lieben soll, der einen verletzt hat?«

»Aber das ist doch normal … Es gibt zwei Arten von Menschen, die einen verletzen, Leo, die, die uns hassen, und die, die uns lieben …«

»Das verstehe ich nicht. Wieso sollte jemand, der uns liebt, uns verletzen?«

»Weil die Menschen manchmal blöde Dinge tun, wenn die Liebe im Spiel ist. Sie machen vielleicht Fehler, aber zumindest geben sie sich Mühe … Vielmehr solltest du dir Sorgen machen, wenn dich derjenige, der dich liebt, nicht mehr verletzt: Dann hat er aufgehört, sich Mühe zu geben, und dir bedeutet es nichts mehr …«

»Und wenn man es einfach nicht hinkriegt, trotzdem zu lieben?«

»Du hast es nicht richtig versucht. Wir täuschen uns oft, Leo. Wir glauben, die Liebe sei in der Krise, und stattdessen fordert uns die Liebe auf, zu wachsen … wie der Mond: Man sieht nur einen Teil, aber er ist immer rund, mitsamt seinen Ozeanen und Gipfeln, man muss nur warten, dass er wächst und das Licht nach und nach seine unsichtbare Oberfläche erhellt … und dafür braucht es Zeit.«

»Mamma, wieso hast du Papa geheiratet?«

»Was glaubst du?«

»Weil er dir einen Stern geschenkt hat?«

Meine Mutter lächelt, und im Mondlicht blitzen die makellosen Zähne in ihrem Gesicht, das jeden meiner Stürme besänftigen kann.

»Weil ich ihn lieben wollte.«

Meine Mutter strubbelt mir durchs Haar, um die dunklen Gedanken zu verscheuchen, die vielleicht noch darin hängengeblieben sind, genau wie früher, wenn ich Angst hatte und mich in ihre Arme kuschelte.

Dann war da nur noch die Stille, die den Blick zum Mond und in den Himmel begleitet, und das stumme Gespräch mit jenen, die hinter den Sternen sind.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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