Der Träumer macht wieder mal eine seiner Sonderstunden: Das sind die besten!

Er fängt an, aus einem Buch vorzulesen, das ihn beeindruckt hat und das er gerade aus rein persönlichem Interesse liest. Dabei leuchten seine Augen wie bei einem, der seine Freude mit dem Erstbesten, der ihm über den Weg läuft, teilen muss. Wie bei mir, wenn ich ohne es zu merken laut »Beatrice« vor mich hin sage oder aller Welt erzählen möchte, dass eine Prüfung gut gelaufen ist, was allerdings ziemlich selten vorkommt …

Diesmal hat er eine Erzählung aus Sternstunden der Menschheit vorgelesen, in der von drei Belagerungen und drei Plünderungen die Rede ist.

»Rom, Alexandria und Byzanz. Drei Städte voller Schätze, Schönheit und Kunst. Drei Städte mit vor Büchern berstenden Bibliotheken, in denen das Geheimnis jahrhundertealter Literatur und Wissenschaft gehütet wurde. Gebäude voller Schriftrollen und Kodizes, die von den Träumen der Menschen erzählten und den Träumen mindestens ebenso vieler zukünftiger Menschen als Nahrung dienen konnten. Doch all diese Träume sind unter den vernichtenden Schlägen der Barbaren, Araber und Türken in Rauch aufgegangen. Mit einer einzigen flammenden Geste löschten sie Stockwerk um Stockwerk voller Schriftstücke aus, die das Geheimnis des Lebens enthielten. Sie verbrannten den Geist und seine Schwingen. Sie setzten seinem jahrhundertelangen Flug, in dem er sich aus den Kerkern der Geschichte befreit hatte, ein Ende. Das Papier der Bücher brannte wie in Bradburys wunderbarem Roman, den ihr übrigens lesen solltet …«

Soweit der Träumer. Keinen Blassen, was er damit sagen will, und von diesem Bradbury habe ich auch noch nie was gehört, aber es klingt gut.

Am Ende seines leidenschaftlichen Vortrages hat uns der Träumer gefragt: »Warum?« Niemandem ist was eingefallen. Er meinte, wir sollten darüber nachdenken und einen Aufsatz darüber schreiben. Der Träumer spinnt. Der glaubt, wir wären Philosophen. Unsere Sorgen sind sehr viel schlichter und konkreter. Zweckmäßig und direkt: Bei wem kann ich Griechisch abschreiben, wie kriege ich das schnuckelige Mädel rum, wie komme ich an Geld für eine neue Prepaidkarte, nachdem die letzte in nur zwei Tagen für SMS mit höchstens fünf bis sechs Wörtern draufgegangen ist … solche Sachen. An Aufgaben, wie der Träumer sie einem stellt, ist man nicht gewöhnt. Für manche Dinge hat man einfach keinen Kopf. Wo soll man überhaupt die Antworten herkriegen?

Denn bei seinen Fragen hilft es nicht, bei Google Rom, Alexandria, Byzanz, Feuer, Träume, Gründe, Bücher … einzutippen. Das bringt nichts. Im Netz gibt es keinen Text, der derart zusammenhanglose Wörter unter einen Hut bringt. Den Zusammenhang muss man irgendwie selbst herstellen. Deshalb ist es auch so schwierig.

Ich weiß noch nicht, ob ich den Aufsatz schreibe. Das ist echt schwer, aber es hat etwas Geheimnisvolles, denn ausnahmsweise kann man die Lösung nicht irgendwo abschreiben. Man muss sie finden. Und vielleicht geht es um mehr. Ich muss es ausprobieren. Ich hasse den Träumer, er kriegt mich immer wieder und macht mich neugierig.

Unwissenheit ist das Bequemste, was ich kenne, mal abgesehen von unserer Wohnzimmercouch.

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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