Lieber Leo,

jetzt sitze ich hier und will Dir von einem Vorfall erzählen, bei dem ich an Dich denken musste, ich kann nicht anders, ich muss Dir einfach schreiben. Ich weiß, dass Du stinksauer auf mich bist und nicht mit mir reden willst. Betrachte diesen Brief also als Ventil, denn Du bist der Einzige, der ihn verstehen kann.

Vor ein paar Tagen haben wir mit einer befreundeten Familie einen Ausflug gemacht. Irgendwann war ich mit dem Sohn allein. Er heißt Andrea und ist in mich verknallt. Er hat die Gelegenheit wahrgenommen und versucht, mich zu küssen. Ich habe ihn weggeschubst, und er hat sich total verdattert umgedreht und ist weggegangen, genau wie Du damals. Aber während ich ihm nachsah, habe ich überhaupt keine Gewissensbisse verspürt. Andrea bedeutet mir nichts. Als ich Dir damals nachgesehen habe, damals, auf Deiner Bank, ist etwas in mir zerbrochen. Ich habe begriffen, dass die Welt für mich nur mit Dir existiert.

Die Griechen erzählten sich, ursprünglich sei der Mensch eine Kugel gewesen, und um ihn für seine Missetaten zu strafen, habe Zeus ihn entzweigespalten. Die beiden Hälften irren durch die Welt und suchen einander. Die Sehnsucht treibt sie zur Suche, und wenn sie einander finden, will die Kugel wieder eins werden. An der Geschichte ist was Wahres dran, doch das ist nicht alles. Wenn die beiden Hälften sich treffen, haben sie bis dahin ihr eigenes Leben gelebt. Sie sind einander nicht mehr gleich wie bei ihrer Trennung. Ihre Schnittstellen passen nicht mehr aufeinander. Sie haben Macken, Schwächen, Wunden. Es reicht nicht, dass sie sich wiedertreffen und wiedererkennen. Sie müssen sich auch noch füreinander entscheiden, denn sie passen nicht mehr perfekt zusammen, einzig die Liebe kann die unebenen Fugen schließen, nur die Umarmung sie glätten, auch wenn es wehtut. An jenem Tag ist mir klar geworden, dass unsere Hälften nicht perfekt zusammenpassen und nur die Umarmung uns zusammenführen kann. Ohne Deine Gegenwart ist die Welt leer. Mir fehlt alles an Dir: das Lachen, der Blick, die fehlenden Konjunktive, die SMS, die Gespräche … All die Nebensächlichkeiten, die alles für mich sind, weil sie Du sind.

So, das wollte ich Dir sagen. Nie werde ich jemandem so nachsehen, wie ich Dir nachgesehen habe. Wenn Du mir den Rücken zukehrst, kehrt mir das Leben den Rücken zu. Verzeih mir. Und wenn Du kannst, nimm mich mit meinen Macken zurück. Umarme mich so, wie ich bin. So, wie ich es mit Dir gemacht habe. Unsere Umarmungen werden uns verändern. Ich liebe Dich so, wie Du bist, mach Du es auch so, auch wenn ich nicht vollkommen bin wie Beatrice. Ich wünsche mir, dass Deine Bank unsere wird. Wie Du siehst, gebe ich mich mit wenig zufrieden …

Ich sehe auf, und der Fluss fließt gleichmütig vorbei und schert sich nicht um den Lauf der Welt. Jahrhundertelang hat er Freuden- und Schmerzenstränen in sich aufgenommen und dorthin gebracht, wo sie hingehören: ins Meer, das deshalb salzig ist. Ich umklammere meinen Glücksbringer, der blau im Blau des Morgens schillert, und spüre Beatrice nah bei mir, so nah, dass mir ist, als lebte ich mit zwei Herzen, meinem und ihrem, mit vier Augen, meinen und ihren, mit zwei Leben, meinem und ihrem.

Und das Leben ist das einzige, das sich nicht täuscht, wenn du, Herz, den Mut hast, es zu nehmen, wie es ist …

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
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