Damals …
Manu

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Manu spricht kaum noch und verlässt ihr Zimmer nur, um zur Schule zu gehen. Alle Bemühungen ihrer Mutter, herauszufinden, was mit ihrer Tochter geschehen ist, scheitern. Am Unterricht beteiligt sie sich nicht mehr und reagiert auch kaum, wenn die Lehrer sie ansprechen.

Sie weiß nicht, was Fränkie, Fozzie und Kupfer machen, sie sind in anderen Klassen. Es ist ihr auch egal. Sie möchte, nein, sie kann keinen der drei mehr sehen. Wenn sie an Kupfer denkt, wird ihr schlecht, Gedanken an Fozzie und Fränkie machen sie so unsagbar wütend, dass sie jedes Mal etwas kaputt machen muss, um nicht daran zu ersticken.

Manus Mutter schleppt sie zu Psychiatern, Psychologen, Psychoanalytikern. Das Ergebnis sind immer irgendwelche bunten Pillen und Therapiestunden, in denen sie einem Mann oder einer Frau gegenübersitzt und sich in ihr Innerstes zurückzieht, während sich die Lippen ihres Gegenüber bewegen und Dinge sagen, die an ihr abprallen.

Manu lebt fast nur noch in ihrem Innersten, denn dort gibt es nur die Dinge, die es geben darf. Schöne Dinge.

Fränkie, Fozzie, Kupfer, Festus … sie alle sind in diesem inneren Manu-Universum nicht existent.

Nach einem halben Jahr muss sie die Schule verlassen, kommt in eine Sonderschule. Immer neue Ärzte versuchen sich an ihr, immer weiter kapselt sie sich von allem ab.

Fast genau ein Jahr nach dem Einsturz des Fabrikdaches kommt Manu in eine psychiatrische Klinik. Anfangs darf sie sich noch frei bewegen, und ihre Mutter darf sie besuchen. Dann wird sie zum ersten Mal gewalttätig, als einer der Pfleger einen Jungen erst anschreit und ihn dann so heftig in den Rücken stößt, dass der Junge hinfällt. Er ist etwas jünger als Manu und schmächtig, mit dürren X-Beinen. Er sieht fast aus wie Festus. Mit einem lauten Schrei stürzt Manu sich auf den Pfleger, krallt eine Hand in seine Haare und zieht ihm die Fingernägel der anderen Hand quer durch das Gesicht, so dass sie blutige Striemen hinterlassen.

Anderes Pflegepersonal stürzt hinzu und überwältigt sie. Sie wird auf ihrem Bett festgeschnallt und bekommt eine Spritze.

Als sie wieder zu sich kommt, müssen Tage vergangen sein oder sogar Wochen. Sie weiß nicht, was man in dieser Zeit mit ihr gemacht hat, aber sie kennt jetzt den Grund, warum sie damals zur Fabrik zurückgefahren ist. Sie hat gespürt, dass Festus noch lebt. Sie hatte recht.

Und in diesem Moment, als sie wieder klar denken kann, weil die Ärzte probehalber die Medikamente abgesetzt haben, mit denen sie sie wochenlang sediert hatten, weiß sie, dass sie aus dieser Klinik raus und ihr Leben wieder selbst führen muss. Ihr ist noch nicht klar, warum das so wichtig ist. Bisher war es ihr vollkommen egal, wo sie war, ja, sie war sogar froh, in dem Krankenhaus zu sein, weil sie hier den größten Teil des Tages irgendwo sitzen und in ihrer inneren Welt verbringen konnte. Aber das hat sich geändert.

Von diesem Tage an spricht Manu mit den Ärzten. Sie nimmt jede Gelegenheit zu einer Therapiestunde wahr, beteiligt sich rege und zeigt sich allen gegenüber sanftmütig und verständnisvoll.

Nach einem halben Jahr darf sie die psychiatrische Klinik verlassen. Ihre Mutter weint vor Glück, als Manu sie in den Arm nimmt und ihr lächelnd sagt, wie froh sie ist, wieder bei ihr zu sein. Sie weiß, dass es gut ist, das zu sagen.

Sie meldet sich auf einer Abendschule an und schafft es, die mittlere Reife nachzuholen. Zum Abitur reicht es nicht, weil es ihr nicht gelingt, sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren. Irgendwann wandern ihre Gedanken einfach ab und beschäftigen sich mit Dingen, die sie anschließend sofort wieder vergisst.

Als Kind hat sie davon geträumt, Architektin zu werden, aber da das ohne Abitur nicht geht, macht sie eine Ausbildung zur Raumgestalterin.

Manus Leben verläuft in einfachen, aber geregelten Bahnen.

Einen Mann hat sie nie, weil sie die Berührung anderer Menschen nicht erträgt. Einzige Ausnahme sind ihre Eltern.

Sie hat einige Bekannte. Arbeitskollegen, mit denen sie sich hier und da auf ein Getränk trifft. Sie bleibt nie lange, weil sie sich schon nach Minuten in der Öffentlichkeit unwohl fühlt. Richtige Freunde hat sie keine.

Ihr Vater stirbt, als sie 28 ist, ihre Mutter vier Jahre später. Manu findet es schade.

An ihrem 39. Geburtstag fährt sie mit dem Fahrrad an der Saar entlang und setzt sich an einer ruhigen Stelle zwischen den Gemeinden Serrig und Saarhölzbach ans Ufer. Sie sieht dem Wasser dabei zu, wie es an ihr vorbeizieht. Hier und da bilden sich kleine Strudel oder steigen Bläschen hoch.

Als die riesige Ratte aus dem Busch gleich unterhalb ihrer Füße auftaucht und sie anstarrt, ist Manu wie versteinert. Sie möchte schreien, aufspringen, weglaufen, doch sie kann es nicht. Mit aller Kraft schafft sie es schließlich, die Starre abzuschütteln. Schreiend strampelt sie mit den Beinen und tritt nach der Ratte. Sie ist vollkommen von Sinnen und hat keine Gewalt mehr über ihren Körper. Schon mit einem der ersten Tritte erwischt sie das Tier, das von der Wucht des Stoßes ein Stück zurückgeschleudert wird und laut fiepend die Flucht ergreift.

Die Ratte ist verschwunden, als Manu die Augen wieder aufschlägt. Sie zittert am ganzen Körper, braucht lange, um sich zu beruhigen.

Und dann ruft jemand nach ihr. Sie muss sich nicht umsehen, sie weiß, dass diese Stimme aus ihrem Inneren kommt, und sie erkennt sie sofort. Es ist die Stimme von Festus, die ihr in seiner typischen, unbeholfenen Art sagt, dass es Zeit ist, dass sie etwas für ihn tut. Sie sei es ihm schuldig. Manu weiß, dass er recht hat, sie ist es ihm schuldig. Und sie wird ihre Schuld begleichen.

Als sie zu Hause ankommt, kramt sie aus einer gut versteckten Kiste ein ehemals weißes Stück Stoff heraus, das dort viele Jahre weggeschlossen war. Es ist etwa einen Meter mal einen Meter groß, mit verblichener schwarzer Farbe ist ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen darunter aufgemalt.

 

Vier Wochen später lernt Manu in einer kleinen, schäbigen Bar, die sie tagelang jeden Abend besucht hat, Zlatko Beslic kennen. Manu merkt schnell, dass der fast eins neunzig große Mann mit der geschwungenen Narbe auf der Stirn derjenige sein kann, den sie gesucht hat. Sie zeigt Interesse für ihn, und schon nach ein paar Treffen weiß sie, dass er der Richtige für das ist, was sie seit langem plant.

Zlatko Beslic hat einen Krieg überlebt. Einen Krieg, aus dem er nie recht zurückgekehrt ist. Der ihn gleichgültig gemacht hat. Und eiskalt.

Als Manu ihm ihre Geschichte erzählt, sagt er ohne Zögern zu, ihr zu helfen.

Das Rachespiel
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