18
– 22:06 Uhr
»O mein Gott«, stieß Manuela aus. »Jemand hat die Ratten freigelassen.« Im nächsten Moment leuchtete das Display ihres Telefons auf. Sie sprang auf, rannte zur Tür und schlug sie zu. Dann lehnte sie sich schweratmend mit dem Rücken dagegen, als müsse sie sie zur Sicherheit zuhalten.
Auch Frank stand auf. Er nahm Manuelas Telefon vom Tisch und ging durch die zweite Tür in den angrenzenden Waschraum. Von dort führte eine weitere Tür in den Gang, sie war jedoch verschlossen. Als er zurückkam, stand Manuela noch immer an der gleichen Stelle. »Ich …«, sie schluckte mehrmals. »Ich kann da nicht mehr raus, solange diese Viecher da herumlaufen.«
»Ich frage mich, wer sie freigelassen hat«, sagte Frank grimmig und legte das Telefon auf den Tisch zurück. »Denkst du, es waren Torsten und Jens?«
»Ist schon ein verblüffender Zufall, dass die Ratten ein paar Minuten nach ihrem Verschwinden wieder frei sind, findest du nicht? Und die beiden wissen, dass ich panische Angst vor Ratten habe und mich jetzt nicht mehr in den Gang traue. Das ist …«
Manuela stockte, drehte sich zur Seite und legte ein Ohr gegen die Tür. »Sie sind da, direkt vor der Tür. Ich kann sie hören. Gott, ist das ekelhaft.« Mit einem Ruck stieß sie sich ab, ging zum Tisch zurück und setzte sich. Im nächsten Augenblick sprang sie wieder auf, setzte sich nun auf den Tisch und zog die Knie an. Frank ließ sich auf den Stuhl fallen, von dem Manuela gerade aufgesprungen war, und sah sie an.
»Das Stethoskop gehört mir, ich habe es gefunden.« Frank nickte. »Wir haben es gemeinsam gefunden. Auf jeden Fall gehört es nicht Torsten. Aber er sieht das wohl anders, und ich wüsste nicht, was wir daran ändern …«
»HIER IST DIE ZWEITE AUFGABE DIESER NACHT, SPIELER.«
Es war wieder die elektronische Stimme, und sie kam Frank dieses Mal noch lauter vor. Manuela rutschte auf dem Tisch ein Stück nach vorne, tastete stumm nach Franks Hand und hielt sie fest.
»DU HAST DAMALS FALSCH GESPIELT. ERZÄHLE ES DEN ANDEREN, UND DU BEKOMMST EINEN PUNKT. DU HAST NUR EINEN VERSUCH. SAG DIE WAHRHEIT, SONST GEHT DER PUNKT AN EINEN DER ANDEREN.«
Wieder folgte das trockene Knacken, und die Lautsprecher verstummten.
»Was meint er damit?«, fragte Manuela zaghaft. Sie hielt Franks Hand noch immer umklammert.
»Ich denke, die interessantere Fragestellung ist: Wen meint er damit? Hieß es nicht vorhin noch, dass zwei von uns falsch spielen?«
»Ja, aber da hieß es auch: damals und heute. Vielleicht meint er, einer von uns hätte damals falsch gespielt und einer heute?«
Frank hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. Er ließ Manuelas Hand los und stand auf. Er brauchte Bewegung, wenn er über komplizierte Dinge nachdenken musste. Beate machte sich immer über ihn lustig, wenn er zu Hause begann auf-und abzugehen und sich dabei womöglich noch über die Stirn zu reiben – eine weitere seiner Angewohnheiten.
Manuela sah ihm dabei zu, wie er langsam um den Tisch herumging. Als er wieder vor ihr angekommen war, blieb er stehen. »Im Grunde könnte jeder von uns gemeint sein. Wer weiß? Vielleicht habe ich damals irgendetwas getan, was für mich vollkommen normal war, was dieser Kerl aber als falsches Spiel betrachtet.«
Frank fuhr zusammen. Von draußen waren schnelle Schritte zu hören, dazwischen lautes Getrampel. Dumpfe Wortfetzen, unverständlich, lauter werdend. Mit einem Schlag wurde die Tür aufgestoßen, Torsten stürmte laut fluchend in den Raum, dicht gefolgt von Jens. Einige schwarze Schatten waren mit den beiden hereingehuscht, was Manuela hysterisch aufschreien ließ. Sofort nachdem Jens im Raum war, schob Torsten die Tür wieder zu. »Verdammte Scheiße, diese Drecksviecher sind höllisch aggressiv.«
Manuela war nun auf dem Tisch aufgesprungen und begann hektisch darauf herumzulaufen: »Nein! Nicht! Geht weg! Hilfe! Helft mir! Hilfe! Sie beißen mich. Weg! Weg!«, schrie sie außer sich.
»Hör auf«, brüllte Torsten gegen sie an, doch Manuela schien ihn gar nicht wahrzunehmen, schrie immer lauter.
Torsten packte Manuela am Unterarm und zog sie mit einem Ruck grob zu sich herunter. Sie landete in der Hocke, fiel dann auf die Knie und stieß einen Schmerzenslaut aus. Torsten ignorierte es, sein Gesicht war nur noch Zentimeter von ihrem entfernt, als er sie anbrüllte: »Halt sofort dein verdammtes Maul, oder ich stopfe es dir.« Manuela verstummte schlagartig. Sie starrte Torsten mit weitaufgerissenen Augen an, ihre Brust hob und senkte sich schnell. Selbst das hektische Getrippel der Ratten beachtete sie nicht.
Sekundenlang starrten die beiden sich an, während Frank sich langsam aus seiner Erstarrung löste. Er hatte befürchtet, Torsten würde Manuela ernsthaft verletzen, und war drauf und dran gewesen dazwischenzugehen. Manuelas Mundwinkel begannen zu zittern, dann sank sie in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Frank wollte zu ihr, doch wieder stockte er. Torsten zog Manuela langsam zu sich hoch. »Hey, schon gut. Alles gut. Das musste sein. Sie tun dir nichts.« Es klang unbeholfen, so, als habe Torsten keine Erfahrung mit tröstenden Worten, und noch unbeholfener sah es aus, als er ihr die freie Hand auf den Kopf legte und wiederholte: »Alles ist gut.«
Auf Frank wirkte das eigenartig, fast skurril. Dort stand dieser Kerl, der bisher keine Gelegenheit ausgelassen hatte, seine gehässigen Kommentare gegen sie alle abzulassen, der Manuela gerade noch grob am Arm gepackt und sie angebrüllt hatte. Und jetzt versuchte er, ihr Trost zu spenden. Torsten wurde von Minute zu Minute unberechenbarer.
»Au! Verdammter Mist«, stieß Jens aus und stampfte mit dem Fuß auf. Es knackte. Unter seinem Schuh hatte er eine Ratte zerquetscht. Das Geräusch jagte Frank einen Schauer über den Rücken. Verzweifelt kämpfte er dagegen an, sich übergeben zu müssen.
»Das Mistvieh hat mich gebissen. Diese elenden, verdammten Drecksviecher.« Wieder trat Jens zu, traf die nächste Ratte aber offensichtlich nicht richtig, denn sie quietschte auf und huschte davon. Manuela hatte den Kopf gehoben und gab leise winselnde Geräusche von sich, während sie Jens beobachtete. Torsten schob sie ein Stück von sich weg und betrachtete ihr Gesicht. »Alles okay?«
Als sie zaghaft nickte, ließ er sie los und wandte sich Frank zu. »Ihr habt die Durchsage auch gehört, schätze ich.«
»Ja, haben wir.«
»Und? Habt ihr eine Idee, was der Kerl von uns will?«
Frank sah zu Manuela. Sie hatte sich wieder auf die Tischplatte gesetzt und die Beine angezogen. Die Arme hatte sie um die Unterschenkel geschlungen und die Wange auf die Knie gelegt. Sie wirkte apathisch.
»Ich denke, jemand von uns hat damals wohl etwas getan, irgendetwas, was für diesen Kerl falsches Spiel bedeutet.«
»Aha. Und was heißt das jetzt deiner Meinung nach für die Aufgabe?«
»Das heißt, jeder von uns kann gemeint sein. Deshalb sollte sich jeder überlegen, was das sein könnte. Woher dieser Kerl diese Information haben könnte. Und dann den anderen von seinem vermeintlich falschen Spiel erzählen.«
»Ah, wir spielen also eine Runde Sag die Wahrheit. Und? Fällt dir dabei was auf, Fränkie?« Torsten ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Bestimmt, oder? Der Kerl muss alles hören, was wir uns erzählen, sonst kann er nicht wissen, ob der, den er meint, auch das erzählt, was er erzählen soll. In diesem Scheißbau muss es überall Mikrophone geben, er hört also die ganze Zeit unsere Gespräche mit.«
Frank nickte. »Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.« Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.«
»Dieses Arschloch. Und woher er seine Informationen hat, liegt doch auf der Hand. Ich bleibe dabei: Es ist Festus, der dieses Scheißspiel mit uns treibt.«
»Er ist tot, verdammt.«
Torsten schüttelte den Kopf. »Ist er nicht.«
Frank sah zu Jens hinüber, der sich an die Wand gelehnt hatte und ihr Gespräch teilnahmslos verfolgte, gerade so, als hätte er mit all dem nichts zu tun.
»Das passt doch nicht zusammen«, fuhr Frank fort. »Wenn das wirklich Festus wäre, warum sollte er dann ausgerechnet demjenigen einen seiner dämlichen Punkte geben, der damals angeblich falsch gespielt hat? Was ist das denn für eine Logik?«
»Die Logik eines Idioten«, antwortete Torsten. Dem wusste Frank nichts mehr entgegenzusetzen.
Torsten schaltete sein Telefon an und hielt es so in die Höhe, dass der Betonboden angeleuchtet wurde. »Ich schlage vor, wir kümmern uns erst mal um die Ratten hier drin.«
Mit einem Seitenblick stellte Frank fest, dass Manuela sich nicht regte. »Ja, scheuchen wir sie nach nebenan in den Waschraum und schließen die Tür.«
Sie begannen die Tiere – es waren ungefähr zwei Dutzend – in Richtung Waschraum zu treiben. Auch Jens erwachte nun aus seiner Erstarrung und half ihnen. Allerdings gab er sich nicht damit zufrieden, die Ratten vor sich her zu treiben, sondern versuchte, sie zu zertreten. Er schaffte es, eine in eine Ecke zu drängen, und trat sofort zu. Wieder fuhr Frank unter dem schmatzenden Geräusch zusammen. »Muss das sein?«, fuhr er Jens an.
»Ja, muss es«, antwortete der. »Zwei der Viecher haben mich gebissen.«
Schließlich hatten sie es geschafft, und Frank schloss schnell die Tür, bevor die Tiere wieder zurücklaufen konnten. Torsten klatschte in die Hände. »Das wäre erledigt, die Viecher sind wir erst mal los. Kümmern wir uns jetzt um die Aufgabe.«
Manuela hatte sich wortlos aufgerichtet. Nun schob sie sich ein Stück nach vorne und ließ die Beine vom Tisch baumeln, den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Frank schob sich einen Stuhl schräg neben ihr zurecht und setzte sich.
»Ihr seid also wegen der Aufgabe zurückgekommen?«
»Ja. Diese Blechstimme hat doch gesagt, man muss allen was erzählen, sonst gibt es keinen Punkt. Also tun wir uns für diese Aufgabe noch mal zusammen.«
»Wo ist das Stethoskop?«
»Was?«
Frank lehnte sich nach vorne und legte die Unterarme auf dem Tisch ab. »Ich denke, du hast mich verstanden. Der Punkt gehört dir nicht.«
Auch Manuela wandte sich nun Torsten zu und sah ihn erwartungsvoll an.
»Erst möchte ich wissen, was jeder zu beichten hat. Und weil unsere kleine Manu das Stethoskop haben möchte, fängt sie am besten gleich mal an.«
Bevor Frank Torsten auffordern konnte, nicht vom Thema abzulenken, sagte Manuela ohne Zögern mit monotoner Stimme: »Ich habe damals vielleicht jemandem von der Sache mit Festus erzählt. Einem Psychotherapeuten. Er hat mich hypnotisiert. Da war ich 18. Zufrieden?«
»Wie, vielleicht? Hast du oder hast du nicht?«
Der Blick, mit dem sie Torsten ansah, wirkte leer, ihre Stimme blieb monoton. »Ich weiß es nicht. Er sagte, ich hätte wohl ein traumatisches Erlebnis gehabt. Ob er damit das mit Festus meinte, weiß ich nicht. Ich bin danach nicht mehr hingegangen.«
»So, du hast es also weitererzählt. Und Fränkie hatte mich in Verdacht. Da sieht man mal wieder, dass Frauen geschwätzig sind.«
»Ich weiß nicht, ob ich es ihm gesagt habe«, protestierte Manuela aufgebracht, und nun war aus ihrer Stimme alle Monotonie verschwunden. »Und wenn ich es erzählt habe, dann war es unter Hypnose. Dafür kann ich nichts.«
»Ja, ich weiß. Frauen können nie was für ihr Geschwätz.«
Frank wunderte sich ein weiteres Mal über Torstens Sprunghaftigkeit. Erst brüllte er Manuela an und kugelte ihr fast den Arm aus, dann nahm er sie tröstend in den Arm und streichelte ihr den Kopf, um sie nur Minuten später wieder seine ganze Gehässigkeit spüren zu lassen.
Torsten sah sich in dem nur noch von Manuelas Telefon schwach beleuchteten Raum um. Er selbst hatte sein Telefon zwischenzeitlich ausgeschaltet. Sein Blick glitt über die Wände, zur Decke, zum Boden.
»Na, Festus?«, sagte er laut. »Hast du zugehört? War es das? Bekommt die kleine Manu jetzt den Punkt dafür, dass sie ihr Versprechen uns gegenüber gebrochen hat?«
Es folgte keine Reaktion, aber damit hatte Frank auch nicht gerechnet. Womit er jedoch gerechnet, was er sogar befürchtet hatte, das trat im nächsten Moment ein, als Torsten sich ihm zuwandte und sagte: »Na los, Fränkie. Du bist dran. Was ist dein dunkles Geheimnis? Sag die Wahrheit.«
Frank widerstand dem ersten Impuls, Torsten zu fragen, warum er nicht selbst zuerst erzählte. Aber es gab nur eines, was der Kerl meinen konnte, der ihnen diese Aufgabe gestellt hatte. Auch wenn Frank sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie er davon erfahren haben sollte. Er überlegte, wie er es am besten erklärte, warf Manuela noch einen Blick zu, den ihre müden Augen kaum erwiderten, und fing an, den anderen zu erzählen, was er damals getan hatte, als er wieder zu Hause war.