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– 04:54 Uhr

»Als Torsten mir vorhin die Fahne und damit den zweiten Punkt vor der Nase weggeschnappt hat, ist mir der Gedanke gekommen, dass er diesen Punkt ja gar nicht mehr brauchen würde, wenn er schon den von Jens hätte. Denn dann hätte er mit dem Stethoskop doch schon zwei. Warum sollte er sich also die Mühe mit der Fahne machen?«

»Das heißt, du denkst, es war nicht Torsten, der Jens das angetan hat?«

»Das weiß ich nicht, aber selbst wenn er es war, könnte es doch sein, dass er gestört worden ist, bevor er den Punkt gefunden hat. Vielleicht sogar durch uns.«

Manuela sagte erst einmal nichts, und Frank ließ ihr Zeit, darüber nachzudenken. Insgeheim hoffte er, sie würde den Vorschlag machen, in Jens’ Taschen nachzusehen. Dann würde er sich vielleicht deswegen weniger schäbig vorkommen, weil er selbst zuvor drauf und dran gewesen war, es zu tun.

»Wie dem auch sei«, sagte sie stattdessen. »Unsere zwei Punkte hat Torsten auf jeden Fall, und wir müssen sie uns zurückholen.«

Er hätte es wissen müssen. Natürlich teilte Manuela seine hinterhältigen Gedanken nicht. Sie käme wahrscheinlich nie auf die Idee, einen Verletzten auch noch zu bestehlen. Nicht so wie er.

»Ja, gut«, sagte Frank, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. »Bleibt die Frage, wie wir das anstellen sollen.«

»Wir müssen uns was einfallen lassen.«

Danach schwiegen sie. Frank suchte krampfhaft nach einer Idee, wie sie Torsten die Punkte abnehmen konnten, aber es wollte ihm nicht gelingen, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder schoben sich Bilder von Festus in seine Gedanken, aber sie waren anders als die, die ihn die ganzen Jahre über gequält hatten. Jetzt sah er Festus nicht mehr lachend auf dem Dach der alten Fabrik stehen, das plötzlich unter ihm nachgab. Er sah nicht mehr die übergroßen, vor Schreck geweiteten Augen, bevor das bleiche Gesicht auf dem Sturz nach unten hinter dem Giebel verschwand. Nein, nun sah er Festus mit zerschundenen und verdrehten Gliedmaßen zwischen den Trümmern liegen, die stumpfen Augen gebrochen, einen dünnen roten Blutfaden am Mundwinkel.

»Hast du es irgendwann einmal geschafft, nicht daran zu denken? Es fast vergessen?«

Es schien Manuela also ähnlich zu gehen wie ihm selbst. Auch ihre Gedanken kreisten offenbar wieder um Festus.

»Nein«, antwortete Frank wahrheitsgemäß. »Es gab Momente, in denen ich glaubte, besser damit klarzukommen. Aber vergessen habe ich es nie. Und das werde ich auch nie.«

»Ich auch nicht. Manchmal habe ich geglaubt, ich werde verrückt, wenn ich wochenlang nicht schlafen konnte, weil jedes Mal sein Gesicht vor mir aufgetaucht ist, sobald ich die Augen geschlossen habe. Und wenn ich kurz einschlief, wachte ich Minuten später aus einem Albtraum schreiend auf.«

Wieder entstand eine Pause, dann fragte sie: »Machst du dir eigentlich Vorwürfe, weil du damals als Anführer entschieden hast, dass wir abhauen?«

Frank spürte einen Stich in der Brust, und der kam nicht von den gebrochenen Rippen. »Ich … Ja, natürlich tue ich das. Auch wenn ich mir selbst immer wieder sage, dass das mit dem Anführer Quatsch ist. Ich war genauso alt wie ihr, wir waren Kinder. Und keiner von uns hat etwas unternommen, weil wir alle Angst hatten. Keiner. Es ging um ein Menschenleben. Wenn einer von euch anderer Meinung gewesen wäre, hätte er das gesagt.«

»Ich wollte etwas tun, ich habe euch das auch gesagt.«

Frank versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen, aber die gebrochenen Rippen schmerzten noch immer höllisch. »Ach komm, Manuela, du bist damals genauso abgehauen wie wir anderen. Wenn es dir ernst damit gewesen wäre, Festus zu helfen, dann hättest du dich uns nicht so schnell angeschlossen.«

Ein Rascheln deutete darauf hin, dass Manuela ihre Position veränderte. »Das ist nicht wahr. Ihr drei wolltet weglaufen und alles vertuschen, weil ihr Angst vor den Konsequenzen hattet, wenn herausgekommen wäre, warum Festus da oben herumgeklettert ist. Ihr hättet doch niemals zugelassen, dass ich alles erzähle.«

»Sag mal, willst du damit sagen, dass ich an der ganzen Sache allein schuld bin, weil ich damals so etwas wie euer Anführer war?« Franks Stimme zitterte. Manuela zögerte einen Moment, dann erwiderte sie: »Nein, nicht so. Aber … eine gewisse Verantwortung hattest du schon. Du warst nun mal der Anführer, egal wie du das heute siehst, und du hättest diese ganze bescheuerte Mutprobe von vornherein verhindern können.«

»Torsten hätte das auf jeden Fall durchgezogen, es war schließlich seine Idee, und er war ganz versessen darauf.«

»Da bin ich mir nicht sicher. Festus wollte dazugehören. Zu uns, und im Besonderen zu dir. Er hat zu dir aufgesehen, weil du der Anführer warst. Er hat dich regelrecht bewundert. Ich bin mir sicher, hättest du da nicht mitgemacht, wäre Festus niemals auf die Idee gekommen, diese Mutprobe tatsächlich zu versuchen. Er hat das getan, um dir zu imponieren.«

»Was?« Franks Oberkörper straffte sich unter Schmerzen. Das Gespräch ging in eine Richtung, mit der er nicht gerechnet hatte. »Was redest du denn da? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Und was soll bitte der Blödsinn, Festus hätte mich bewundert? Er wollte in die Bande, das ist alles. Und dafür hat er diese Scheißmutprobe gemacht. Die Torsten sich ausgedacht hat, nicht ich. Und die alle akzeptiert haben, auch du.«

»Du weißt genau, dass ich recht habe, Frank. Sei endlich mal ehrlich zu dir selbst.«

Er erinnerte sich gut, verdammt gut. Und er wusste auch, dass Manuela zumindest teilweise recht hatte. Aber er fand es unfair, dass sie das ausgerechnet jetzt zur Sprache brachte. Aber er würde sich von jemand, der damals mit dabei war und mitgemacht hatte, jetzt nicht die alleinige Schuld in die Schuhe schieben lassen. »Denkst du wirklich, ich bin schuld an dieser ganzen Sache?«

»Nein, aber ich denke, du hättest es am ehesten verhindern können. Und ja, du bist schuld, dass wir damals abgehauen sind und nicht nach ihm gesehen haben.«

»Aber das hätte doch sowieso nichts mehr geändert. Verdammt nochmal, als wir gefahren sind, war Festus schon tot. Wir hätten ihm nicht mehr helfen können.«

»Wusstest du das damals?«

Frank brauchte einen Moment, dann sagte er leise: »Nein.«

»Weißt du es heute sicher?«

»Ja, natürlich, Jens hat es uns doch erzählt.«

»Und was denkst du, wer dieses Spiel mit uns treibt?«, wechselte Manuela nach einer kurzen Pause das Thema.

»Ich habe keine Ahnung, aber der Kerl muss ein Psychopath sein.«

»Könnte nicht Jens’ Vater dahinterstecken?«

Frank wunderte sich, dass Manuela jetzt den gleichen Gedanken zur Sprache brachte wie Torsten. Er hob reflexartig die Schultern, obwohl Manuela das nicht sehen konnte. »Ich weiß es nicht. Aber weshalb sollte er so etwas machen? Wieso all die Jahre später? Er müsste doch mittlerweile Mitte siebzig sein. Nein, ich kann mir das nicht wirklich vorstellen. Außerdem wissen wir gar nicht, ob er noch lebt.«

»Aber wer käme sonst in Frage? Denkst du, dein Vater hat jemandem davon erzählt?«

Frank stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Mein Vater? Niemals. Der hätte sich eher die Zunge abgebissen. Auch als er schon pensioniert war. Das passte nicht in sein Weltbild, und bei meinem Vater galt, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Zumindest nach außen. Nein, von ihm hat niemand etwas erfahren. Und was ist mit deinem Psychiater?«

»Psychotherapeut«, korrigierte sie ihn. »Ich weiß es nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich ihm in Hypnose überhaupt davon erzählt habe. Aber selbst wenn, er hat doch Schweigepflicht. Außerdem – warum sollte jemand, der uns alle gar nicht kennt, dieses Spiel mit uns treiben?«

»Bleibt noch Torsten als großer Unbekannter«, stellte Frank fest. »Er ist der Einzige, der nichts von sich erzählt hat. Wir wissen gar nichts von ihm. Das hat er wirklich gut hinbekommen. So gesehen, hat er alle Trümpfe in der Hand. Er weiß Dinge über uns, wir aber nichts über ihn.«

»Vielleicht hat er ja wirklich mit dieser ganzen Sache zu tun?«

»Aber warum? Was hätte er da…«

»HÖRT, SPIELER, WAS ICH EUCH ZU SAGEN HABE.«

Frank verstummte augenblicklich. Die letzte Aufgabe … Er hielt unbewusst den Atem an. Die Sekunden reihten sich scheinbar endlos aneinander, ohne dass etwas geschah.

»Nun red schon, verdammt«, presste Frank gedämpft hervor.

Als wäre die Aufforderung angekommen, ertönte die blecherne Stimme erneut:

»DIE SPIELREGELN HABEN SICH GEÄNDERT. IN DREI STUNDEN WIRD DIE EINGANGSTÜR SICH FÜR ZWEI SPIELER ÖFFNEN. SIE SIND FREI UND KÖNNEN ZU IHREN FAMILIEN NACH HAUSE GEHEN.«

Klick. Stille.

»Was? Das wissen wir doch schon, das ist doch …«

»Nun sei doch mal still«, herrschte Manuela ihn an, woraufhin Frank tatsächlich sofort verstummte.

Erneut herrschte Stille, die Sekunden verstrichen quälend langsam.

»DIE PUNKTE SIND AB SOFORT UNGÜLTIG. NUR ZWEI VON EUCH ÜBERLEBEN. NUR ZWEI.«

»Was zum Teufel …«, stieß Frank aus.

»LEBEN BEI SPIELENDE MEHR ALS ZWEI VON EUCH, WERDEN ALLE STERBEN, AUCH EURE FAMILIEN. HIER IST DEINE AUFGABE, SPIELER:

ÜBERLEBE, UND SORGE DAFÜR, DASS NICHT MEHR ALS ZWEI SPIELR DIE EINGANGSTÜR LEBEND ERREICHEN.

FÜR FESTUS.«

Das Rachespiel
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