12
– 18:48 Uhr
Dieses Mal nahmen sie den Gang, der auf der anderen Seite des Raumes vor der Schleuse begann. Auch hier leuchteten die Türumrahmungen grün, allerdings kam es Frank jetzt so vor, als sei das Licht der Rahmen schwächer geworden. Er hoffte inständig, dass er sich täuschte, und behielt diese Beobachtung daher erst einmal für sich.
»Hier war ich schon«, sagte Torsten, als sie am Ende des Ganges nach rechts abbogen. »Im Dunkeln sieht zwar alles ganz anders aus, aber ich glaube, da vorne müsste es einen kleineren Kartenraum geben. Da steht ein Tisch drin mit Stühlen. Daneben gibt es auch einen Waschraum.«
»Wozu sollten wir den denn brauchen?«, bemerkte Jens.
»Vielleicht, um irgendwann mal einen Schluck Wasser zu trinken, du Klugscheißer?«
»Ach so, ja, okay.«
»Also gut, geh vor.« Frank blieb stehen und wartete, bis Torsten an ihm vorbei war. Sie bogen noch einmal ab, dann versuchte Torsten, den Raum wiederzufinden, von dem er gesprochen hatte, aber entweder waren die Türen verschlossen, oder in den Räumen dahinter gab es keine Stühle. Frank fragte sich schon, ob sie den Raum überhaupt finden würden, als Torsten rief: »Hier sind wir richtig.«
Der Raum maß etwa fünf mal fünf Meter, und in der Mitte stand tatsächlich ein Tisch mit mehreren Stühlen. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein weiterer Durchgang mit grün leuchtender Umrandung. Frank fühlte sich von dem phosphorgrünen Schimmer, der über allem lag, ein wenig an eine Diskothek aus seiner Jugendzeit erinnert. Dort hatte es Nischen gegeben, in denen ähnliche Lichtverhältnisse geherrscht hatten. Gerade hell genug, sein Gegenüber wahrzunehmen, aber zu dunkel, um Einzelheiten an ihr oder ihm erkennen zu können.
Mittlerweile war er sich sicher, dass das Leuchten der Phosphorfarbe nachließ.
Stühle wurden mit einem scharrenden Geräusch zurückgeschoben. Die hölzerne Sitzfläche ächzte und knackte bedrohlich, als Torsten sich Frank gegenüber auf einem Stuhl niederließ. Schließlich saßen alle, und es legte sich Stille über den Raum, die nur von ihrem Atem und hier und da von entferntem Rascheln und Kratzen unterbrochen wurde. Frank spürte, dass die Kälte ihm unaufhörlich in die Knochen kroch, und er fragte sich, wie sie das die ganze Nacht ohne warme Kleidung aushalten sollten. Aber das war nur eines von vielen Problemen.
Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, glaubte Frank, ganz in der Nähe das hektische Trippeln kleiner Füße zu hören.
»Also, wie ist jetzt der Plan?« Torstens Stimme, die nach der Stille unverhältnismäßig laut erschien, klang fordernd. Als sein Gesicht plötzlich von einem hellen Schein angestrahlt wurde, fielen alle Blicke auf ihn. Er hielt sein Telefon in der Hand, hob den anderen Arm und drehte das Gerät dann so, dass das Licht auf seine Armbanduhr fiel.
»Gleich sieben. Wir haben noch dreizehn Stunden. Ich schlage vor, wir konzentrieren uns zusammen auf die Aufgabe und versuchen erst mal, das zu finden, was wir finden sollen. Wenn es irgendwo einen zweiten Ausgang gibt, entdecken wir ihn bei der Suche vielleicht sowieso. Dieses Schwein bedroht meine Tochter, und wenn uns nicht bald was einfällt, werde ich mir wohl alleine was überlegen müssen.«
»Was meinst du damit: alleine überlegen?«, fragte Jens.
»Wonach hört es sich denn an, Kupfer?«
Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die Frank nicht gefiel. »Ich finde, Torsten hat recht, gehen wir es gemeinsam an, das erhöht die Chancen. Weiß einer noch den genauen Wortlaut der Aufgabe? Ich habe das Gefühl, bei dieser Art von … Rätsel kommt es auf jedes Wort an.«
»Das war so was wie: Mir ist schlecht, ich habe eine Ratte im Herz«, gab Torsten mürrisch seine Version zum Besten.
»Mir schwinden die Sinne. Nah am Herzen habe ich das Gesicht einer Ratte.« Es klang fast gelangweilt, wie Manuela das Rätsel herunterbetete. »Ich habe es mir gemerkt.«
Frank erinnerte sich nun auch wieder. Er nickte. »Ja, und darunter hieß es: Finde, was du finden sollst. Fragt sich, was damit gemeint sein könnte. Was sollen wir finden?«
»Und wer bekommt den Punkt, wenn wir das gemeinsam machen?« Wieder war es Jens, der auf die Punkteverteilung zu sprechen kam. Frank wusste, dass sie das nicht länger von sich wegschieben konnten, dafür ging es um zu viel.
»Der, der das, was wir finden sollen, als Erster hat, bekommt den Punkt«, war Torstens pragmatischer Lösungsansatz, der jedoch aus Franks Sicht nicht funktionieren konnte. »Und auf den letzten Metern schubsen wir uns gegenseitig zur Seite, um als Erster am Ziel zu sein?«
»Na und?«, machte Torsten. »Von mir aus können wir das so machen.«
»Ich wäre an deiner Stelle nicht so sicher, dass das eine gute Lösung für dich ist«, warf Manuela ein. »Vielleicht kann das, was du als Vorteil siehst, auch hinderlich sein.«
»Was meinst du damit?«
Manuela schob ihren Stuhl geräuschvoll ein Stück zurück, und Frank sah, dass sie sich zurücklehnte, als sie mit provokanter Stimme sagte: »Ich an deiner Stelle würde nicht ausschließen, dass man in diesem Bunker vielleicht auch durch enge Gänge kriechen muss, um das zu finden, was wir finden sollen. So eng, dass man nur mit einer normalen Figur da durchkommt.«
Frank hielt unwillkürlich die Luft an. Es dauerte einen Moment, dann lachte Torsten gekünstelt auf. »Mach dir mal keine Sorgen, ich komme überall durch.«
»Also gut«, sagte Frank schnell und wagte nicht, sich vorzustellen, wie die Stimmung unter ihnen in zwei, drei Stunden sein würde. »Ich schlage vor, wir bilden zwei Teams. Eines schaut sich hier oben um, das andere eine Etage tiefer. Vielleicht fällt uns ein, was gemeint sein könnte, wenn wir es vor uns sehen?«
»Ich gehe mit dir«, sagte Manuela, noch bevor sich jemand zu dem Vorschlag äußern konnte. Frank wunderte sich, dass sie mit einem Mal so bestimmt war, aber wahrscheinlich hatte der Film über ihre Familien auch bei ihr seine Spuren hinterlassen.
Torsten klatschte laut in die Hände, so dass Frank unwillkürlich zusammenfuhr. »Soll mir recht sein, dann gehe ich mit Kupfer nach unten.« Wieder ein Klatschen. »Also los.«
»Kannst du das bitte sein lassen?« Frank merkte, dass es heftiger geklungen hatte als beabsichtigt.
Torsten, der gerade seinen Stuhl zurückschob, hielt in der Bewegung inne, wie Frank an seinen schemenhaften Umrissen erkennen konnte. »Was?«
Frank atmete zwei-, dreimal langsam ein und wieder aus. Er wusste, er musste sich zusammenreißen, wenn er eine Eskalation vermeiden wollte, aber es fiel ihm schwer, den stärker werdenden Ärger zu unterdrücken. »Ich habe dich gebeten, mit dieser Klatscherei aufzuhören. Du würdest mir damit wirklich einen großen Gefallen tun.«
Er konnte in der dunklen Fläche, die Torstens Gesicht sein musste, keine Regung ausmachen.
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich dir einen Gefallen tue, Fränkie?«
Frank antwortete nicht. Er stand auf und ging zur Tür, durch die sie hereingekommen waren. Als er in den Gang hinausgetreten war, schob sich von hinten jemand an ihn heran und griff seinen Arm. »Ich möchte nicht mit Torsten da runtergehen.« Frank drehte sich zu Jens um, der so nah vor ihm stand, dass er ihm trotz des wenigen Lichts in die Augen sehen konnte. »Ich trau ihm nicht. Er ist …«
»Wem traust du nicht, Kupfer?«, polterte Torsten hinter ihnen los.
»Das … das hat nur was mit dieser Situation zu tun, ich möchte einfach …«
»Was? Möchtest du dir vielleicht einfach nicht in die Hose kacken aus Angst vor dem bösen Torsten? Weil ich kein verlogener Heuchler bin, sondern ehrlich sage, was mir nicht passt?«
»Na ja, wie du damit umgehen kannst, wenn jemand anderes ehrlich sagt, was ihm an dir nicht passt, haben wir ja gerade erlebt«, sagte Frank gegen alle Vernunft, und er hätte sich in der nächsten Sekunde dafür auf die Zunge beißen können. Jens wurde mit einem Ruck zur Seite gedrückt, dann stand Torsten vor Frank. »Hör gut zu, Fränkie«, presste er zwischen den Zähnen hervor und stieß Frank dabei seinen säuerlich riechenden Atem ins Gesicht. »Das sind keine Bandenspielchen mehr von kleinen Jungs wie damals, und du kannst es vergessen, hier den Anführer zu spielen. Das ist bitterer Ernst. Mir geht es allein um das Leben meiner Tochter, und dabei scheiß ich drauf, was irgendwer möchte oder denkt. Entweder uns fällt zusammen was ein, wie wir dieses Dreckschwein überrumpeln können, oder ich werde mir verdammt nochmal diese zwei dämlichen Punkte holen und morgen früh hier rausspazieren und zu meiner Tochter nach Hause fahren. Und bis dahin klatsche ich so oft in die Hände, wie es mir passt, klar?«
Torstens Gesichtszüge waren wutverzerrt, was durch den schwachen grünlichen Schein rings um die Tür noch unterstrichen wurde. Frank wusste, Torsten wartete nur darauf, dass er jetzt etwas Falsches sagte, um seiner aufgestauten Aggression Luft machen zu können. Er musste sich zugestehen, dass er in diesem Moment Angst vor Torsten hatte. So wie er vor ihm stand, musste man ihm alles zutrauen. Andererseits durfte er keine Schwäche zeigen, wenn er vermeiden wollte, dass Torsten sie von nun an nur noch terrorisierte.
»Es ging auch damals um ein Leben, das weißt du.«
Torsten nickte. »Ja, und wenn er damals gestorben wäre, was ich mittlerweile nicht mehr glaube, dann hättest hauptsächlich du das zu verantworten gehabt. Du warst damals schließlich der Anführer.«
»Das stimmt so nicht«, sagte Frank so beherrscht wie möglich, doch das Salz, das Torsten gerade mit Genuss in einer offenen Wunde verrieb, schmerzte höllisch. »Es bringt nichts, über Dinge zu streiten, die damals geschehen sind. Wer auch immer hinter dieser Sache steckt, das ist doch genau das, was er bezweckt. Dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Er rechnet wahrscheinlich sogar fest damit. Lass uns die Sache zusammen angehen, dann sehen wir weiter. Die Nacht ist noch lang.« Er warf einen kurzen Blick an Torsten vorbei, dorthin, wo die beiden dunklen Gestalten von Jens und Manuela so dicht beisammenstanden, dass sie zu einem bizarren Gebilde verschmolzen. Er dachte an die panische Angst, die Manuela vor den Ratten gehabt hatte, und daran, dass der Kerl die Tiere auf der Ebene freigelassen hatte, auf der sie sich gerade befanden. »Ich schlage vor, wir schauen uns erst mal gemeinsam unten um, bevor wir uns diese Ebene noch mal vornehmen, einverstanden?«
Jens murmelte etwas, das Frank nicht verstehen konnte, weil Torsten sagte: »Okay, gehen wir. Ich weiß, wie wir von hier am schnellsten zu dem Eingangsraum mit der Treppe zurückkommen.«
Frank warf noch einen letzten Blick zu Jens und Manuela und folgte dann Torstens massiger Gestalt. Seine Worte hallten noch immer in ihm nach.
Wenn er damals gestorben wäre, dann hättest hauptsächlich du das zu verantworten gehabt.
Und Frank war sicher, dass Festus damals unmöglich überlebt haben konnte.