15

– 20:27 Uhr

»Sollen wir es den anderen sagen?«

Sie hatten sich auf den Rückweg gemacht, nachdem sie festgestellt hatten, dass es in dem Behandlungsraum keinerlei Verbandsmaterial gab. Frank hatte mit einer Schere, die er schon vor dem Stethoskop in einer der Schubladen entdeckt hatte, einen Schlitz in die Mitte der Decke geschnitten und sich das grobe Material wie einen Poncho über den Kopf gezogen. So rutschte sie ihm nicht immer wieder von den Schultern. Er blieb stehen und wandte sich Manuela zu. »Natürlich werden wir es ihnen sagen. Wir sind doch alle in der gleichen beschissenen Situation.«

»Denkst du, die wird besser, wenn Torsten und Jens wissen, dass wir den ersten Punkt gefunden haben?«

»Ich weiß es nicht.« Er dachte an Torstens Worte, und ihm fiel auf, dass das Gespräch mit Manuela gerade einen ähnlichen Verlauf zu nehmen schien. Dann aber zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Schon gut. Ich hab ja nur gefragt.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe an meinen Sohn gedacht. Und daran, dass er nicht sterben darf. Ich … ach, ich weiß nicht, ich habe einfach wahnsinnige Angst um ihn, verstehst du das?«

Frank glaubte in dem schummrigen Licht seines Handydisplays zu erkennen, dass ihre Augen feucht glänzten. »Ich habe eine Frau und eine Tochter, Manu. Ja, ich verstehe dich.«

»Ich traue Torsten nicht. Er ist wie ein Bulldozer, und er wird irgendwann nicht mehr zögern, seine Kraft gegen uns einzusetzen. Du hast doch gehört, wie er denkt. Und wenn wir beide jetzt mit dem ersten Punkt ankommen … Ich traue ihm einfach alles zu.«

Frank fiel der Moment ein, als Torsten von seiner Suche nach Jens und Manuela zurückgekommen war. Er zögerte noch einen Moment, wusste nicht, ob es gut war, Manuela von den Gedanken zu erzählen, die er sich gemacht hatte und noch immer machte, aber das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen, siegte.

»Bevor Torsten die Nachricht auf den Boden geschrieben hat, dass wir schon wieder oben sind, hat er euch gesucht. Allein. Ich bin in diesem Werkraum geblieben für den Fall, dass ihr vor ihm dort wieder auftaucht. Er … er hat einen Schraubenschlüssel mitgenommen, zur Sicherheit. Als Waffe.«

Frank machte eine Pause, sah zu seinen Schuhspitzen, und bereute, dass er damit angefangen hatte, doch er konnte Manuelas Gesicht ansehen, dass sie schon ahnte, was er andeuten wollte. »Einen Schraubenschlüssel. Denkst du, er hat Jens damit auf den Kopf geschlagen?«

Frank sah ihr in die Augen. »Ich habe daran gedacht, ja. Als er zurückkam, hatte er den Schraubenschlüssel nicht mehr dabei.«

»O mein Gott. Wenn Torsten das einmal versucht hat, wird er es wieder tun. Und jetzt sind die beiden allein. Wir müssen sofort zurück.« Manuela wollte schon aus dem Zimmer stürmen, doch Frank hielt sie am Arm fest. »Nein, warte. Das ist nur ein Verdacht, und es kann sein, dass ich Torsten unrecht tue und er überhaupt nichts mit dem Angriff auf Jens zu tun hat. Wir sollten Jens nichts davon sagen, ich bin mir nicht sicher, wie er reagieren würde. Am Ende eskaliert das Ganze, und das ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.«

Sie standen einen Moment dicht voreinander und sahen sich an, ohne viel erkennen zu können. Schließlich nickte Manuela langsam. »Also gut. Aber wir müssen Torsten im Auge behalten. Niemand von uns sollte mit ihm allein sein. Und jetzt lass uns gehen.«

Hinter der nächsten Abbiegung kamen ihnen Jens und Torsten bereits entgegen.

»Da seid ihr ja.« Torsten baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf. »Was habt ihr so lange gemacht?«

»Wir haben nach Verbandsmaterial für Jens gesucht«, antwortete Frank. »Das weißt du doch.«

»Nein, das weiß ich nicht. Außerdem haben wir uns gefragt, warum unsere liebe Manu unbedingt mitkommen wollte, als sie hörte, dass du zur Krankenstation gehst.« Er neigte seinen massigen Oberkörper ein wenig zur Seite und sah an Frank vorbei zu Manuela.

»Erzähl ihnen, was wir gefunden haben«, sagte Frank ohne sich zu Manuela umzudrehen. Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Als Frank die Krankenstation erwähnte, ist mir die Aufgabe wieder eingefallen: Mir schwinden die Sinne. Ich habe mir überlegt, wohin man geht, wenn einem die Sinne schwinden, und mir ist …«

»Zu einem Arzt«, fiel Torsten ihr ins Wort. »Aber natürlich. Unsere schlaue kleine Manu. Und da hast du dir gedacht, du erzählst uns nichts davon und schnappst dir den Punkt mit Frank zusammen.« Torsten klatschte in die Hände, was Frank in dem engen Gang so laut erschien, dass es ihm in den Ohren wehtat. »Das ist an Scheinheiligkeit ja wirklich nicht mehr zu überbieten.«

»Das ist doch Blödsinn«, entgegnete Frank scharf. »Sie hat nichts davon gesagt, weil sie nicht sicher war, ob ihre Vermutung richtig ist.«

»Habt ihr den Punkt?« Torstens Stimme bekam einen lauernden Klang.

»Ja. Es ist ein Stethoskop. Beim Abhören hat man die Membran am Herzen. Darauf wurde ein Aufkleber mit dem Gesicht einer Ratte geklebt.« Frank sah sich nun doch kurz nach Manuela um und wandte sich dann direkt an Torsten. »Wir hätten es euch erzählt, das haben wir eben noch besprochen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Jens tauchte seitlich hinter Torstens breitem Rücken auf. Seine Stimme klang weinerlich. »Und? Wer soll den Punkt jetzt bekommen?«

»Vorerst niemand«, sagte Frank.

»Doch, ich«, sagte fast im gleichen Moment Manuela. »Ich habe die Aufgabe gelöst, also steht mir auch der Punkt zu.«

»Sieh an.« Torsten sprach langsam und leise. »Was sagst du dazu, Fränkie-Boy? Die kleine Manu hat dich dazu benutzt, sie zum ersten Punkt zu führen, und nun möchte sie ihn dir vor der Nase wegschnappen. Na, wie fühlt es sich an, wenn man selbst verarscht wird?«

Frank bemühte sich, seine Verunsicherung über Manuelas plötzlichen Alleingang nicht zu zeigen. »Ich schlage vor, das besprechen wir später. Lasst uns erst mal zurückgehen. Verbandsmaterial haben wir leider keines gefunden. Was macht deine Wunde, Jens?«

»Es hat aufgehört zu bluten.«

Torstens Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, was von der schwachen Displaybeleuchtung zu einer diabolischen Fratze verzerrt wurde. »Die Wunde ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment ausgesehen hat. Wir bleiben also weiter zu viert auf der Jagd nach den Punkten.«

»Ja, Jens hatte großes Glück«, sagte Manuela. »Der Kerl, der ihn erschlagen wollte, hat ihn nicht richtig getroffen. Womit er wohl zugeschlagen hat?«

Franks Magen zog sich zusammen. Die Gefahr, die seit einiger Zeit als allgegenwärtige Drohung über ihnen schwebte, schien von Minute zu Minute zuzunehmen, und Frank wusste, sie ging nicht nur von diesem Wahnsinnigen aus, der sie in der Bunkeranlage eingeschlossen hatte. Er beobachtete Torsten genau, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was in ihm vorging. Er sah, wie sich Torstens Augen verengten. »Was ist das denn für eine blödsinnige Frage? Was spielt es für eine Rolle, womit dieser Irre zugeschlagen hat?«

»Mir ist saukalt«, jammerte Jens. »Ich kann mich kaum noch bewegen. Meine Stirn tut höllisch weh, und ich habe Kopfschmerzen. Können wir endlich zurückgehen in dieses Zimmer mit dem Tisch? Vielleicht können wir ja ein Feuer machen? Hat jemand von euch ein Feuerzeug dabei?«

Frank wunderte sich über Jens’ Naivität. »Das ist keine gute Idee. Wir sind hier in einem Atombunker, es gibt mit Sicherheit überall Rauchmelder. Stell dir vor, die gehen los, und wir können sie weder abstellen, noch kommen wir hier raus.«

»Ein Feuer«, kommentierte Torsten verächtlich. »Nachdenken war noch nie deine Stärke, Kupfer.« Dann wandte er sich an Manuela und streckte die Hand aus.

»Gib mir das Stethoskop.«

Das Rachespiel
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