Damals …

»Seht ihr, ich hab euch doch gesagt, das macht der nie.« Fozzie schaut beifallheischend von einem zum anderen, doch keiner der drei teilt seine offensichtliche Freude. »Ihr werdet sehen, jetzt haben wir Ruhe vor ihm.«

Fränkies Blick ist noch eine Weile auf die Stelle gerichtet, an der Festus mit hängenden Schultern um die Ecke verschwunden ist. Schließlich wendet er sich als Erster ab und geht zurück in das halbverfallene Büro, das ihr Hauptquartier ist. Etwas in seinem Bauch fühlt sich seltsam an, auf einmal ist er schlapp, hat keine Energie mehr. Jeder Schritt fällt ihm schwer. Er kennt dieses Gefühl, das hat er auch, wenn er seine Eltern mal anlügen muss, um einer Strafe zu entgehen.

»War vielleicht doch keine gute Idee«, sagt er leise und lässt sich auf den alten Sessel fallen, aus dessen Sitzfläche auf der rechten Seite eine Feder hervorsteht.

»Der arme Kerl, er tut mir richtig leid«, pflichtet Manu ihm bei.

»Der arme Kerl, er tut mir richtig leid …«, äfft Fozzie sie nach. »Hey, der arme Kerl nervt uns schon seit Wochen mit seinem dämlichen Gestammel. Schon vergessen?« Als wolle er der Erinnerung der anderen auf die Sprünge helfen, steht er auf, steckt sich die Hände in die Taschen und zieht die Hose dann so hoch es geht, was ziemlich dämlich aussieht. Gleichzeitig beugt er sich mit tief herabhängenden Schultern ein Stück nach vorne und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Festus will mitmachen. Mitmachen. Zweifünf.« Seine Stimme klingt tatsächlich fast wie die von Festus. »Zweifünf, zweifünf …«, wiederholt er immer wieder und klatscht dabei lachend in die Hände. Kupfer ist der Erste, dessen Mund sich zu einem Grinsen verzieht, dann kann auch Fränkie sich trotz des blöden Gefühls ein Lachen nicht mehr verkneifen, und schließlich stimmt auch Manu mit ein. Irgendwann beendet Fozzie seine Vorstellung und lässt sich prustend auf die Schaumstoffmatratze fallen, die neben dem Sessel auf dem staubigen Boden liegt.

Als sich endlich alle wieder beruhigt haben, sagt Fränkie: »Trotzdem war es nicht richtig. Aber was soll’s, Fozzie hat schon recht, wahrscheinlich wird Festus es jetzt aufgeben, bei uns mitmachen zu wollen. Na ja, ich muss jetzt jedenfalls nach Hause, sonst bekomme ich Ärger.«

Das seltsame Gefühl in Fränkies Bauch verschwindet auf dem Nachhauseweg nach und nach, und als sein Vater während des Abendessens den Vorschlag macht, dass sich anschließend alle zusammen einen Videofilm auf ihrem brandneuen Videorekorder ansehen, hat er Festus und die dämliche Mutprobe schnell komplett vergessen.

 

Am nächsten Morgen wird Fränkie von einem unangenehmen Rütteln geweckt, und es dauert eine Weile, bis er es schafft, die Augen zu öffnen. Seine Mutter sitzt auf dem Bettrand und sagt unentwegt seinen Namen. »Hör auf«, mault er und versucht sich wegzudrehen, aber die Hand seiner Mutter hält ihn an der Schulter fest. »Frank, du musst aufwachen, es ist wichtig. Frank, hörst du?«

»Warum weckst du mich? Wie spät ist es denn?«

»Es ist halb acht, und gerade hat Herr Köhler angerufen, der Vater von Gerd Köhler.«

Mit einem Schlag ist Fränkie hellwach, lässt es sich aber nicht anmerken, sondern blinzelt seine Mutter nur an. »Der Vater von Festus? Was wollte der denn?«

Fränkie ist auf eine Predigt seiner Mutter gefasst. Was ihnen einfalle, dem armen Jungen eine Mutprobe zu stellen, und ob er sich nicht schäme. Doch, er schämt sich.

»Er wollte wissen, ob Gerd vielleicht bei uns ist. Offenbar ist er in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Fränkies Herz beginnt mit seinen Gedanken um die Wette zu rasen. Festus ist nicht nach Hause gekommen? Was hat das zu bedeuten? Ist er nach dieser blöden Mutprobe so enttäuscht gewesen, dass er nicht mehr nach Hause wollte? Aber … wo war er dann die ganze Nacht?

»Weißt du, wo er sein könnte?«, hakt seine Mutter ungeduldig nach, weil er nicht antwortet.

»N … nein. Woher soll ich das wissen?«

»Es hätte ja sein können. Du hast dich doch manchmal mit dem Jungen unterhalten. Seine Familie macht sich große Sorgen um ihn. Er ist doch so unbeholfen.«

Fränkie richtet sich etwas auf und stützt sich mit dem Ellbogen auf der Matratze ab. »Das war doch höchstens ein-oder zweimal in der Schule. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.« Mit der Lüge kommt das Bauchgefühl wieder zurück, dieses elende Drücken in der Magengegend. Gleichzeitig überlegt er, ob der alte Festus nun auch bei Fozzie, Kupfer und Manu anruft oder sogar schon angerufen hat. Haben die anderen das Gleiche gesagt wie er? Oder haben sie zugegeben, dass Festus noch wenige Stunden zuvor bei ihnen gewesen ist?

Warum hat er überhaupt gerade gelogen?

Seine Mutter nickt und erhebt sich. »Ich rufe Herrn Köhler gleich zurück und sage ihm, dass du nicht weißt, wo der Junge ist. Ich bete zu Gott, dass ich es nie erleben muss, dass du einfach nicht nach Hause kommst.«

Fränkie registriert erst nach einer Weile, dass sie stehen geblieben ist und ihn mit zur Seite geneigtem Kopf ansieht. »Ähm … ja, also … nein, das mache ich bestimmt nicht.«

Als sie sein Zimmer verlassen hat, springt Fränkie sofort aus dem Bett und zieht sich in Windeseile an. Er muss sofort mit den anderen reden. Sie müssen Festus suchen. Genau, sie werden eine große Suchaktion starten und erst aufhören, wenn sie ihn gefunden haben. Dann sind alle froh, und sie haben den Quatsch mit der Mutprobe wiedergutgemacht.

Zu Kupfer braucht er mit dem Fahrrad fünf Minuten. Er denkt keine Sekunde darüber nach, dass acht Uhr morgens in den Sommerferien eigentlich keine Zeit ist, zu der man an fremden Haustüren klingelt. Es dauert eine Weile, bis die Tür geöffnet wird, doch zu Fränkies Erleichterung steht Kupfer selbst vor ihm. »Hat der Vater von Festus bei euch angerufen?«, platzt es sofort und ohne Begrüßung aus ihm heraus. Kupfer zieht die Augenbrauen zusammen. »Wer? Der alte Festus? Nö. Warum sollte der hier …«

»Weil Festus letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Er ist verschwunden. Bei uns hat sein Vater eben schon angerufen.«

»Scheiße«, sagt Kupfer und fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Denkst du, das ist wegen … gestern? Was machen wir denn jetzt?«

»Wir starten eine Suchaktion. Los, schnapp dir dein Fahrrad. Wir müssen zu Fozzie und Manu. Und dann ins Hauptquartier. Kriegsrat.«

»Aber ich weiß nicht, ob mein Vater mir das erlaubt.«

»Ist er zu Hause?«

»Nein, aber … Ach, egal, ich komme mit, warte.«

Manu ist ebenfalls schon wach, nur Fozzie liegt noch im Bett. Als seine Mutter hört, dass Festus vermisst wird und sie nach ihm suchen wollen, weckt sie ihn sofort.

Selbst Fozzie ist aufgeregt, als er hört, was passiert ist, und entgegen Fränkies Befürchtungen gibt er keinen gehässigen Kommentar von sich. Auf dem Weg zum Hauptquartier reden sie nicht viel. Jeder hängt seinen Gedanken nach, und Fränkie ahnt, dass die anderen sich die gleichen Fragen stellen wie er selbst.

Sie schieben ihre Fahrräder durch eine Lücke im Zaun und radeln um einen großen Erdhaufen herum. Als die alte Fabrikhalle vor ihnen auftaucht, macht Manu plötzlich eine Vollbremsung, so dass Fränkie ihr fast ins Hinterrad fährt. »Hey, was soll das?«, mault er sie an und bemerkt, dass sie wie gebannt auf etwas vor ihnen starrt. Er folgt ihrem Blick, dann sieht er es auch. Die Lenkstange entgleitet ihm, das Fahrrad kippt zur Seite.

Er merkt es nicht einmal.

Das Rachespiel
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