13
– 19:14 Uhr
Die Sichtverhältnisse waren mittlerweile so schlecht, dass nicht nur Torsten, sondern auch die anderen die Displaybeleuchtungen ihrer Telefone als Taschenlampe benutzen mussten. Frank wunderte sich, dass noch niemand das Nachlassen des grünen Phosphorleuchtens zur Sprache gebracht hatte. Aber er selbst würde sich auch hüten, das zu tun. Schließlich wollte er nicht, dass die anderen in Panik gerieten.
Jens hatte die Wendeltreppe erreicht und tauchte langsam in den offensichtlich sehr engen Treppenzugang ein. Als danach Manuela ihren Fuß gerade auf die erste Stufe setzte, gab es von unten ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem Schmerzenslaut. »Mist«, stieß Jens aus. »Zieht auf dem letzten Stück den Kopf ein, es ist saueng hier.«
Nach Manuela machte sich Torsten an den Abstieg, als Letzter folgte Frank. Die Warnung von Jens noch im Ohr, ging er den engen Bogen nach unten tiefgebückt, was ziemlich anstrengend war.
Im Untergeschoss stellten sie fest, dass die Treppe noch weiter nach unten führte, es gab also mindestens eine weitere Etage.
Frank blieb stehen, wo er war, die Hand noch am Treppengeländer, und sah sich um. Da alle das Licht aus ihren Displays langsam durch den Raum wandern ließen, waren sogar Details erkennbar. Sie befanden sich in einer Art Werkstatt. Es sah aus, als sei kurz zuvor noch dort gearbeitet worden. Gleich neben der Treppe stand eine schwere Werkbank, auf deren dicker Holzarbeitsfläche eine Ansammlung verschiedener Werkzeuge und Gegenstände herumlag. Eine große Kanne, wahrscheinlich aus Zink, dominierte das Chaos aus blauen Plastikkästchen mit Schrauben und Muttern darin, verschieden großen Schraubenschlüsseln, Döschen, Zangen, Draht, einem Hammer und vielen Kleinteilen, die nicht genau zu identifizieren waren. An einer Lochwand darüber hingen sauber nach Größe sortiert weitere Ringschlüssel, Zangen, Feilen und Metallsägen. Der geöffnete Deckel einer großen Holzkiste an der gegenüberliegenden Wand ließ erahnen, dass sich darin weitere, größere Werkzeuge befanden. An Haken darüber hingen zwei graue Werkstattkittel, die gerade von Torstens Display angestrahlt wurden. »Na also, da haben wir doch schon mal was Nützliches«, sagte er, nahm einen der Kittel von der Wand und zog ihn an. »Na los, da hängt noch einer«, forderte er Frank auf und leuchtete mit dem Handydisplay auf den verbliebenen Kittel.
»Wieso soll ausgerechnet Frank ihn bekommen?« Jens erinnerte Frank an Laura, als sie sieben, acht gewesen war und nicht bekommen hatte, was sie wollte. »Weil ich die Kittel entdeckt habe und ihm einen abgebe, Kupfer. So einfach ist das.«
»Aber ich finde …«, setzte Jens an, verstummte aber, als Frank sich in Bewegung setzte und den Kittel vom Haken nahm. Er roch muffig und nach altem Öl oder Fett, aber das war egal. Er würde die Wärme ein bisschen länger im Körper halten. »Hier, zieh ihn an.« Frank hielt den Kittel Manuela hin.
Sie zögerte nur kurz, dann griff sie mit einem dankbaren Lächeln zu und streifte sich den groben Stoff über. Er reichte ihr fast bis zu den Schuhen, die Schulternähte hingen in der Mitte der Oberarme, ihre Hände waren in den viel zu langen Ärmeln verschwunden. Während sie ihn zuknöpfte, sah Frank zu Jens hinüber. »Zufrieden?«
Jens’ Lippen wurden schmal, er sagte jedoch nichts.
Torsten schüttelte den Kopf, und während Frank sich fragte, ob diese Geste Jens galt oder ihm selbst, weil er den Kittel an Manuela weitergegeben hatte, deutete Torsten mit dem Lichtschein seines Handys auf den Treppenabschnitt, der weiter nach unten führte. »Schätze, da unten müssen wir uns auch umsehen. Trennen wir uns. Zwei hier, zwei unten.«
Frank nickte. »Wir beide gehen runter, okay?« Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass Torsten mit Jens oder Manuela zusammen losging.
»Na dann los.« Torsten wandte sich ab und ging zur Wendeltreppe. Frank nickte den beiden zu und folgte ihm.
Er hatte damit gerechnet, dass die Treppe in einem ähnlichen Raum enden würde, doch als er die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, standen sie nebeneinander in einem engen, kurzen Flur. »Na, was denkst du, wie lange es dauert, bis dieser Phosphorkram gar nicht mehr leuchtet?«, fragte Torsten unvermittelt.
»Keine Ahnung. Vielleicht noch ein, zwei Stunden. Ich habe mich schon gewundert, dass noch keiner was dazu gesagt hat.«
Torsten schlug ihm mit seiner Pranke schmerzhaft auf die Schulter, was wahrscheinlich so etwas wie eine kumpelhafte Geste sein sollte. »Ja, Fränkie, du wunderst dich immer nur. Dann lass uns mal sehen, ob das Arschloch hier unten irgendwas mit dem Gesicht einer Ratte versteckt hat.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er los. Frank überlegte, dass sie bald auf die Handys als einzige Lichtquelle angewiesen waren, und schaltete sein Gerät auf Stand-by, um den Akku zu schonen. Dann folgte er, die Arme vorsichtshalber schräg nach vorne ausgestreckt, Torstens schemenhaftem, massigem Schatten.
Von dem schmalen Flur aus kamen sie wieder in einen breiteren Gang mit mehreren Türen. Die meisten von ihnen führten in verschieden große Schlafräume mit groben Betonwänden, deren Mobiliar aus mehreren Hochbetten, einem Waschbecken und grauen Stahlspinden bestand. Im größten Schlafsaal, den sie nach mehreren Richtungswechseln erreichten, standen neun Hochbetten. Leider beschränkte sich die Ausstattung wie bei allen anderen Betten, die sie bisher gesehen hatten, auf die blanken Matratzen. Frank wünschte sich eine Wolldecke, die er sich um die Schultern legen konnte. Die Eiseskälte war immer schwerer zu ertragen, unerbittlich legte sie sich um die Muskeln, ließ sie träge werden und erschwerte jede Bewegung.
Die vielen nackten Kabel, die über die Wände verliefen, verstärkten den ungemütlichen, abweisenden Eindruck, den Frank beim Anblick der Schlafräume empfand. Nachdem sie sich noch eine Art Kühlraum, einen Heizungsraum und zwei, drei Zimmer angesehen hatten, die Gerätschaften enthielten, deren Funktion sie sich nicht erklären konnten, knallte Torsten die letzte Tür mit Schwung zu. »Was zum Teufel sollen wir hier finden? Wenn ich das richtig sehe, hat das, was wir suchen, doch was mit Ratten zu tun, oder? Und der Kerl hat die Ratten oben freigelassen. Also werden wir diesen Scheiß wohl auch da oben finden und nicht in den Schlafzimmern hier unten.«
»Lass uns wenigstens einen kurzen Blick in die restlichen Räume werfen, bevor wir wieder hochgehen.«
»Ach verdammt, was soll das denn bringen? Hier ist doch nichts.«
»Dieser Kerl wird uns heute Nacht noch drei Aufgaben stellen. Selbst wenn wir dieses Rattending nicht hier unten finden, kann es doch sein, dass wir etwas sehen, das wir später noch brauchen können.«
Torsten hob sein Telefon und leuchtete Frank direkt ins Gesicht. »Ah, ich verstehe. Damit verschaffen wir uns vielleicht einen Vorteil gegenüber den beiden da oben. Sieh an, der ewig gute Fränkie denkt auch an sich, wenn es ans Eingemachte geht.«
»So ein Quatsch«, protestierte Frank sofort. »Darum geht es doch nicht. Es geht darum, dass wir …«
»Es geht darum, Fränkie-Boy«, unterbrach Torsten ihn harsch und richtete den ausgestreckten Zeigefinger gegen Franks Brust, »dass dieses abartige Arschloch die Familie von jedem von uns umbringen wird, der morgen früh nicht zwei seiner Scheißpunkte gesammelt hat.« Torsten wurde mit jedem Wort lauter. Frank war auf diesen plötzlichen Ausbruch nicht vorbereitet. Er hoffte, dass Jens und Manuela Torsten nicht hören konnten. »Und es geht darum, dass es nur zwei von uns geben kann, die zwei Punkte haben, weil es nämlich nur vier von diesen verfickten Punkten gibt.« Die letzten Worte hatte er geschrien, er wurde aber wieder deutlich leiser, als er weitersprach. »Darum geht es, Fränkie. Und jetzt kannst du dir überlegen, wobei du dich besser fühlst. Wenn du morgen früh mit mir hier rausmarschierst und zu Hause deine Frau und deine Tochter in den Arm nehmen kannst oder wenn du das Gefühl hast, edel und gut gewesen zu sein, und deine süße kleine Tochter dafür bei lebendigem Leib von Ratten gefressen wird. Sie wird sicher stolz auf ihren Papa sein, wenn die Drecksviecher ihr mit ihren stinkenden Mäulern die Augen aus dem Gesicht reißen.«
Frank hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Ich …,« setzte er an, kam jedoch nicht weiter und versuchte es wieder. »Ich weiß nicht, aber …«
»Ja, natürlich weißt du es nicht, Fränkie. Hätte mich auch sehr gewundert, wenn du es gewusst hättest.« Mit einer abfälligen Handbewegung wandte er sich ab. »Scheiße. Ich geh jetzt wieder hoch.«
Damit marschierte er los. Ohne darüber nachzudenken, folgte Frank ihm. Torstens Worte hatten grauenvolle Bilder in seinem Kopf heraufbeschworen, er sah die Szene aus dem Film wieder vor sich, die Ratten, die aus ihren Käfigen quollen und gierig über den zuckenden, nackten Körper herfielen, ihn bei lebendigem Leibe auffraßen. Aber nicht der hagere Mann lag auf dem Boden, sondern Laura, und sie verlor vor Angst fast den Verstand. Als sich die langen Zähne in ihr Fleisch bohrten, riss sie den Mund zu einem stummen Schrei auf, und ihr schönes Gesicht verzog sich zu einer furchtbaren Fratze.
Unter Aufbietung all seiner Willenskraft drängte Frank diese schrecklichen Bilder zurück, und während er wie in Trance hinter der dunklen Gestalt vor sich herging, kämpfte er gegen die aufkeimende Panik an. Das durfte nicht passieren! Laura und Beate durften diesem Psychopathen auf keinen Fall in die Hände fallen!
Sie zwängten sich über die enge Wendeltreppe nach oben und standen dann allein in der Werkstatt.
»Scheinen noch auf Rattengesichtssuche zu sein, die beiden«, kommentierte Torsten die Situation. »Gehen wir nach oben und schauen uns dort noch mal um.«
»Aber wenn Manu und Jens zurückkommen, werden sie hier auf uns warten.«
»Also gut«, lenkte Torsten zu Franks Überraschung sofort ein. »Warte hier, ich schau nach, ob ich sie finde.«
»Wäre es nicht sinnvoller, wir suchen beide nach ihnen?«
Torsten verdrehte die Augen. »Und währenddessen kommen sie hier an, warten eine Weile, und was tun sie dann wohl, schlauer Fränkie? Sie gehen nach unten und suchen dort nach uns. Tolles Spiel.«
Frank musste einsehen, dass Torsten in diesem Fall recht hatte, und nickte. »Also gut, ich warte.« Er ärgerte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Uhrzeit mit Jens und Manuela auszumachen.
Torsten ging zur Werkbank hinüber, betrachtete das Durcheinander darauf und griff dann einen großen Schraubenschlüssel. Er prüfte das Gewicht, indem er die Hand ein paarmal auf-und abbewegte und nickte zufrieden. »Für alle Fälle.« Damit wandte er sich ab, das schwere Werkzeug in der Hand, und verschwand im nächsten Gang. Als die fast absolute Dunkelheit wie eine Welle über Frank zusammenschwappte, schaltete er schnell sein eigenes Handy ein und leuchtete damit in den Raum. Langsam ging er zur Werkbank und lehnte sich dagegen. Es fühlte sich sicherer an, eine Wand im Rücken zu haben als eine Treppe oder einen der dunklen Gänge.
Während seine Augen zwischen den fast schwarzen Rechtecken der beiden Gänge hin-und herwanderten, dachte er an Beate und Laura. An die Gefahr, in der die beiden schwebten, und daran, wie seine Chancen standen, diese Gefahr abzuwenden.
Er horchte in sich hinein, stellte sich die Frage, was er zu tun bereit wäre, um seine Familie zu retten. Wäre er bereit, alles zu tun? Wirklich alles?
Zwanzig Jahre kannten er und Beate sich nun schon. Fast genauso lange waren sie ein Paar. Er war damals frisch von der Uni gekommen, das Informatik-Diplom in der Tasche, den Kopf voller Visionen. Die Softwarefirma, ein Schweizer Unternehmen mit einer Filiale in Luxemburg, hatte ihn den Arbeitsvertrag schon unterschreiben lassen, während er noch an seiner Diplomarbeit arbeitete. Als er an seinem ersten Arbeitstag von der Personalchefin durch die einzelnen Abteilungen geführt wurde, war ihm die hübsche blonde Frau mit dem sympathischen Lächeln im Controlling gleich aufgefallen. Ihre Blicke hatten sich immer wieder gekreuzt, während der Abteilungsleiter ihn mit den üblich höflichen Floskeln in der Firma willkommen hieß. Eine Woche später waren sie sich auf dem Flur begegnet, tags darauf hatten sie sich in einer Pizzeria gegenübergesessen.
Frank erinnerte sich an die Vertrautheit, die er vom ersten Moment an mit Beate gespürt hatte, an die verrückte Gewissheit, in ihr die Frau gefunden zu haben, mit der er sein Leben verbringen wollte. Sie waren erst wenige Monate zusammen gewesen, als er ihr gegenüber zum ersten Mal von Heirat sprach, und das war ihm ebenso selbstverständlich erschienen wie ihr spontanes Ja.
Bilder aus ihren ersten gemeinsamen Jahren tauchten vor ihm auf. Ihr erster gemeinsamer Urlaub. Drei Wochen mit dem Auto durch Irland, immer an der Küste lang. Sie hatten sich treiben lassen und es unendlich genossen, nicht zu wissen, wo sie am Abend eine Bed-and-Breakfast-Unterkunft finden würden. In einem Plüschzimmer hatten sie übernachtet und Tränen gelacht, als sie die winzige Dachkammer betraten, in der aber auch wirklich alles bis ins kleinste Detail in Rosa gehalten war, selbst die Rüschen der geblümten Tagesdecke. Die gewaschene Unterwäsche hatten sie während der Fahrt auf die Heckablage im Auto zum Trocknen gelegt. Frank konnte sich nicht erinnern, irgendwann zuvor in seinem Leben glücklicher gewesen zu sein als in dieser Zeit. Danach gab es noch viele gemeinsame Momente, in denen er dieses Glücksgefühl empfunden und gespürt hatte, wie herrlich sein Leben, ihr gemeinsames Leben doch war. Der Moment des allergrößten Glücks kam dann ein paar Jahre später mit Lauras Geburt. Als die Hebamme ihm diesen kleinen Menschen in die Arme legte, als er ganz behutsam über die unglaublich winzigen Fingerchen streichelte und den Blick einfach nicht von dem schönsten Gesicht der ganzen Welt abwenden konnte, da hatte er geweint, und er hatte sich seiner Tränen nicht geschämt.
Laura … ihr wunderschönes Lächeln. Sie war noch so jung, so … Ja, verdammt, er würde alles tun, um zu verhindern, dass ihr ein Leid geschah.
Torsten war in vielerlei Hinsicht ein Neandertaler, aber in dem Punkt hatte er recht. Sie waren in dieser Bunkeranlage eingeschlossen, und wie es schien, hatten sie keine Chance zu entkommen. In dieser Nacht konnten im besten Fall zwei von ihnen sich selbst und ihre Familien retten. Letzten Endes würde jeder für sich allein kämpfen müssen. Und die anderen würden das genauso sehen. Was das für die nächsten Stunden bedeutete, wagte er sich gar nicht auszumalen. Torsten schien sich mit ihm verbünden zu wollen. Hätte er ihm sonst den zweiten Kittel gegeben? Im Grunde genommen konnte Frank nichts Besseres passieren, als denjenigen auf seiner Seite zu haben, der zumindest aufgrund seiner körperlichen Voraussetzungen die größten Chancen hatte, sich gegen alle anderen durchzusetzen. Im nächsten Moment schämte er sich für den Gedanken.
Schnell lauter werdende Schritte ließen ihn aufschrecken. Es schien sich nur um eine Person zu handeln. Sekunden später trat Torsten aus dem rechten Gang und kam auf ihn zu. Der schwere Schraubenschlüssel lag nicht mehr in seiner Hand.