7

Frank brauchte eine Viertelstunde bis Schweich. Er hatte einen Zettel für Beate auf dem Küchentisch hinterlassen, auf dem er sie erneut anlog. Er hasste das, doch es war nicht zu ändern. Er hatte von einem kurzfristigen, aber wichtigen Kundentermin geschrieben und dass er nicht wisse, wie lange er weg sei. Es könne etwas später werden. Frank hoffte, dass dieser Albtraum ein für alle Mal vorbei sein würde, wenn er am Abend wieder nach Hause kam.

Als er vor dem Haus an der angegebenen Adresse hielt und die Tür sich öffnete, noch bevor er den Sicherheitsgurt gelöst hatte, blieb er sitzen und betrachtete durch die Seitenscheibe den schlanken, fast schon dürren Mann, der da auf ihn zukam. Er trug das etwas längere, kupferrote Deckhaar an der Seite gescheitelt, genauso wie er es schon dreißig Jahre zuvor getan hatte. Als er näher kam, konnte Frank auch die vielen Sommersprossen sehen, die das ganze Gesicht und die nackten, sehnigen Arme bedeckten, die unter dem T-Shirt herausschauten. Jens blieb neben der Beifahrertür stehen, bückte sich und schaute durch das Fenster ins Wageninnere. In seinen Augen lag noch genau wie damals ein Hauch von Melancholie. Vor fast 30 Jahren hatte Frank das nicht beim Namen nennen können, er hatte nur bemerkt, dass Jens immer ein wenig traurig gewirkt hatte.

Es war fast unheimlich, aber Frank blickte in das sommersprossige Gesicht des dreizehnjährigen Jens, in das jemand ein paar Fältchen gedrückt hatte.

Er bedeutete ihm, er solle einsteigen, und nachdem Jens seine dünne Jacke auf den Rücksitz geworfen hatte, ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen. Sie sahen sich eine Weile einfach nur an, bis Jens ihm schließlich die Hand hinhielt und sagte: »Schön, dich wiederzusehen, Fränkie.«

Fränkie. Seit damals hatte ihn niemand mehr so genannt, und auch zuvor am Telefon hatten beide sich mit ihren richtigen Namen angesprochen. Doch jetzt, wo sie sich wieder in die Augen sahen, erschien es auch ihm ganz selbstverständlich, dass Jens ihn so anredete. Frank schlug ein und sagte: »Ja, Kupfer, nur der Anlass, der ist alles andere als schön.«

Ohne weitere Umschweife startete er den Motor und fuhr los.

 

Sie erreichten Urft um kurz vor halb fünf. Das Navigationsgerät hatte sie an einen Weg gelotst, der von der Straße aus schräg nach oben in ein Waldstück führte. Den Rest des Weges würden sie zu Fuß zurücklegen müssen. Frank parkte den Audi neben einem Glascontainer. Jens nahm seine Jacke vom Rücksitz, und Frank holte ein Sweatshirt aus dem Kofferraum, das neben einem Schirm dort immer in einem Seitennetz lag, und hängte es sich locker über die Schultern. Dann machten sie sich auf den Weg.

Der Pfad war kaum breiter als zwei Meter. Die Grasnarbe in der Mitte und die schmalen, ausgetretenen Spuren links und rechts vermittelten den Eindruck, dass hier ab und an Autos fuhren, wobei Frank sich das nur schwer vorstellen konnte.

Die Blätter der Bäume zu beiden Seiten vereinigten sich über dem Weg zu einem grünen Dach, durch die kleinen Lücken drangen die Sonnenstrahlen wie Hunderte dünne, helle Speere. Das Licht hingegen, das sich durch die Blätter drückte, war von einem hellgrünen Hauch durchsetzt, als es die Männer auf dem Weg erreichte. Es hätte ein harmloser Sommerspaziergang sein können, der die beiden hierhergeführt hatte.

So aber gingen sie schweigend nebeneinanderher, jeder in Gedanken versunken, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet. Frank war sicher, dass ihre Gedanken sich sehr ähnlich waren in diesen Minuten. Was würde sie an dieser Bunkeranlage erwarten? Würde derjenige, der hinter dieser ganzen Sache steckte, sich ihnen dort endlich zeigen und sagen, was er von ihnen wollte? War Manuela schon da? Was war mit Torsten? Hatte er die Nachrichten überhaupt erhalten? Wie würde dieser Irre reagieren, wenn Torsten gar nicht auftauchte?

Der Weg machte einen Knick, dann wurde er flacher und schmaler. In einiger Entfernung sahen sie einen hohen Zaun auf der linken Seite, rechts von ihnen fiel das bewaldete Gelände steil ab.

Sie erreichten den Zaun, und ein Stück versetzt tauchte ein kleines Haus auf. Es stand auf einer Art Lichtung und sah aus wie ein schlichtes Einfamilienhaus aus den 1960er Jahren. »Das muss es sein«, sagte Frank und nahm das restliche Gelände in Augenschein. Die Lücken zwischen den Büschen hinter dem Zaun gaben mit jedem Meter, den Frank und Jens zurücklegten, ein anderes Stück frei. »Schau mal, da hinten«, sagte Jens. Er blieb stehen und zeigte zwischen einer der Lücken hindurch. Frank stellte sich neben ihn und sah gleich, was er meinte. Unter einer Baumgruppe stand eine schäbig wirkende Doppelgarage mit schmutzigbraunen Blechtoren. Am hinteren Ende der linken Seitenwand war eine Blechtür in der gleichen Farbe eingebaut. Der ehemals wohl weiße Anstrich war durchsetzt mit grünlichen und grauen Flecken, am unteren Rand wucherte Moos und Unkraut. »Das muss der Eingang sein.« Jens wirkte aufgeregt, seine Stimme zitterte beim Reden. »Lass uns weitergehen und schauen, wie wir hinter den Zaun kommen«, sagte Frank und ging los.

Es gestaltete sich einfach, denn nach etwa hundert Metern knickte der Zaun im rechten Winkel zwei, drei Meter nach hinten weg und wurde dann von einem zweiflügeligen Tor unterbrochen, dessen rechte Seite offen stand. Nun sahen sie auch, dass es einen geteerten Weg gab. Er mündete von der anderen Seite in das Tor.

Sie betraten die freie Fläche, auf der Haus und Garage standen. Sie mochte etwa 2000 Quadratmeter groß sein, auf der hinteren Seite stieg der Wald weiter an. Als sie auf das Haus zugingen, sahen sie eine grün gestrichene Überdachung, die mit einer Breite von etwa zwei Metern vom hinteren Garagenende ausgehend schräg nach oben führte. Das musste der Zugang zu der in den Berg gebauten Bunkeranlage sein. Sie blieben stehen und betrachteten das Haus. Es wirkte alt, fast abweisend, und doch nicht gänzlich unbewohnt. Im Fenster hing ein Schild mit der Aufschrift: »Bis 01. Oktober geschlossen.«

Frank entdeckte kleinere Hinweise darauf, dass hier wohl öfter Menschen waren. Vereinzelte Zigarettenkippen auf dem Boden, eine Schubkarre neben dem Haus, ein noch recht neu aussehender Kronkorken Zentimeter neben seinem Schuh. Über all dem lag jedoch eine geradezu erdrückende Stille. Frank versuchte, die typischen Waldgeräusche zu hören, Vogelgezwitscher, Knacken, das Rascheln der Blätter … nichts davon war da.

»Ist ja irgendwie gespenstisch hier«, drückte Jens es in der ihm eigenen vorsichtigen Art aus.

»Hallo«, sagte in diesem Moment eine helle Stimme hinter ihnen und ließ sie beide erschrocken herumfahren. Vor ihnen stand Manuela.

»Hallo, Manu«, sagte Frank und reichte ihr die Hand. Anders als früher trug sie ihre dunkelbraunen Haare nun lang, sie fielen ihr bis weit über den Rücken. Als Dreizehnjährige hatte sie einen frechen Kurzhaarschnitt gehabt, der sie zusammen mit ihrer knabenhaften Figur fast wie ein Junge hatte aussehen lassen. Nun war aus der knabenhaften Manu eine attraktive, schlanke Frau geworden, der Frank aufgrund ihrer Ausstrahlung eine Führungsposition in einem Wirtschaftsunternehmen zutraute. Nur die blasse Haut und die dunklen Ringe unter den braunen Augen passten nicht in das Gesamtbild, aber Frank ahnte, was der Grund dafür war.

»Gut, dass ihr da seid«, sagte sie und schob die Riemen ihrer Umhängetasche nach oben. »Ich war zu früh und fand es unheimlich hier, so ganz allein.«

»Hi Manu«, sagte Jens und hielt ihr ebenfalls die Hand entgegen. »Ist lange her.«

»Hast du schon was von Torsten gehört?«, wollte Frank wissen, woraufhin Manu den Kopf schüttelte. »Nein, ich weiß auch nicht, wo er zu erreichen ist. Vielleicht wohnt er gar nicht mehr in der Nähe. Aber was passiert, wenn er nicht kommt? Was dann?«

Frank hob die Schultern. »Das werden wir sehen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Noch drei Minuten.«

Sie standen sich gegenüber, ein unfertiger Kreis aus drei Personen, die sich als Kinder gut gekannt hatten und nun nicht recht wussten, wo sie hinschauen sollten. Freiwillig war keiner von ihnen hier.

»Denkt ihr, Torsten kommt noch?«, fragte Jens zaghaft, doch noch bevor Frank oder Manuela hätten antworten können, hörten sie ein schnell näher kommendes Motorengeräusch. Ein schwarzes Fahrzeug tauchte auf, und auf den zweiten Blick erkannte Frank einen Ford Mustang.

Der Wagen fuhr durch das offene Tor und kam kurz vor ihnen zum Stehen. Alle drei starrten sie auf die Windschutzscheibe, hinter der sich der Fahrer verbarg. Sehen konnten sie ihn nicht, weil die Sonne vom Glas gespiegelt wurde.

Der Motor wurde abgestellt, es vergingen einige Sekunden, dann wurde die Fahrertür geöffnet und ein nackter, fleischiger Unterarm mit einer Tätowierung darauf tauchte auf. Es folgte ein Bein, dann schob sich der Rest des massigen Körpers aus der Öffnung.

Die Erwachsenenversion von Fozzie, die nun mit schweren Schritten auf sie zukam, wog schätzungsweise 120 Kilo und war etwa 1,85 Meter groß. Doch im Gegensatz zu früher war Torsten nun eher muskulös als übergewichtig.

Breitbeinig blieb er vor ihnen stehen, stemmte die Arme in die Hüften und sagte ohne eine Miene zu verziehen: »Damit eins klar ist: Ich mache diesen Scheiß nicht mit.«

Das Rachespiel
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