35
– 05:44 Uhr
»Verdammte Scheißdunkelheit«, fluchte Torsten, und er bemühte sich offenbar gar nicht erst, leise zu sein.
Er kam langsam auf sie zu, schien sich auch an der Wand entlang vorwärtszutasten.
Franks Herz raste und schlug so heftig gegen seine Brust, dass er Angst hatte, Torsten könnte es hören. Sie konnten nicht mehr weglaufen, dazu war es zu spät. Er hörte einen weiteren, schlurfenden Schritt, Torsten kam näher. Er konnte höchstens noch zwei Meter entfernt sein. Frank hörte jeden seiner schweren Atemzüge und hielt selbst den Atem an. Der nächste Schritt, dann … Stille. Torsten war stehen geblieben. Sein Atem war kaum noch zu hören. Er lauschte in die Dunkelheit hinein, da war Frank sicher. Wahrscheinlich spürte er, dass er nicht alleine in dem Gang war. Gleich würde er nach allen Seiten tasten. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis er Manuela oder ihn berührte. Sie konnten nicht mehr warten, sie mussten …
Ein dumpfer Knall von schräg unten ließ Frank ebenso wie Manuela zusammenzucken, gleich darauf stieß Torsten aus: »Scheiße. Ihr elenden Drecksviecher, ich trete euch die verdammten Gedärme raus.« Es folgte ein Geräusch, als spucke er auf den Boden, und er setzte seinen schlurfenden Weg fort. Mit dem nächsten Schritt musste er auf gleicher Höhe mit Frank und Manuela sein. Er bewegte sich an der gegenüberliegenden Wand entlang, aber er brauchte nur einen Arm zur Seite auszustrecken und würde sie berühren.
Schweißtropfen lösten sich von Franks Stirn. Einige rannen ihm kitzelnd über die Nase bis zur Nasenspitze, andere über die Schläfe und die Wange hinunter bis zum Kinn. Er traute sich nicht, sie fortzuwischen, aus Angst, er könnte dabei ein Geräusch machen.
Torsten war nun schon ein Stück an ihnen vorbei, doch Frank wagte erst wieder vorsichtig zu atmen, als er schon fünf, sechs Meter weiter sein musste. Dabei musste er an mindestens einer Tür auf seiner Seite vorbeigekommen sein, ohne sie zu öffnen. Er schien sich also zumindest im Moment nicht für die Räume dahinter zu interessieren.
Als Torsten so weit entfernt war, dass sie seine Schritte nicht mehr hören konnten, entspannte sich Frank wieder etwas. Sie blieben noch einige Minuten stehen, bis sie es wagten, sich wieder zu bewegen und leise zu sprechen.
»O Gott«, flüsterte Manuela. »War das schrecklich! Ich dachte, jetzt ist alles aus!«
»Ja, das war knapp. Aber er scheint auch kein funktionierendes Handy mehr zu haben, er sieht also ebenso wenig wie wir. Das ist ein Vorteil für uns.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich denke, wir sollten uns wieder in einen Raum setzen. Da er kein Licht mehr hat, kann er uns da auch nicht finden.«
»Stimmt.« Manuela wirkte wieder etwas zuversichtlicher. »Gut, und dann lass uns überlegen, was wir tun können.«
Frank antwortete nicht.
»Frank?«
»Ja.«
»Was ist los, warum sagst du nichts?«
»Ich habe Angst davor.«
»Vor Torsten?«
»Auch. Aber hauptsächlich davor, darüber nachzudenken, wie wir ihn umbringen können.«
»Und … wenn wir versuchen, einen Weg zu finden, wie wir alle hier rauskommen?«, schlug Manuela zaghaft vor.
Frank wollte das Thema erst einmal beenden, deshalb sagte er: »Ja, lass es uns versuchen.«
Sie entschieden sich für einen Raum zwei Abzweigungen weiter. Obwohl er nun schon mehrmals in allen Fluren dieser Etage gewesen sein musste, hatte Frank komplett die Orientierung verloren. Torsten musste es genauso gehen, sein Weg in Richtung Schleuse konnte also reiner Zufall gewesen sein. Für einen kurzen Moment dachte Frank daran, dass er den Raum mit Jens wahrscheinlich auch nicht mehr finden würde, schob diesen Gedanken aber sofort wieder beiseite.
Frank schritt die Wände ab und stellte fest, dass der Raum etwas größer war als der, in dem Jens lag. Es befanden sich mehrere Tische darin, auf denen ein paar Geräte standen, die Frank durch Tasten nicht identifizieren konnte. Sie setzten sich nebeneinander auf einen etwas größeren Tisch und ließen die Beine herunterhängen. Frank hatte das Gefühl, keine einzige Stelle mehr am Körper zu haben, die nicht schmerzte. Das Atmen fiel ihm noch immer schwer, und er war bemüht, langsam und flach Luft zu holen.
»Denkst du, wir werden hier sterben?«, fragte Manuela plötzlich unvermittelt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Frank wahrheitsgemäß. »Aber die Chancen, dass wir überleben, stehen tatsächlich nicht allzu gut.«
»Ob der Kerl uns jetzt wohl zuhört?«
Daran hatte Frank überhaupt nicht mehr gedacht. Nach ihren bisherigen Erfahrungen musste so ziemlich jeder Raum der Anlage mit Mikrophonen ausgestattet sein.
»Keine Ahnung«, sagte er und stellte fest, dass es ihm mittlerweile auch egal war, ob dieser Wahnsinnige sie belauschte oder nicht. Sie hatten schon so viel gesagt, dass es mittlerweile keinen Unterschied mehr machte.
Sie schwiegen, und Frank dachte fieberhaft darüber nach, wie sie es schaffen konnten, ihren Peiniger zu überlisten. Aber was immer er sich überlegte, es scheiterte daran, dass dieser Irre es nicht nötig hatte, zu ihnen in den Bunker zu kommen. Er konnte sie einfach in der Anlage sterben lassen, wenn sie sein Spiel nicht nach seinen Regeln spielen wollten. Sie hatten also keine Möglichkeit, ihn zu überwältigen.
Wenn er aber andererseits nicht selbst in den Bunker kam, wie wollte er dann feststellen, ob sie sich an seine geänderten Regeln gehalten hatten? Ob zwei von ihnen wirklich tot waren? Jens zum Beispiel lag irgendwo in einem Raum unter einem Schreibtisch. Lebte er noch? War er bereits tot? Wie wollte der Kerl das wissen? Kameras hatte Frank in den Räumen vorhin, als sie noch etwas sehen konnten, nicht entdeckt. Spätestens wenn es also darum ging festzustellen, ob wirklich nur noch zwei von ihnen am Leben waren, musste der Kerl die Anlage betreten. War das ihre Chance?
Franks Verstand arbeitete fieberhaft. Es musste etwas geben, eine Möglichkeit, dem Ganzen zu entkommen. Vage formte sich schließlich eine Idee in seinem Kopf, bei der er nicht sicher war, dass sie funktionierte. Aber immerhin war es eine erste Idee.
Er rückte ein Stück näher an Manuela heran und flüsterte: »Vielleicht können wir den Kerl, der uns hier eingesperrt hat, überlisten. Aber dazu brauchen wir Torsten. Er muss mitspielen.«
»Was? Wie, wir brauchen Torsten? Aber … er wird uns doch sofort umbringen, wenn er uns findet.«
»Vielleicht auch nicht. Wenn er mir einen Moment zuhört und ich ihm erklären kann, was ich vorhabe, dann lässt er sich vielleicht überzeugen.«
»Und wenn nicht?«
Frank blieb ihr die Antwort schuldig.
»Was hast du vor?«
»Es ist recht einfach.« Franks Mund war nun ganz nah an ihrem Ohr, so dass er sicher war, dass sie nicht belauscht werden konnten. »Zwei von uns stellen sich tot. Jens und einer von uns anderen. Die anderen beiden präsentieren sich als Überlebende und damit als Gewinner.«
Eine Weile schwieg Manuela, dann sagte sie: »Aber er wird doch merken, dass die beiden nicht tot sind, die nicht zur Schleusentür gekommen sind. Er wird nachsehen.«
»Genau. Das ist unsere Chance. Einer der Toten wird ihn überrumpeln und überwältigen.«
»Was? Aber … wer soll das machen? Du?«
»Nein, Torsten.«
»Torsten?« Frank konnte Manuelas Überraschung hören, obwohl sie noch immer flüsterte. »Aber … warum sollte er das tun? Er kommt doch wahrscheinlich auch so hier raus. Zumindest denkt er das, da bin ich mir sicher.«
»Ich glaube aber trotzdem, dass auch ihm eine Lösung lieber wäre, die nicht dazu führt, dass er jemandem von uns schaden muss.«
»Und ich glaube, du wirst gar nicht erst dazu kommen, ihm zu erklären, was du vorhast. Und ich denke auch nicht, dass das funktionieren wird.«
»Es ist zumindest eine Chance.«
»Du hast vorhin selbst gesagt, wenn Torsten uns findet, wird er uns umbringen.«
»Ja, wenn er keine Alternative hat. Aber die möchte ich ihm ja erklären.«
Frank hielt die Kälte nicht mehr aus. Er musste sich bewegen und schob sich langsam vom Tisch herunter.
»Was machst du?«, fragte Manuela ängstlich, nun wieder in normaler Lautstärke.
»Ich bewege mich ein bisschen, mir ist kalt.«
Er begann hin-und herzugehen. Einige Schritte in eine Richtung, dann wieder zurück. Das erwies sich in der Dunkelheit als recht schwierig, wie er schnell feststellen musste, als er mit dem Knie gegen einen Stuhl stieß. Er beugte sich vor, rieb kurz über die Stelle. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er komplett die Orientierung verloren.
»Sag mal was«, forderte er Manuela auf.
»Was?«
»Schon gut. Ich wusste nur gerade nicht mehr, wo du sitzt.« Frank dachte daran, wie es wäre, in dieser absoluten Dunkelheit auf Torsten zu treffen. Der würde genauso wenig sehen wie er selbst, wäre also in gewisser Hinsicht genauso hilflos. Frank machte zwei Schritte in die Richtung, in der er Manuela vermutete, und tastete nach ihr. Als er ihren Arm zu fassen bekam, ging er ganz nah an sie heran.
»Hör mal«, flüsterte er, während sein Mund ihr Ohr suchte. »Wenn wir auf Torsten treffen, kann er uns nicht sehen und wird genauso orientierungslos sein, wie ich es gerade war, hab ich recht?«
»Ja … ich denke schon«, flüsterte sie zurück.
»Genau, und das sollten wir ausnutzen.«