Gewappnet

Steampunk_Element_Trenner.psd

Im Hyde Park drängten sich die Menschen. Ellie hatte schon des Öfteren beobachtet, dass die Londoner alles mochten, was ihnen ein kostenloses Spektakel versprach. Die Flugblätter, die für die Ausstellung warben, hatten in besonders reißerischer Manier angekündigt, dass man dort die „neuesten wissenschaftlichen Fortschritte in Elektrizität, Magnetismus und Alchemie“ zu sehen bekäme. Das klang eher nach trockenen Vorträgen, doch das Flugblatt schmückten Kupferstiche von Blitzen, einem schwebenden Mann und aus für Ellie unerfindlichen Gründen auch von einem Elefanten mit riesigen gebogenen Stoßzähnen.

Ein Teil des Parks am Nordufer der Serpentine war für die Ausstellung umgestaltet worden. Das Gebiet wurde von Hunderten von alchemistischen Lampen beleuchtet, die auf Seile gefädelt und an emporragenden Holzpfosten aufgehängt worden waren. Man hatte eine große Bühne aufgebaut, die voll verlockend aussehender mechanischer Apparate stand. Einige davon konnte man auch dann noch erkennen, wenn man ganz hinten in der Menge stand: eine Art riesiges Modell des Sonnensystems, dessen Planeten jedoch sehr eigenartig angeordnet waren, mit zwei Sonnen im Zentrum; eine gewaltige Maschine, die an der Oberseite ein riesiges Horn besaß, das einem stilisierten Blütenkelch ähnelte; eine riesige Kanone, die nach oben zeigte und deren Rohr mit Dutzenden kleinen Röhren verziert war, die sich in barocker Fülle bogen; ein mannshohes Becken mit Glaswänden, das mit einer schwach leuchtenden rosa Flüssigkeit angefüllt war, sowie andere merkwürdige Geräte und Darstellungen, deren Zweck sich ihnen nicht erschloss. Oswald war noch nicht in Sicht, ebenso wenig die falsche Königin. Die Ehrenplätze, die man an der einen Seite der Bühne für den Premierminister und andere hohe Staatsbeamte aufgebaut hatte, waren nur etwa zu einem Viertel belegt. Offensichtlich hatten die meisten großen Männer Londons Besseres zu tun, als Oswalds Selbstbeweihräucherung beizuwohnen.

„Ich werde mich um die Menge herum zum Fluss vorkämpfen“, meinte Pimm und schrie Ellie dabei fast ins Ohr, um den ständigen Lärm der Menschenmenge zu übertönen. Die Leute unterhielten sich, beklagten sich, bedauerten sich gegenseitig, wollten einander Bonbons und Schinkensandwiches und Pfeffernüsse und persische Brause verkaufen, überlegten gemeinsam, was es wohl auf der Ausstellung zu sehen gab, und blafften wütend die unvermeidlichen Taschendiebe an. „Ich glaube, bei diesem Turm handelt es sich um eine der Maschinen.“ Er zeigte auf eine schwer erkennbare Konstruktion, die auf der flussnahen Seite der Bühne aus der Menge ragte. „Würden Sie zur anderen Seite der Bühne gehen und dort ebenfalls nachsehen?“

Pimm verschwand, ehe Ellie einen Einwand vorbringen konnte. Sie hatte ihn darauf hinweisen wollen, dass die Maschine, deren Bau sie und Winnie beobachtet hatten, tatsächlich auf der abgewandten Seite der Bühne gestanden hatte und nicht drüben an der Serpentine. Sie blieb mit Ben und der Königin zurück, die beide aussahen, als sei ihnen leicht übel. Sicherlich aus unterschiedlichen Gründen. Die Königin, weil sie dem mahlenden, rufenden, stinkenden Gewühl ihrer Untertanen wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr so nahe gewesen war, wenn überhaupt jemals, und Ben, weil er seine Rolle als Leibwächter ernst nahm und die vielen hundert möglichen Gefahren für die königliche Person im Auge hatte. Besagte königliche Person war schließlich barfuß und nur mit einem schmutzigen Morgenmantel bekleidet.

„Ich suche in dieser Richtung!“, rief Ellie, und Ben nickte bedrückt, als sie nach Nordwesten aufbrach. Sie war ziemlich sicher, dass sich die Konstruktion, die sie und Winnie vor ihrem abgebrochenen Picknick bemerkt hatten, in dieser Richtung befand, obwohl es ihr schwerfiel, die genaue Lage zu bestimmen. Die Parklandschaft sah durch die Ausstellung und die Menschenmassen stark verändert aus. Ellie hörte die Königin rufen: „Wir wollen Uns der Bühne nähern!“, und schauderte. Ein Mann von Bens Größe konnte die Königin zweifellos durch die Menge schleusen, aber nur, wenn er dabei nicht vor Sorge um die Sicherheit Ihrer Majestät einen Herzanfall erlitt.

Ellie wünschte, sie hätte einen Gehstock oder zumindest Winnies Sonnenschirm, um sich damit einen Weg zu bahnen. So aber war sie gezwungen, bis zum äußersten Rand der Menschenansammlung vorzudringen, wo die Körper sich nicht ganz so dicht aneinanderdrängten, damit sie an der Seite herumgehen konnte. Dabei bewegte sie sich in einem langsamen Bogen dorthin, wo Winnie das seltsame Bauprojekt gesehen hatte. Nun konnte sie es einigermaßen erkennen, einen spitzen Turm, der sich über die Köpfe der Menge erhob und mehr als doppelt so groß wie ein Mensch war.

„Willkommen auf der Weltausstellung!“, dröhnte plötzlich die Stimme Gottes. Das Publikum verstummte bis auf einzelne Schreckensschreie. Einen Augenblick lang hatte Ellie das Gefühl, die Menge wollte Reißaus nehmen wie ein Rudel Hirsche, das vom Knurren eines Raubtiers aufgeschreckt wurde. Doch die allgegenwärtige Stimme lachte kurz und sprach erneut. „Erschreckt nicht! Die Stimme, die ihr hört, gehört mir, Bertram Oswald, und keinem furchterregenden Ungeheuer. Diese wundervolle Verstärkung, diese außergewöhnliche Lautstärke ist einer der vielen Erfindungen zu verdanken, die ich heute Nacht enthüllen will. Lang und hart habe ich in meiner Werkstatt, meinem Laboratorium und meinem Atelier gearbeitet, um eine Parade der Wunder zu kreieren, die den Geist blenden und die Seele bereichern werden!“

Ellie stand auf den Zehenspitzen und konnte gerade noch eine Gestalt erkennen, die einen weißen Anzug trug. Sie stand am Rand der Bühne und hielt beim Sprechen ein kleines Gerät an den Mund, an dem ein langer Draht hing. Ellie sah weg und kämpfte sich durch die Menge, vorbei an Menschen, die verzückt die Gestalt auf der Bühne anstarrten. Wer so laut sprechen konnte, konnte auch sehr viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Zum Glück hatte Ellie jüngst erlebt, dass Oswald sich insgeheim wünschte, ein Bühnenschauspieler zu sein. Zumindest nahm er liebend gern die Gelegenheit wahr, lange Reden zu halten. Wahrscheinlich konnten sie darauf zählen, dass er seine große Bedeutung und Wichtigkeit in aller Ausführlichkeit erläutern würde, ehe er versuchte, die grässlichen Geschöpfe von jenseits des Himmels zu entfesseln.

Wenn es ihnen nur gelang, die unmittelbare Gefahr aufzuhalten, die von dem Mann ausging, konnte Pimm sich an seine Kameraden bei der Polizei wenden. Vielleicht könnte er sogar die Verbindungen seiner Familie nutzen, um ein Treffen mit einigen Parlamentsmitgliedern oder hochrangigen Ministern einzuberufen und ihnen die Beweise gegen Oswald vorzulegen. Sein eigenes Tagebuch sollte das Todesurteil des Wissenschaftlers sein. Natürlich würden sie auch die Königin vorstellen müssen. Ellie war sich nicht sicher, wie dieses Treffen verlaufen würde, doch sie wusste, dass es auf jeden Fall einen fabelhaften Artikel hergeben würde.

Endlich erreichte sie den Sockel des Turms, der nicht allzu weit von der rechten Seite der Bühne entfernt war, und ihre Hoffnung schwand. Erstaunlicherweise hatte sich niemand an den Turm gelehnt oder versucht, ihn auseinanderzunehmen, weil er hoffte, die Einzelteile verkaufen zu können. Als sie näher kam, erkannte sie den Grund dafür. Die kleinere Maschine im Lagerhaus hatte ein unangenehmes Brummen erzeugt, doch dieses Ding hier war viel stärker. Sein Geräusch war kaum lauter, doch es schien ihre Knochen auf grauenhaften Frequenzen vibrieren zu lassen, und ihr Magen geriet fürchterlich in Aufruhr, wann immer sie sich der Maschine näherte. Sie hätte diese Unannehmlichkeiten ertragen, um das Ding zu zerstören, doch leider erwies sich das als unmöglich.

Die Maschine im Lagerhaus war nicht nur kleiner, sondern auch ungeschützt gewesen. Dieser Apparat stand sicher in einem zylinderförmigen Käfig aus schwarzem Schmiedeeisen. Das Metall war kunstvoll mit astronomischen Motiven gestaltet, mit Kometen, Sternschnuppen, Planeten, Sonnen und dem Mond in all seinen Phasen. In dem metallenen Käfig konnte sie Kristalle funkeln und Messing glänzen sehen. Sehr hübsch und sehr sicher. Das Ganze musste von einer Gruppe Arbeiter errichtet worden sein, die mit Seilen und Flaschenzügen gearbeitet hatten. Der Turm hatte keinen allzu großen Durchmesser. Sie hätte ihn zwar nicht umfassen können, Big Ben allerdings schon, gerade so. Dafür war er recht hoch, fast fünf Meter. Ellie lehnte sich mit der Schulter gegen den Turm, in der Hoffnung, dass sein Gewicht und seine relative Schlankheit ihn aus dem Gleichgewicht bringen würden, sodass man ihn leicht umstürzen konnte. Doch wie sehr sie auch drückte, er schwankte nicht einmal. Er war zu fest in der Erde verankert. Vielleicht würde er nachgeben, wenn ein halbes Dutzend Menschen sich dagegen stemmten, doch allein hatte Ellie keine Chance, ihn umzuwerfen. Im Hintergrund dröhnte noch immer Oswalds leiernde Stimme, während sie grübelte und sich grämte. Sie war sicher, dass sie sein Geschwätz später in ihren Albträumen hören würde.

Sie zögerte, unschlüssig, was sie nun tun sollte. Sollte sie sich wieder einen Weg um die Menschenmenge herum bahnen und versuchen, Pimm zu finden? Oder war es besser, die Königin und Ben zu suchen? Wenn Oswald sie sah, würde er wutentbrannt sein, doch er konnte nicht viel dagegen tun, solange er seine Ausstellung leitete. Sie wich vor dem schrecklichen Brummen der Maschine zurück, denn selbst ohne das Surren im Kopf fiel ihr das Nachdenken schwer.

Einen Augenblick später kam auf der Straße, die an das nördliche Parkende grenzte, eine Kutsche zum Stehen. Ellie kniff die Augen zusammen. Sie sah eine Frau aus der Kutsche steigen, ohne auch nur abzuwarten, dass der Kutscher ihr den Schlag öffnete, und sie wusste, es musste Winnie sein. Ellie raffte ihre Röcke und rannte über den Rasen auf ihre Freundin zu. Winnie war gerade dabei, den Kutscher anzuweisen, einige Gegenstände aus der Kutsche zu heben. Doch sie blickte sich um, sah Ellie und winkte ihr zu. „Komm her!“, rief sie. „Allein kann ich das nicht alles tragen!“

Ellie erreichte die Kutsche, sah die Gegenstände, die auf dem Boden lagen, und war ebenso verwirrt wie der blinzelnde junge Kutscher. Die Batterien, die sie im Lagerhaus erbeutet hatten, waren da, doch Winnie hatte Lederriemen daran befestigt. Daneben lag ein Paar Degen, von deren Griffen lange Drähte hingen. „Winnie, was ist das?“

„Das sind Waffen, meine Liebe. Du kann jetzt allerdings nicht länger Queequeg sein. Wie fändest du es, stattdessen D’Artagnan zu werden?“

„Wurde er nicht von einem alten Mann und seinen Kumpanen schrecklich verprügelt? Nur mit Holzstäben?“

„Ich hatte eher seine überragenden Darbietungen der Fechtkunst im Sinn“, meinte Winnie. „Versuch einfach, alten Männern mit Stöcken aus dem Weg zu gehen.“

„Ich kann kein Schwert führen“, wandte Ellie ein.

Winnie warf einen Blick auf den Kutscher, der wie zu erwarten ihrem Gespräch entgeistert folgte, dann reichte sie ihm einige Münzen. Er wandte sich ab und ging zu seinen Pferden, wobei er vor sich hin murmelte.

„Hattest du heute Nachmittag etwa Erfahrung mit Harpunen? Ich erwarte nicht, dass du ein Duell gewinnst, liebe Ellie. Wenn du einem der Monster begegnest, stich einfach den Degen hinein, wie eine Nadel in ein Nadelkissen. Die Elektrizität besorgt dann den Rest.“

„Elektrizität?“, fragte Ellie, obwohl es bei näherem Nachdenken wirklich offensichtlich war.

„Selbstverständlich. Wir haben doch gesehen, wie wirkungsvoll ein aufgestauter Blitz gegen diese Geschöpfe ist.“ Winnie klemmte die Drähte, die von einem der Degen baumelten, an ein Paar Bolzen an einer der Urnen. Dann schlüpfte sie mit dem Arm durch die Riemen der Batterie und schnallte sie sich fest auf den Rücken. Sie hielt den Degen in die Höhe, der an die Batterie angeschlossen war, drückte einen Knopf an dem hölzernen Griff, und von der Degenspitze sprang ein Funke. „Achte darauf, das Metall nicht mit bloßen Händen anzufassen, ja? Diese Degen können Schlimmeres anrichten als jemanden aufzuschlitzen.“ Sie ließ den Degen durch die Luft zischen und grinste. „Was gibt es Schöneres als den Geruch von Elektrizität am Abend?“