Flucht aus dem mechanischen Bordell!
Natürlich rannte Ellie, denn sie wusste, wie eine Drohung klang, mochte sie auch noch so freundlich formuliert sein. Sie schlug die Tür hinter sich zu und hetzte den Flur entlang zur Treppe. Während sie lief, gingen im Flur mehrere Türen auf, und es erschienen mechanische Kurtisanen.
Sie hatte nicht gewusst, dass sie gehen konnten. Wahrscheinlich mussten sie es auch nicht oft, doch jetzt taten sie es. Nackt oder halb in Unterwäsche traten sie heraus und bewegten sich in Zweierreihen, um ihr den Weg zur Treppe zu versperren. Männer riefen wütend aus einigen Zimmern, weil ihre mechanischen Geliebten sie inmitten ihrer Fleischeslust verlassen hatten. Obwohl für „Fleischeslust“ eigentlich beide Beteiligten aus Fleisch und Blut sein mussten, dachte Ellie.
Sie erwog, die Kurtisanen einfach beiseite zu stoßen, aber es waren etwa ein halbes Dutzend. Noch standen sie geduldig und mit ausdruckslosen Gesichtern vor ihr. Was, wenn sie Ellie festhielten? Die Vorstellung, von solchen Geschöpfen angefasst zu werden, vor allem von denen, die gerade erst von Männern angefasst worden waren, ekelte sie. Sie wandte sich in die andere Richtung, obwohl am Ende des Korridors nur ein Samtvorhang war. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was dahinter wartete, glaubte sie nicht, dass es schlimmer sein konnte als eine kleine Armee von mechanischen Frauen. Merkwürdigerweise kam Sir Bertram nicht aus seinem Zimmer, um sie zu verfolgen. Vielleicht fürchtete er, dass noch jemand seine Anwesenheit hier bemerken könnte? Viele hielten den Mann für den inoffiziellen Gemahl von Königin Victoria, manch ein Witzbold nannte die Königin sogar „Mrs. Oswald“. Wenn er nun in einem äußerst verrufenen Etablissement in flagranti dabei ertappt wurde, wie er die Innereien einer mechanischen Kurtisane bearbeitete – das würde einen gewaltigen Skandal geben!
Aber jetzt war keine Zeit, über ihre Reportage nachzudenken. Ellie rannte auf den Vorhang zu, riss ihn zur Seite und fand eine Treppe. Während sie hinaufeilte, hörte sie unten im Flur menschliche Stimmen rufen. Waren es nur empörte Kunden oder die unvermeidlichen Schlägertypen, die solche Häuser überwachten? Männer wie Crippen? Die Treppe führte um die Ecke hinauf in den zweiten Stock, wo ein weiterer Samtvorhang hing. Ellie spähte an der fadenscheinigen Barriere vorbei und sah nur einen weiteren Korridor, ähnlich dem, aus dem sie gekommen war. Alle Türen außer einer auf der linken Seite am Ende des Korridors waren geschlossen. Sie rannte den Flur hinunter und schaute in das Zimmer. Es war ähnlich eingerichtet wie die anderen Boudoirs, doch zurzeit hielten sich weder Mensch noch Maschine hier auf. Ellie zog die Tür hinter sich zu und lauschte konzentriert.
Schritte polterten die Treppe hoch, und eine Männerstimme sagte: „Er muss sich hier irgendwo versteckt haben. Durchsucht die Zimmer!“
Sie stürzte ans Fenster in der Hoffnung, ein Sims zu finden, auf dem sie stehen konnte. Doch als sie die Gardinen beiseite zog, sah sie, dass es kein Fenster gab. Man hatte es zugenagelt, und die Nägel waren so tief hineingeschlagen worden, dass sie sich nicht herausziehen ließen. Sie hörte, wie weiter vorn im Flur die Türen geöffnet wurden. Bald würden sie bei ihr ankommen, und dann …
Ellie schloss einen Moment die Augen. Sie suchten einen Mann. Nun gut. Sie musste lediglich dafür sorgen, dass sie keinen Mann fanden.
Sie riss ihren falschen Schnurbart ab und stopfte ihn in ihre Manteltasche. Dann zog sie Mantel, Weste, Hemd, Schuhe und Strümpfe aus, öffnete ihre Hosen und stieg aus ihrer Unterwäsche. Sie wickelte sich aus den Bandagen, die ihre Brüste eingeschnürt hatten. Sie waren tatsächlich schlimmer als ein Korsett, und sie war zumindest froh, sie los zu sein. Dann schob sie schnell den Kleiderhaufen tief unters Bett. Jetzt konnte sie sich einfach ins Bett legen und so tun, als sei sie eine ausgeschaltete Maschine, die Decken so drapiert, dass sie anständig bedeckt war.
Ihr Haar. Natürlich hatten alle Modelle langes Haar. Sie ging zur Seemannskiste am Fußende des Bettes, obwohl sie fürchtete, dass ihre Hoffnung vergebens sein würde. Schließlich hatte die Kurtisane, die sie untersucht hatte, keine Perücke getragen, man hatte die Haare an die Kopfhaut genäht.
Trotzdem fand sie tief unten in der Kiste, unter den Rüschen und Lederstücken, eine blonde Perücke, ein Paar viel zu großer Pumps und ein Korsett, das groß genug für einen Gorilla gewesen wäre. Wie merkwürdig. Diese Kleidungsstücke passten offensichtlich keiner der mechanischen Frauen, aber wem dann?
In der Nähe ging krachend eine Tür auf. Ellie zog sich hastig die Perücke auf und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wer sie wohl vor ihr getragen hatte. Prüfend sah sie sich in einem der Spiegel an und rückte die Perücke zurecht. Sie versuchte, ihren nackten Körper zu ignorieren, den sie ganz gewiss noch nie so eingehend im Spiegel betrachtet hatte. Ellie hatte keine so üppige Figur wie das Modell Delilah. Aber auf einigen der Zeichnungen waren auch dünnere Modelle abgebildet gewesen, deshalb durfte sie hoffen, als mechanische Frau durchzugehen.
Nachdem sie sich noch einen wallenden Seidenschal geschnappt und ihn um den Hals und über ihre Brüste gelegt hatte, stieg sie eilig ins Bett. Sie versuchte sich zu erinnern, wie die Kurtisane in ihrem Zimmer dagelegen hatte. Zum Glück war ihre Pose nicht allzu anzüglich gewesen, sondern fast sittsam, wie eine schlafende Frau, und sie musste sich ebenso schlafend stellen. Sie streckte sich auf der Tagesdecke aus, in der Hoffnung, dass die Bettwäsche zwischen den Besuchen gewaschen wurde, obwohl sie ahnte, dass dem nicht so war. Dann legte sie den Kopf aufs Kissen. Offene oder geschlossene Augen? Sie entschied sich für einen schläfrigen Blick und halbgeschlossene Augen, sodass sie weiterhin die Tür beobachten konnte. Die mechanischen Frauen schienen zu atmen und sich sogar zu bewegen, Imitation der Lebenden – jetzt musste sie deren Imitation imitieren. Zum Glück war die alchemistische Lampe auf der Kommode relativ schwach.
Während sie darauf wartete, dass man sie fand, dachte sie darüber nach, wie viel von dem Erlebten sie in ihrem Artikel verarbeiten konnte. Herzlich wenig, wenn Cooper weiterhin darauf bestand, einen „Gentleman“ als Verfasser anzugeben. Er würde mehr Zeitungen verkaufen, wenn er zugab, dass eine Frau die Reportage gemacht hatte, aber er würde damit auch riskieren, dass man ihn im Parlament anschwärzte. Die Geschichte stieß ohnehin an die Grenzen des Schicklichen. Vielleicht sollte sie einen Roman daraus machen.
Nimm dich zusammen, Eleanor, schalt sie sich. In Zeiten großer Anspannung neigte sie dazu, gedanklich in alle Richtungen abzudriften. Sie dachte dann über allerlei Dinge nach, nur nicht über das konkrete Problem. Als sie damals erfahren hatte, dass David in Indien umgekommen war, hatten ihre Gedanken sich von allein praktischen Angelegenheiten zugewandt: Wie sie seiner Familie bei den Beerdigungsvorbereitungen helfen konnte, die Schwierigkeit, ihm eine angemessene Beerdigung zu bereiten, obwohl sie seine sterblichen Überreste nicht wiederbekommen konnten, wie sie seine Mutter und seine Schwestern am besten unterstützen konnte, und so fort. Erst Wochen nach dem Trauergottesdienst hatte der Schmerz sie schließlich eingeholt. Der plötzliche Verlust war über sie hereingebrochen, und mitten im Laden der Hutmacherin hatten ihr die Knie versagt. Die Verkäuferin hatte gedacht, Ellie sei in Ohnmacht gefallen. Leider nein, sie war die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein gewesen. Das war genau das Problem. Wer von starken Gefühlen überwältigt in Ohnmacht fiel, hatte Glück. Ellie war wach und erlebte alles mit.
Die Tür ging auf, und sie zwang sich, still zu liegen. Ihre Konkubine hatte nicht reagiert, bis sie sie angefasst hatte. Sie wusste also, dass auch sie nicht reagieren brauchte, als ein hohlwangiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug eintrat – „Crippler“ Crippen.
Crippen sah hinter die Gardinen, schenkte Ellie aber nicht mehr Beachtung als einer Ziervase oder einer Ottomane. Er ging in die Hocke und sah unters Bett. Ellie verkrampfte sich, weil sie fürchtete, er werde die Männerkleider und den falschen Schnurbart entdecken und seine Schlüsse ziehen. Doch anscheinend war ein Haufen weggeworfener Kleider in diesem Haus kein Grund zur Aufregung, denn er stand wieder auf und wandte sich zur Tür.
Dann hielt er inne, sah auf Ellie herab und grunzte.
Sie gab sich alle Mühe, ruhig liegen zu bleiben und nicht zu blinzeln. Crippen beugte sich über sie und begaffte sie ungeniert. Warum auch nicht? Sie war eine Maschine, sie hatte weder Würde noch Anstand, die man schützen musste. Das war ja gerade der Sinn des Ganzen. Trotzdem bekam sie unter seinem Blick eine Gänsehaut, und noch viel schlimmer wurde es, als er eine Hand nach ihrer Brust ausstreckte.
„Aber, aber, jetzt ist doch keine Zeit, um mit den Puppen zu spielen“, sagte eine barsche Stimme aus dem Flur. „Ich habe alle Zimmer auf der anderen Seite durchsucht, aber der Kerl ist nirgends zu finden. Er muss an den mechanischen Flittchen vorbeigehuscht sein, ehe wir oben waren. Der Alte wird stinkwütend sein, so viel ist sicher.“
„Wen kümmert’s überhaupt, ob irgendein feiner Pinkel in ’ner Gummipuppe rumstochert?“ Crippen stieß Ellie seinen Zeigefinger in die Rippen, um das Gesagte zu veranschaulichen, und sie biss sich in die Backe, um ja nicht aufzuschreien.
„Wie, das weißt du nicht? Der Mann mit den komischen Schutzbrillen ist nicht irgendein Ritter der Königin, Crippler. Sie leiht ihm ihr Ohr.“
„Ha. Leiht sie ihm sonst noch was?“, sagte Crippen. „Irgendwelche Körperteile? Vielleicht kommt er hierher, weil Vicky es nicht schafft, ihn …“
Zu Ellies Überraschung kam der Mann zu Crippen herüber und zischte lauernd: „Sachte, Kumpel. Zieh nicht unsere Herrscherin in den Schmutz. Sie ist unsre Mutter, oder etwa nicht?“
„Sie hat neun Kinder, aber ich gehör’ nicht dazu“, meinte Crippen. „Ich wusste nicht, dass du sie so lieb hast.“
„Hüte deine Zunge“, sagte der Mann finster und stürmte aus dem Zimmer. Crippen lachte in sich hinein und zog hinter ihnen die Tür zu, sodass Ellie allein zurückblieb.
Das zumindest war überstanden.
Was jetzt?
* * *
„Charles!“ brüllte Ellie, schlug eine Tür auf erschreckte den Mann im Zimmer. Er war mindestens Mitte fünfzig und blass wie eine Schäfchenwolke, mit einem ähnlich formlosen Körper. Er fiel von der mechanischen Frau herunter, die er geritten hatte, und landete auf der anderen Seite neben dem Bett, wo er sich duckte. Ellie stampfte weiter ins nächste Zimmer, während sie sich ihr langes blondes Haar aus dem Gesicht schob. Sie hatte sich ausstaffiert, so gut sie konnte. Das Züchtigste, das sie im Zimmer der Kurtisane hatte finden können, war ein Abendkleid aus Satin gewesen, das eher in einen Ballsaal gepasst hätte als in ein Boudoir. Auf dem Kleid waren ein paar kleine Flecken, über deren Herkunft sie nicht allzu genau nachdenken wollte. Wer hätte gedacht, dass Männer so aufwendige Fantasien hatten? Das Kleid passte ihr nicht besonders gut, und sie hatte die falsche Unterwäsche an, aber sie konnte es tragen. Bei ihrer offensichtlichen Erregung würde es gewiss nicht auffallen, wenn ihre Kleidung etwas derangiert war.
Sie stieß die nächste Tür auf. „Charles, ich weiß dass du hier bist, du unwürdiges Tier, du elender Schürzenjäger!“
„Madam!“ Der Mann, der sie ins Haus gelassen hatte, kam durch den Flur auf sie zugeeilt, und Ellie verspürte einen Anflug von Furcht, dass er sie erkennen könnte. Aber er sah, was er sehen sollte: Eine wutentbrannte Frau, die ihren Mann suchte.
„Ich möchte sofort meinen Mann sehen“, sagte sie eisig.
„Madam, es tut mir außerordentlich leid, aber ich versichere Ihnen, dass kein Mann mit Namen Charles heute Abend hier ist. Wenn Sie möchten, kann ich eine Nachricht an ihn weitergeben, falls er …“
„Als ob ich jemandem eine Nachricht anvertrauen würde, der hier arbeitet, in dieser – dieser Lasterhöhle!“
Er zuckte zusammen. „Madam, bitte, ich kann Ihren Kummer verstehen, doch Sie haben ganz recht – dies ist kein geeigneter Ort für eine Dame.“
Ellie machte eine große Schau daraus darzustellen, wie sie sich mühsam beruhigte und ihre Emotionen bezwang. „Ja. Gut. Sie haben sicherlich recht. Ich sollte … Vielleicht sollte ich lieber gehen.“
„Bitte, erlauben Sie mir, Sie hinauszugeleiten.“ Er nahm sie behutsam beim Arm und führte sie die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, Gott sei Dank in Richtung Eingangstür. „Wenn ich fragen darf, Madam, wie sind Sie in das Gebäude gelangt?“
„Ich habe an die Tür geklopft, doch niemand öffnete. Ich habe es mit dem Türknauf probiert, und sie ging einfach auf. Ich hörte Geschrei von oben, es gab wohl einen Tumult?“
Er errötete. „Ja, Madam. Einer unserer Gäste hatte einen Unfall. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass es nichts Ernstes war.“
Ellie schwieg, während sie zur Haustür gingen. Der Mann legte die Hand an den Türknauf, dann zögerte er. Sie fürchtete, dass er sie doch noch erkannt hatte. Doch er sah lediglich zur Decke hinauf und sagte mit leiser, besorgter Stimme: „Ich hoffe, Madam werden mir verzeihen, dass ich das sage, da es mir wohl kaum zusteht, doch Männer haben gewisse Bedürfnisse. Ist es nicht besser, wenn Ihr Mann diese Bedürfnisse hier befriedigt, in einer sicheren, sauberen Einrichtung, wo er keinerlei schlimme Folgen erleidet, als wenn er unter weniger zuträglichen Umständen seine Befriedigung sucht?“
„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Ansichten über meinen Mann für sich behielten, Sir“, antwortete Ellie frostig und mit ihrer besten Matronenstimme. Der Mann seufzte, nickte und öffnete die Tür.
Ellie trat hinaus und ging vornehm und würdevoll bis zur nächsten Gasse. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand zusah, huschte sie in eine dunkle Ecke und schälte sich aus dem Kleid. Darunter trug sie den Anzug, den Mr. James ihr zur Verfügung gestellt hatte. Das Sakko hatte sie sich an den Ärmeln um die Hüfte gebunden. Sie schob das Kleid in einen großen Müllhaufen. Die Perücke auch, obwohl sie hier zögerte. Sie war von guter Qualität, und ihr eigenes Haar war wirklich sehr kurz. Doch es war besser, wenn zwischen ihr und dem Bordell keinerlei Verbindung mehr bestand. Sie hatte ihre Brüste nicht wieder umwickelt. Obwohl ihr Sakko so weit geschnitten war, dass sie nicht allzu offensichtlich weiblich aussah, war sie dennoch besorgt, dass ihre Verkleidung nicht überzeugen könnte. Ihr Schnurrbart ließ sich nicht mehr ankleben, da der Klebstoff aus Kiefernteer und Alkohol seine Wirkungskraft verloren hatte. Sie sich zog den Hut tief ins Gesicht, schaute zu Boden und ging so zügig wie möglich zu Mr. James’ Laden, um ihre eigenen Kleider wiederzubekommen. Sie würde ihrem lieben Onkel nichts von ihrem gefährlichen Erlebnis erzählen und auch nicht ihrem Chefredakteur. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Ellie war losgezogen, um ein paar schlüpfrige Anekdoten für die Zeitung zu suchen. Dabei war sie über eine mysteriöse Verbindung zwischen dem augenscheinlichen Besitzer des Bordells, dem berüchtigten Verbrecher Abel Value, und Bertram Oswald, dem engsten Vertrauten der Königin gestolpert. Ein unpassenderes Paar konnte sie sich kaum vorstellen.
Jetzt musste sie nur noch herausfinden, welcher Art diese Verbindung war. Obwohl sie versuchte, große Schritte zu machen und einen männlichen Gang zu imitieren, merkte sie, wie sie beinahe vor sich hin hüpfte. Sie hätte sich eigentlich fürchten sollen, aber da wartete eine Geschichte auf sie. Die alte Jungfer Eleanor Skyler hätte sich vielleicht gefürchtet, aber die Journalistin E. Skye mochte nichts lieber als eine gute Geschichte.