Fesselung

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Die Fahrt war natürlich peinlich. Zusammen mit Carrington und zwei seiner mechanischen Frauen hatten sie sich in eine geschlossene Kutsche gezwängt, alle unangenehm eng zusammengepfercht. Um auf diesem engen Raum für Ordnung zu sorgen, vertraute Carrington auf seine Pistole, die er diskret auf Winnies Bauchgegend gerichtet hielt. Ellie war ein wenig beleidigt, dass er Winnie offensichtlich als die größere Gefahr betrachtete. Allerdings war diese Annahme begründet, wenn man bedachte, wie verschieden sie sich beim Picknick verhalten hatten. Eine Weile polterten sie über das Pflaster, ohne sich zu unterhalten, doch schließlich hielt Ellie es nicht mehr aus und fing zu sprechen an. „Mr. Carrington, das war doch Ihr Name, nicht wahr? Wie kamen Sie dazu, für Mr. Oswald zu arbeiten?“

Er bewegte die Pistole in ihre Richtung. „Seien Sie ruhig, Miss Skye. Ich bin nicht in der Stimmung für Interviews.“

Winnie schnaubte. „Warum sollten wir nichts sagen? Sie werden uns schon nicht erschießen. Jedenfalls nicht hier und jetzt. Sie sind ein Sekretär. Allein dürfen Sie keine Entscheidungen treffen, und Oswald will uns schließlich lebend sehen.“

Ein Muskel in Carringtons Wange zuckte. „Gut. Plaudern Sie drauflos, die Damen. Aber erwarten Sie keine Antworten von mir.“

„Ich mache mir Notizen, wissen Sie“, sagte Ellie. „Ich bin Reporterin. Ich habe meine Beobachtungen und meine Vermutungen aufgeschrieben. Wenn mir etwas zustößt und diese Notizen gefunden werden, wird man Fragen stellen.“

Carrington gluckste. „Wenn man bedenkt, was bald in dieser Stadt passieren wird, wird das Verschwinden einer lästigen Reporterin kaum noch jemanden kümmern.“

„Was meinen Sie?“, wollte Winnie wissen. „Was wird passieren?“

„Was fragen Sie mich?“, meinte Carrington. „Ich bin nur der Sekretär. Sprechen Sie noch einmal, und ich werde dafür sorgen, dass die mechanischen Frauen Ihnen die Hand vor den Mund halten. Denken Sie nur einmal darüber nach, wo diese Hände schon gewesen sind und was sie wohl als Letztes angefasst haben, ehe Sie entscheiden, ob Sie mich auf die Probe stellen wollen. Hmm?“

Ellie schüttelte sich, doch sie verstummte. Sie hatte angenommen, dass Oswalds Interesse an ihr lediglich darin begründet lag, dass er sie zum Schweigen bringen und sie davon abhalten wollte, seine Verbindung zu den mechanischen Bordellen und zu Verbrechern wie Abel Value ans Licht zu bringen. Doch was, wenn es noch ein tiefer liegendes Motiv gab? Was, wenn Oswald in Schlimmeres verwickelt war als die Spielerei mit mechanischen Huren? Das allein wäre schon blamabel gewesen, doch es war nicht illegal und schien kaum eine Reaktion zu rechtfertigen, die eine Entführung einschloss. Ihr journalistischer Instinkt kribbelte nicht nur, sondern schrie geradezu. Hier gab es eine Story. Eine wichtige Story. Sie befand sich in einer verblüffend günstigen Position, diese Story zu schreiben. Vorausgesetzt, sie lebte lang genug.

* * *

Pimm klopfte an die Tür und betrat Whistlers Büro. Der Polizist sah von einem Haufen Papiere auf seinem unordentlichen Schreibtisch auf und runzelte die Stirn. Sein Haar war durcheinander und vor Erschöpfung hatte er dunkle Ringe unter den Augen. „Pimm? Wie haben Sie so schnell davon gehört?“

Die Wärme, die der soeben genossene Brandy ihm eingeflößt hatte, verflüchtigte sich. „Wovon gehört?“

Whistler lehnte sich in seinem knarrenden Stuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Oh. Ich dachte ... Es ist unser Mr. Worth, der Frauenmörder. Er weilt nicht mehr unter uns.“

Pimm starrte ihn an. „Ist er entkommen?“

Whistler schüttelte den Kopf. „Der irdischen Justiz vielleicht. Lag tot in seiner Zelle, als wir heute Morgen nach ihm sahen. Wir hatten noch nicht einmal Gelegenheit, ihn ordentlich zu verhören.“

„Hat er sich umgebracht?“, fragte Pimm. Worth schien kaum von Schuldgefühlen geplagt gewesen zu sein, und in der vorigen Nacht hatte er unbedingt weiterleben wollen, doch der Aufenthalt in einer dunklen Zelle konnte natürlich einen Sinneswandel herbeiführen. Pimm wäre enttäuscht gewesen, einen möglichen Zeugen gegen Value zu verlieren, hätte er nicht gewusst, dass der alte Schuft um sein Leben fürchtete und fliehen wollte.

„Nein“, sagte Whistler. „Dafür gab es keinerlei Anzeichen. Er lag ganz einfach auf dem Boden und war kalt. Ich nehme an, es könnte ein Herzinfarkt gewesen sein.“

Pimm bemerkte Whistlers zweifelnden Ton und hakte nach: „Oder?“

„Wenn ich glaubte, dass jemand ein Motiv hätte“, sagte Whistler vorsichtig, „und dass dieser Jemand Zutritt zu ihm hätte, würde ich vermuten, dass er vergiftet wurde.“

„Ohne die Ehre Ihrer Gefängniswärter in Zweifel ziehen zu wollen“, sagte Pimm, „jemand, der genug zahlt, könnte sich wahrscheinlich Zutritt verschaffen, meinen Sie nicht?“

„Ja.“ Whistlers Stimme war ebenso müde und grimmig wie sein Gesicht. „Sie sagten, Worth könne uns Beweise gegen Value liefern. Glauben Sie, dass Value den Tod des Mannes veranlasst hat?“

Pimm zögerte. Tatsächlich glaubte er es nicht. Value hatte andere Sorgen, die sich vor allem darum drehten, dass Worth etwas über Values wahren Herrn Bertram Oswald ausplaudern könnte. Doch Pimm hatte bei Weitem nicht genügend Beweise, um im Büro eines Londoner Polizeiinspektors Oswalds Namen zu nennen. „Ich halte es für möglich“, meinte er. Dies gab ihm wenigstens einen Anknüpfungspunkt, um die Frage zu stellen, derentwegen er eigentlich gekommen war. „Was wissen wir denn eigentlich wirklich über Value?“

Whistler runzelte die Stirn. „Ich habe hier seine Akte.“ Er öffnete einen Umschlag und ließ einige wenige Dokumente auf den Tisch fallen. „Tatsächlich wissen wir nur recht wenig. Er ist noch nie verhaftet worden, obwohl wir ihn schon oft genug verhört haben. Er gibt vor, ein ehrbarer Geschäftsmann zu sein, und wir wissen, dass er einige Kneipen besitzt. Natürlich auch die mechanischen Bordelle, die penibel im Bereich des Legalen bleiben, völlig frei von menschlichen Prostituierten. Aber wir wissen auch, dass er durch ein kompliziertes Netzwerk von Angestellten noch immer menschliche Frauen auf der Straße beschäftigt. Ich sage, wir wissen es, aber wir können es nicht beweisen. Wir haben außerdem den Verdacht, dass er am Schmuggel beteiligt ist, ebenso an mehreren Diebstählen, doch er persönlich hält sich aus solchen Aktivitäten heraus. Bis jetzt haben wir keinen Zeugen finden können, der gegen ihn ausgesagt hat. Ich sollte Ihnen das eigentlich nicht erzählen, aber Mr. Worths Tod war nicht der erste verdächtige Todesfall, den wir erlebt haben. Sie wissen natürlich über Martinson Bescheid, dessen Tod wie Selbstmord aussah, möglicherweise aber keiner war. Wir hatten auch mit einigen Leuten zu tun, die auf einmal ihre eidesstattlichen Erklärungen widerriefen und kurz darauf in edlen Pelzmänteln gesehen wurden oder wesentlich bessere Zigarren rauchten. Value ist ein organisierter Verbrecher. Er erpresst die Leute, wenn er kann, wenn nicht, tötet er sie. Er ist kein blutrünstiger Irrer. Er sieht manche Menschen als hinderlich oder als förderlich für sein Geschäft an, und dementsprechend behandelt er sie. Dass sie Menschen sind, interessiert ihn nicht.“

„Das passt zu dem, was ich selbst über den Mann weiß“, meinte Pimm. „Aber woher kommt er? Er muss mindestens Mitte vierzig sein. Was war sein Beruf, ehe er ein Meisterverbrecher wurde?“

Whistler zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Wir haben das erste Mal vor, hm, drei Jahren von ihm gehört? Er hat sich über seine Vorgeschichte niemals öffentlich geäußert, sein Akzent lässt allerdings vermuten, dass er schon lange in London lebt. Er scheint voll ausgebildet aufgetaucht zu sein. Wie eine düstere Athene, die dem Kopf eines besonders anrüchigen Zeus entsprungen ist.“

„Er trat genau dann auf den Plan, als gerade die ersten Fälle des Morbus Konstantin diagnostiziert wurden“, meinte Pimm nachdenklich.

„Hmm? Ja, das stimmt wohl.“

„Was wissen wir über die Frau des verstorbenen Mr. Worth?“

Whistler runzelte die Stirn. „Meinen Sie, ob wir sie erreichen können, um sie über Mr. Worths Tod zu benachrichtigen? Sie ist verschwunden, sie war einer der ersten Verwandlungsfälle, von denen wir hörten. Ihr Mann kam wie wahnsinnig zu uns und erzählte, seine Frau sei zum Mann geworden und davongelaufen.“

„Sie war tatsächlich das allererste Opfer“, sagte Pimm. „Zumindest das erste, das gemeldet wurde. Aber ich meinte, was wissen wir über sie, ehe sie verschwand?“

„Mabel Worth“, sagte Whistler. „Sie war berüchtigt. Die Verbrecherklasse nannte sie Madam Worth. In ihrer Jugend war sie selbst Prostituierte gewesen, aber als sie älter wurde, nahm sie eine leitende Stellung ein. Sie führte in Southwark ein Bordell der übelsten Sorte, während ihr Mann eine Gruppe Mädchen überwachte, die draußen auf der Straße arbeiteten. Daran war zu dieser Zeit nichts Illegales. Jedoch gab es immer Gerüchte, dass die Worths sich auf der Straße junge Mädchen vom Lande schnappten, die in der Stadt zu Besuch waren, ihnen Laudanum einflößten und sie zwangen, für sie zu arbeiten. Nach allem, was ich gehört habe, war Madam Worth wesentlich furchterregender als ihr Mann und dafür bekannt, dass sie jeden Kunden, der nicht gleich zahlte, mit der Reitpeitsche verprügelte. Ein übles Weibsstück, dachte immer zuerst an ihren Gewinn, gnadenlos und pragmatisch. Ihr Mann dagegen war eher chaotisch und wurde oft festgenommen, weil er in der Öffentlichkeit trank oder seine Mädchen schlug. Madam Worth war eindeutig die Gefährlichere von beiden.“

„Sie verwandelte sich in einen Mann und verschwand, und nur wenige Wochen später haben sie zum ersten Mal den Namen Abel Value gehört? Mabel Worth verschwindet, und Abel Value taucht auf?“

Whistler starrte ihn an und gab dann einen langen, leisen Pfiff von sich, der seinem Namen alle Ehre machte. „Pimm. Das ist ein großer Gedankensprung, der sich nur auf eine zufällige Namensähnlichkeit gründet.“

„Sowie auf eine zeitliche Übereinstimmung“, sagte Pimm. „Ähnliche Geschäftsinteressen. Die Mentalität der besagten Personen. Madam Worth war eine respekteinflößende Frau in einer Welt, die von respekteinflößenden Männern beherrscht wird, richtig? Die Art von Frau, die ihre Verwandlung in einen Mann wohl nicht als Tragödie sehen würde, als schreckliches Gottesurteil oder als Scherz des Teufels, sondern als eine Chance.“

„Das ist eine interessante Theorie“, sagte Whistler, „Die Idee hat eine angenehme Ebenmäßigkeit. Allerdings hatte Value Geld genug, um diese mechanischen Bordelle zu eröffnen und auszustatten, und das ist nicht gerade billig. Madam Worth war zwar erfolgreich, aber so viel Geld kann sie nicht verdient haben.“

„Vielleicht hatte sie Geldgeber“, überlegte Pimm. „Ihr Mann lebte für einen arbeitslosen Zuhälter ebenfalls auf verdächtig großem Fuß, nicht wahr? Das lässt vermuten, dass irgendjemand auch seinen Lebensstil bezahlt hat, oder?“

„Selbst wenn Madam Worth zu Abel Value geworden ist, weiß ich nicht, ob das irgendetwas ändert. Es gibt kein Gesetz, dass es einem verbietet, sein Geschlecht durch eine Seuche ändern zu lassen, und auch kein Verbot, seinen Namen zu ändern. Wenn Value sein Leben als Madam Worth begonnen hat, bleiben seine Verbrechen trotzdem dieselben. In den Augen anderer Verbrecher würde es wahrscheinlich seinen Status verändern, wenn sie herausfänden, dass er am Anfang seines Lebens eine Frau war, doch rechtlich gesehen …“

„Oh, ich weiß“, meinte Pimm nachdenklich. „Aber soweit ich verstehe, hat das Gesetz entschieden, dass man juristisch gesehen das Geschlecht behält, mit dem man geboren wurde, selbst nach einer Verwandlung. Das heißt dann wohl, dass Value wenigstens die Demütigung erspart bleiben wird, im Newgate-Gefängnis an der Tretmühle zu arbeiten, falls er tatsächlich Mabel Worth ist. Frauen können ja nicht dazu verurteilt werden.“

„Ein verdammt merkwürdiges Gesetz, das fand ich schon immer“, meinte Whistler. „Die Krankheit ist noch nicht einmal ein Scheidungsgrund. Das bedeutet, wenn der Ehemann verwandelt wird, können zwei Frauen miteinander verheiratet sein, oder zwei Männer, falls sich die Frau verwandelt. Obwohl sie rechtlich gesehen wohl noch immer Mann und Frau sind. Kein Wunder, dass so viele ihren Namen ändern, durchbrennen und versuchen unterzutauchen.“

„Das alles liegt im Erbrecht begründet“, entgegnete Pimm achselzuckend. „Wenn die älteste Tochter sich in einen Mann verwandelt, könnte sie vor ihren Brüdern erben, und ein Sohn, der in eine Frau verwandelt wurde, könnte sein Erbe verlieren. Die Reichen haben einen gewissen Einfluss auf die Gesetzgebung, und sie dulden ungern Veränderungen oder Brüche.“

„Das Einzige, das ich von meinem Vater geerbt habe, war eine Taschenuhr“, sagte Whistler. „Aber in einer Familie wie der Ihren fällt so etwas wohl ins Gewicht.“

„Ich bete jeden Tag für die Gesundheit meines älteren Bruders“, meinte Pimm, „damit es nicht ins Gewicht fällt. Sehe ich etwa aus wie ein Marquis?“

„Nein“, meinte Whistler. „Sie haben ein viel zu ausgeprägtes Kinn.“

Pimm erhob sich. „Ich danke Ihnen für die Informationen, alter Freund. Sie haben mir zumindest geholfen, meine Neugierde zu stillen. Vielleicht werde ich einmal in Abel Values Büro vorbeischauen – das heißt, in dem letzten mir bekannten – und ihn wissen lassen, dass sein Ehemann unglücklicherweise verschieden ist.“

„Gesetzt den Fall, Worth ist wirklich Values verstorbener Ehemann“, sagte Whistler. „Vorausgesetzt, Value hat den Mann nicht selbst ermorden lassen.“

„Das Schöne daran, ein unabhängiger Ermittler zu sein“, meinte Pimm, „ist, dass ich allein aufgrund von Mutmaßungen fröhlich meine Ziele verfolgen kann. Ich muss nicht wie Sie auf lästige Einzelheiten wie Beweise und Indizien Rücksicht nehmen.“

„Tatsächlich? Ich dachte, das Schöne an ihrer unabhängigen Tätigkeit sei die Freiheit, sich schon vor dem Mittagessen zu betrinken.“

Pimm zog eine Grimasse und zwang sich dann zu einem Lächeln. Er hatte versucht, sehr deutlich, langsam und ruhig zu sprechen, doch eine übertrieben deutliche Aussprache konnte für den Trinker ebenso verräterisch sein wie Lallen. „Ich weiß nicht, wie Sie es schaffen. Diese Arbeit, völlig nüchtern? Das hält man doch im Kopf nicht aus.“