Ein bemerkenswerter Gefangener

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Bist du bewaffnet, Ben?“ Pimm betrachtete blinzelnd den gedrungenen grauen Klotz von einem Lagerhaus, der im Dämmerlicht des späten Nachmittags vor ihnen aufragte wie ein Tempel dunkler Götter. Die Geräusche von den Londoner Docks waren nur noch schwach zu vernehmen, wie Echos aus einer anderen Welt.

„Ich habe einen Totschläger“, sagte Ben und tätschelte seine Jackentasche. „Aber meistens reichen meine Fäuste. Manchmal auch die bloße Drohung, sie einzusetzen.“

„Ich sehe, es hat Vorteile, ein ungewöhnlich großer Mensch zu sein“, sagte Pimm.

„Wie alles hat es gute und schlechte Seiten“, meinte Ben philosophisch. „Nun denn, wollen wir zum Seiteneingang schleichen?“

Pimm ließ Ben vorangehen, und sie bogen ungesehen zu einer Seite des langen Lagerhauses ab. Er war frohen Mutes, Beweise für Oswalds niederträchtige Taten finden zu können. Ben zufolge besaß dieser hier ein Büro und beaufsichtigte die Konstruktion seiner Kurtisanen gern persönlich. Ben hatte Oswald einmal in ein Wirtschaftsbuch schreiben sehen, das er danach in seinen Schreibtisch gelegt hatte. Natürlich war es möglich, dass das Wirtschaftsbuch nur eine Liste der Lieferungen oder andere unverfängliche Informationen enthielt. Doch Pimm hatte das Gefühl, gute Chancen zu haben, etwas Brauchbares zu finden. Ihm schwirrte der Kopf, als hätte er zu viel Sekt getrunken. Das war merkwürdig, denn seiner Meinung nach hatte er insgesamt eher zu wenig getrunken. Es war wahrscheinlich bloß die alte Jagdlust.

Sie schlichen, so gut ein Mann mit Gehstock und ein weiterer Mann von der Größe eines Ackergauls eben schleichen können, an der ausgebleichten Holzwand des Lagerhauses entlang. „Da sind wir.“ Ben versuchte, die kleine Tür zu entriegeln, doch sie war abgeschlossen. „Das macht nichts, der Türrahmen ist etwas verzogen“, sagte Ben. „Man kommt trotzdem rein, wenn man den Trick kennt.“ Er ergriff den Türknauf und zog fest daran, so dass zwischen Tür und Rahmen ein Spalt entstand, der beinahe fingerbreit war. Ben ächzte angestrengt, an seinem Hals zeichneten sich die Muskeln ab, bis er schließlich die Verriegelung soweit aus ihrem Rahmen gezogen hatte, dass die Tür aufsprang. Ben wankte noch nicht einmal rückwärts, um ihr aus dem Weg zu gehen.

„Man sieht, dass du Übung hast.“

Ben zuckte die Achseln. „Sie sollten erst einmal sehen, was ich mit einer Metalltür anstellen kann. Ich komme fast überall hinein, solange es Ihnen nichts ausmacht, dass die Tür danach nie wieder richtig schließt.“

Pimm spähte hinein, doch er sah nichts als Dunkelheit. „Was erwartet uns dort drinnen?“

„Es ist in Räume unterteilt, mit Wänden, die aber nicht ganz bis zur Decke reichen“, sagte Ben. „Oswalds Büro ist im hinteren Eck. Die Kurtisanen werden näher an der Vorderseite gebaut. Der Rest des Gebäudes enthält hauptsächlich Ersatzteile und allerlei Gerümpel von den früheren Besitzern, kaputte Motorenteile und solches Zeug.“

„Denkst du, es ist jetzt jemand hier?“

Ben zuckte die Schultern. „Scheint ruhig zu sein.“

„Ja. Dann mal los mit dem Einbruch, würde ich sagen.“ Pimm glitt ins Halbdunkel, Ben folgte ihm und zog die Tür zu. Sie warteten einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Obwohl das einzige Licht durch die staubigen Fenster hoch oben fiel, konnte Pimm bald die Formen von Wänden und Geräte- oder Müllhaufen erkennen sowie einen Pfad aus Fußspuren, der sich im Staub am Boden zeigte. Er folgte dem Pfad und fühlte sich dabei absurderweise wie Lederstrumpf, der im Wald einer Beute auf der Spur ist. An der hinteren Wand hatte man einen kleinen Raum gebaut, ein rechteckiges Büro mit Fenstern. Es stand auf einem erhöhten Podest, wahrscheinlich, damit ein Aufseher die unten schuftenden Arbeiter im Auge behalten konnte. „Oswalds Büro“, sagte Ben. Das Büro war ebenso dunkel wie der Rest des Lagerhauses, und Pimm und Ben bewegten sich auf die Stufen zu, die zur Tür hoch führten.

Aus der Dunkelheit des Raums unter dem Podest rief ihnen eine Stimme zu: „Ihr da!“

Pimm und Ben erstarrten, und Pimm betrachtete prüfend etwas, das aussah wie ein Haufen aufeinandergestapelter Holzkisten. Nur dass auf dem Boden, teilweise von einer Plane verdeckt, eine Kiste mit vertikalen Eisenstäben stand. War das etwa eine Art Käfig?

Eine Gestalt in einem weißen Gewand drückte sich gegen die Gitterstäbe und streckte die Hand aus. „Ihr werdet Uns sofort freilassen“, sagte der Mann, der sich darin befand, in einem Ton, der keinen Ungehorsam duldete.

„Du hältst Wache“, flüsterte Pimm Ben zu. „Jeder Gefangene Oswalds ist ein möglicher Verbündeter für uns.“

Ben grunzte und verschwand im Dunkeln, während Pimm zu dem Kistenstapel ging, der zuunterst tatsächlich von einem Eisenkäfig gestützt wurde. Der Käfig war riesig, ein Nilpferd hätte bequem hinein gepasst. Pimm griff in seine Tasche und zog ein winziges alchemistisches Licht von der Größe einer Taschenuhr heraus. Er öffnete den Deckel, um den Käfig zu beleuchten und die Insassen des Käfigs genauer zu betrachten. Wie sich herausstellte, nur den Insassen, denn soweit er sehen konnte, befand sich im Käfig nur ein einzelner Mann. Es handelte sich um einen untersetzten Mann mittleren Alters, der einen schmutzigen Schlafrock trug. Seine Augen waren tiefblau, seine Wangen voller Bartstoppeln und vor Anstrengung oder Empörung gerötet. Pimm vermutete Letzteres. Sein Doppelkinn ging in seine Wangen über. Er blinzelte im Licht. „Ihr seid der jüngste Sohn des Marquis von Bredon, nicht wahr?“

Pimm runzelte die Stirn. „Sir, ich weiß leider nicht, wer Sie …“

Der Mann im Käfig richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Obwohl er nur etwa anderthalb Meter groß war, gelang es ihm dennoch irgendwie, den Eindruck zu erwecken, er sähe auf Pimm herab. Wenn nicht aus tatsächlicher Höhe, dann zumindest aus einer hohen gesellschaftlichen Position heraus. „Es ist Euch nicht erlaubt, Eure Herrscherin in diesem lässigen Ton anzusprechen.“

„Herrscherin?“, meinte Pimm schwach.

„Wir sind Ihre Königliche Hoheit Königin Victoria, Prinzessin von Hannover, Sachsen-Coburg und Gotha, Herzogin von Sachsen, Brunswick und Lüneburg. Ihr dürft Uns als ‚Eure Majestät‘ ansprechen. Wir bestehen darauf, dass Ihr Uns augenblicklich freilasst.“

„Verzeiht, Eure Majestät“, sagte Pimm matt, „Ich habe Euch nicht erkannt.“

War das hier bloß ein Verrückter oder die Königin selbst, die von Oswalds schrecklicher Seuche verändert worden war? Pimm befürchtete es. Das wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit, die Königin zu ersetzen, ohne sie zu ermorden: Ihr Geschlecht zu ändern und sie aus der königlichen Residenz herauszuschmuggeln. Der Palast war voll von Männern mittleren Alters, die unergründlichen Geschäften nachgingen. Ein weiterer würde kaum auffallen, vor allem nicht, wenn er unter Beruhigungsmitteln stand oder infolge der Krankheit schwach und orientierungslos war und von einem Arzt wie Oswald begleitet wurde. Selbst wenn das Opfer sich befreite und durch die Flure lief, würde ein tobender Mann, der behauptete, die Königin von England zu sein, mit Sicherheit eilends aus dem Palast entfernt werden. Oswald hätte die Königin während eines Treffens unter vier Augen vergiften und dann einfach ihre mechanische Doppelgängerin aus einer Kiste packen können, während die echte Königin die Verwandlung durchlief.

„Wir sind erkrankt“, sagte Ihre Majestät. „Wir wurden verraten. Lasst Uns frei.“

„Ich habe nichts damit zu tun, dass Ihr eingesperrt wurdet, Eure Majestät, und ich habe keinen Schlüssel für dieses Gefängnis, doch ich werde mich bemühen, ihn unverzüglich zu finden.“ Freddy hatte ein Händchen dafür, Schlösser zu knacken, doch Pimm war in diesen Dingen nie besonders gut gewesen. Seine Hände waren meist etwas zittrig, weil er entweder zu wenig oder zu viel getrunken hatte. Dazwischen gab es jeden Tag nur eine kurze Zeitspanne, in der seine Motorik ausgeglichen war. Er hatte nie genügend Geduld besessen, diesen Nachteil zu überwinden, um seine Einbruchskünste zu verbessern. In der Regel war es leichter, jemanden durch Überredung dazu zu bringen, ihn einzulassen. „Vielleicht gibt es im Büro einen Schlüssel.“

„So geht und nehmt Mr. Oswald fest“, sagte die Königin. „Er besitzt den Schlüssel. Wir werden dafür sorgen, dass man ihn wegen Hochverrats hinrichtet.“

Pimm blieb reglos stehen und ließ den Deckel seiner Lampe zuschnappen. „Wollt Ihr damit etwa sagen, dass Sir Bertram …“

„Mr. Oswald“, sagte die Königin und versuchte gar nicht erst, ihre Stimme zu dämpfen, „Seinen Adelstitel werden Wir ihm natürlich aberkennen.“

„Ja, natürlich, Eure Majestät, aber meint Ihr etwa, dass er hier ist? Im Lagerhaus? In diesem Augenblick?“

„Das bin ich in der Tat“, schnurrte eine Stimme aus dem Dunkeln hinter ihm.

Pimm wandte sich um und griff dabei in seine Tasche, um eine von Freddys Waffen herauszuziehen, doch dann blickte er in den Lauf einer merkwürdig aussehenden Waffe. Es war weniger eine Pistole als ein Konstrukt aus Rohren und Ventilen. Die Gestalt im Halbdunkel, die die Waffe hielt, musste Oswald sein.

„Wissen Sie, was mein Spezialgebiet als Wissenschaftler ist?“, fragte Oswald. Seine Stimme klang seltsam gedämpft, als trüge er eine Art Maske.

„Ich glaube, pneumatische Chemie“, erwiderte Pimm.

„Sehr gut“, meinte Oswald. „Das bedeutet selbstverständlich, dass ich Gase studiere. Ich kann ausgezeichnet mit Gasen umgehen.“ Ein feiner Nebel begann zischend aus dem Lauf der seltsamen Waffe zu strömen, und Pimm wurde es so schwindlig wie sonst nur bei der dritten Flasche Sekt. Dann schien sein Kopf völlig zu schweben und stieg immer höher hinauf in eine warme, einladende Schwärze.