Ermittlungen
Lord Pembroke saß auf einer Bank und sah den Enten zu, die auf der Wasseroberfläche trieben. Ellie hatte auf der Bank hinter ihm Platz genommen, so dass sie Rücken an Rücken saßen. Sie hatte eine gute Sicht auf die Bäume und auf die Statue eines Mannes in Militärkleidung, dessen Gesicht ein wenig an einen Frosch erinnerte. „Mein Herr, ich bin froh, dass Sie unsere Verabredung eingehalten haben“, murmelte sie.
Er bewegte sich hinter ihr. Sie konnte ihn im Augenblick nicht sehen, doch als sie sein Gesicht auf der Straße gesehen hatte, waren ihr sein scharfsinniger Blick und seine dunklen Augen aufgefallen sowie das leichte Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Er hatte den Ruf, ein kluger Mann zu sein, aber es fiel ihr schwer, den echten Menschen hinter den Geschichten zu erkennen. Den adligen Detektiv, den zweiten Sohn eines Marquis. Manchen Gerüchten zufolge war er ein unverbesserlicher Trinker, der aus unbekannten Gründen eine Frau ohne Rang und Namen geheiratet hatte, was zu allerlei Vermutungen Anlass gab.
„Ich nehme an, ein Journalist arbeitet so ähnlich wie ein Detektiv“, meinte Lord Pembroke. „Wenn auch mit weniger Regeln.“
„Außerdem mit wesentlich geringerem Risiko. Wenn ich versage, wird irgendeine andere Zeitung die Geschichte drucken. Wenn ein Detektiv versagt, entkommt der Übeltäter seiner Strafe, und die Opfer werden um ihr Recht gebracht.“
„Miss Skyler – oder soll ich Miss Skye sagen, da Sie beruflich hier sind?“ Ellie antwortete nicht. Sie war freudig überrascht, dass er ihr Autorenkürzel kannte. „Ich habe für Journalisten nur Respekt übrig. Als Ausdruck dieses Respekts würde ich mich freuen, Ihnen ein exklusives Interview über meinen aktuellen Fall zu geben, sobald er abgeschlossen ist.“
„Was für ein Fall ist das, Sir?“
Lord Pembroke seufzte. „Im Austausch für dieses Interview bitte ich Sie lediglich, in Ihrem Artikel Mr. Values Namen nicht zu erwähnen.“
„Warum wollen Sie ihn schützen?“
„Ha. Oh nein, Miss Skye. Sie verstehen mich falsch. Ich möchte mich selbst schützen, oder besser gesagt, meine Familie. Meinen lieben Bruder würde der Schlag treffen, wenn der Name unserer Familie mit Mr. Values Namen in Verbindung gebracht würde.“
„Warum stehen Sie dann mit Value in Verbindung? Ich möchte meine Frage wiederholen: Worum geht es bei Ihrem aktuellen Fall?“
„So viele Fragen. Mir war nie klar, wie unangenehm es ist, mit Fragen bombardiert zu werden. Jetzt tun mir all die Menschen leid, die ich im Laufe der Jahre ausgefragt habe. Sagen wir es so: Mr. Values und meine Interessen stimmen im Moment, für eine kurze Zeit, überein. Es ist eine äußerst seltene Übereinstimmung, wie eine seltene Konstellation von Sternen und Planeten, die sich nur einmal in einer Epoche ereignet. Aber ich merke, dass Sie sich nicht zufrieden geben, wenn ich Ihnen nicht auch einige Details verrate. Also: Ein Unbekannter bringt Frauen um, Miss Skye. Fünf wurden bis jetzt gefunden, alle sind innerhalb des letzten Monats ermordet worden. Ich will den Mörder aufhalten, und Mr. Value ist im Besitz einiger Informationen, die mir dies ermöglichen. Das allein ist der Grund für unsere aktuelle Verbindung.“
„Ich habe von keiner Mordserie gehört“, sagte sie. „Der eine oder andere Unfall eines Betrunkenen, ja, aber fünf getötete Frauen? Das würde sicherlich nicht unbemerkt bleiben.“
„Gewisse Mächte sorgen dafür, dass es unbemerkt bleibt. Mehr kann ich nicht sagen. Ich muss doch noch etwas für das exklusive Interview aufheben, das nach Abschluss meiner Ermittlungen stattfinden soll.“
„Sie haben mein Interesse geweckt“, räumte Ellie ein. „Sie werden mich also kontaktieren?“
„Das werde ich. Wenn der Mörder gefasst ist, sind Sie nach der Polizei die Erste, die meine Geschichte zu hören bekommt.“
„Wann, glauben Sie, wird diese Angelegenheit abgeschlossen sein?“
„Ich hoffe, in wenigen Tagen. Vorausgesetzt, er versucht noch einmal zuzuschlagen. Es ist unschön, darauf zu hoffen, dass ein Mörder noch einmal zu morden versucht, aber es ist meine beste Chance, ihn zu finden.“
„Vergessen Sie mich nur nicht“, sagte Ellie.
„Ich glaube nicht, dass man Sie vergessen könnte, Miss Skye.“
Ellie zögerte. „Lord Pembroke, gibt es irgendetwas, das ich tun kann, um zu helfen? Ich habe Verbindungen und Kontakte, die ich bei meiner Arbeit gesammelt habe. Falls ich Sie unterstützen kann …“
„Ich weiß das Angebot zu schätzen.“ Hörte sie da eine Spur von Überraschung in seiner Stimme? Freude? Warum sollte es Ellie überhaupt kümmern, ob er erfreut war? Er war recht ansehnlich und einer der interessantesten Männer, die sie je getroffen hatte, aber was spielte das schon für eine Rolle? Auch der Mond war schön, aber sie würde ihn niemals in ihrem Zimmer stehen haben, warum also sollte sie ihn sich wünschen? „Aber ich glaube, ich habe die Angelegenheit gut im Griff. Wenn sich das ändert, werde ich es Sie jedoch wissen lassen. Ich vermute, ich kann Sie über den Argus erreichen?“
„Das geht in Ordnung.“
„Dann darf ich mich jetzt entschuldigen? Ich habe noch einen Mörder zu fassen.“
„Natürlich.“
Er erhob sich und ging um den Teich davon. Ellie wandte sich auf der Bank um und sah ihm nach. Wenn man bedachte, dass sie ihm im Grunde ein Interview abgepresst hatte, war er bemerkenswert höflich gewesen. Wie sehr ihre Einmischung ihn auch verärgert haben mochte, er hatte sie nicht einmal „Mädchen“ genannt oder ihr gesagt, dass Journalismus nichts für Frauen sei. Die ganze Zeit über hatte er sie als ebenbürtige Gegnerin behandelt. Dieser Respekt war so erfrischend, dass er sie fast berauschte.
Ellie stand auf und rückte ihren Hut zurecht. Die falschen Locken, die sie darunter festgesteckt hatte, sahen fast aus wie ihr echtes Haar, doch sie juckten. Es würde noch Monate dauern, bis ihr Haar wieder nachgewachsen war. Wie auch immer. Sie würde daraus zumindest einen anständigen Artikel machen können, obwohl sie die Notizen, die sie in der Nacht zuvor eilig hingekritzelt hatte, noch ins Reine schreiben musste. Aber es war ihr auch nicht mehr so wichtig, ein paar Anekdoten über das geheime Innenleben der mechanischen Bordelle zu schreiben. Denn jetzt war sie einer richtigen Geschichte auf der Spur.
Sie dachte einen Moment lang nach und sah dabei den Enten zu. Lord Pembroke untersuchte die Morde am Fluss, und Value half ihm, was vermuten ließ, dass die Morde in irgendeiner Weise Values Interessen oder sein Territorium betrafen. Sie beschloss, im Büro vorbeizuschauen und mit einem bestimmten Reporter zu sprechen, der enge Verbindungen zur Polizei hatte. Vielleicht würde er ihr die richtige Richtung für weitere Nachrforschungen weisen können. Nicht dass Ellie Lord Pembrokes Versprechen, ihr ein Interview zu geben, in Frage stellte, aber auf sein Wort allein konnte sie sich natürlich nicht verlassen.
* * *
Pimm stand fröstelnd im Schatten eines schmutzigen Backsteingebäudes, nicht weit entfernt vom stinkenden Bett der Themse. Der Fluss war die Mutter Londons, doch der Fortschritt hatte ihr nicht gut getan. Der gute alte Flussgestank, den Pimm aus seiner Jugend kannte, war scharf und ätzend geworden. Nachts leuchtete das Wasser sogar an manchen Stellen, weil dort sonderbare phosphoreszierende Algen trieben. Unter den Schlammwühlern, die das Strandgut durchstöberten, ging das Gerücht um, dass in der Tiefe seltsame Geschöpfe lebten, die hin und wieder den Bootsleuten die Ruder entrissen oder ein unachtsames Themseweib vom schlammigen Ufer ins Wasser zogen. Miss Skyler hatte doch neulich eine Reportage darüber geschrieben, oder? Pimm nahm sich vor, sie zu lesen, falls Freddy die Zeitung noch nicht weggeworfen hatte. Flussmonster, soso. Doch in dieser Nacht hielt Pimm nach alltäglicheren Gefahren Ausschau.
Leider konnte er sich nur schwer darauf konzentrieren, die Augen offen zu halten und auf den Mörder zu warten. Stattdessen dachte er an Ellie Skyler. Üblicherweise hasste die Polizei Journalisten, weil sie ständig ihre Nasen in Dinge steckten, die sie nichts angingen. Weil sie außerdem laufende Ermittlungen behinderten, indem sie die öffentliche Aufmerksamkeit darauf lenkten und im Allgemeinen niemals mit den Antworten zufrieden waren, die man ihnen gab. Auch Pimm konnte Journalisten an sich nicht besonders gut leiden, weil seine Familie fast alles zu dulden bereit war, solange es unauffällig geschah. Sie akzeptierten sein exzentrisches Verhalten nur, wenn es mit Diskretion einherging. Doch der zweite Sohn eines Marquis, der sich als Detektiv versuchte, gab genau die Art von Geschichte her, die Reporter liebten. Pimm hatte sich resigniert angewöhnt, nur noch freundlich zu lächeln und die Leistung der Polizei zuzuschreiben, wann immer ihn ein Reporter ansprach. Er war unsicher, ob Miss E. Skye seine Ausweichmanöver hinnehmen würde. Es könnte sein, dass sie sich mit Plattitüden nicht zufrieden gab. Was noch schlimmer war: Er wollte womöglich gar nicht, dass sie das tat. Skyler hatte eindeutig einen lebhaften Geist hinter ihrem lieblichen Gesicht, und selbst wenn sie übermäßig neugierig war, nun, er war es auch. Das konnte er ihr kaum …
„Da“, murmelte Big Ben. „Der Bursche sieht verdächtig aus, oder?“
Pimm sah hinüber. Ein Mann in einem langen Überzieher huschte die Straße entlang und hielt sich dabei im Schatten. Er sah sich nervös um, näherte sich einigen Frauen, die in den Hauseingängen lungerten und lockend aus den Gassen riefen, dann zog er sich wieder zurück und eilte weiter. Pimm schüttelte den Kopf. „Nein, er verhält sich zu verdächtig, das würde die Mädchen nervös und wachsam machen. Ihr Kollege Mr. Adams sagte, dass keine der Leichen irgendwelche Kampfesspuren aufwies, abgesehen von Würgemalen am Hals bei denen, die erdrosselt wurden. Unser Mann ist selbstsicher und wird mit Sicherheit entspannt und erfahren wirken. Er nähert sich und übernimmt sogleich die Kontrolle, mit einem äthergetränkten Lappen oder indem er sie niederschlägt, bevor sie schreien können. Dann erstickt er sie.“
„Hört sich nach einem richtig kalten Mistkerl an“, meinte Ben.
„Kälte ist bei Mördern manchmal schlimmer als Hitze. Heißblütige Mörder töten meist nur einmal, in einem schrecklichen Wutanfall. Nach der Tat verlässt sie die Gewalt, sie ebbt einfach ab. Oft kann die Polizei solche Männer mühelos festnehmen, und manchmal weinen die Mörder sogar bereits über den Schaden, den sie angerichtet haben. Aber die kalten Mörder …“ Pimm schüttelte den Kopf. „Sie könnten jede Gräueltat begehen, die man sich vorstellen kann, ohne später auch nur darüber nachzudenken.“
„Dann haben Sie vielleicht Recht mit Ihrer Vermutung, dass es jemand aus der Organisation ist. Mr. Value hat ein paar richtig kalte Mistkerle in seinen Diensten.“
„Zählen Sie sich auch dazu, Ben?“
„Ich?“ Der große Mann hörte sich überrascht an. „Nein, Sir. Ich bin Opfer der Umstände geworden, und die Verbrechen, die ich begangen habe, geschahen immer aus Wut. Ich war mal ein recht respektabler Bursche, der in einem Herrenhaus diente. Meine Schwester war Hausmädchen. Hübsch war sie, bis der junge Herr sich Freiheiten bei ihr herausnehmen wollte und sie sich wehrte. Er hat ihr mit dem Messer das Gesicht aufgeschlitzt. Danach hatte sie eine schreckliche Narbe und war auf einem Auge blind. Ich war damals gerade fünfzehn, aber schon ziemlich stark, und ich war vernarrt in meine Schwester, das war ich. Als ich sah, was der Sohn des Herrn getan hatte …“ Er zuckte die Achseln. „Ich hab ihn nicht umgebracht. Aber er wird nie wieder richtig laufen können. Keiner konnte beweisen, dass ich es war, dafür hatte ich gesorgt, aber trotzdem wusste es jeder, deshalb musste ich fliehen. Ich kam hierher und seitdem hab ich für ziemlich viele miese Burschen gearbeitet. Mr. Value ist auch nicht schlimmer als die meisten anderen, glaube ich.“
„Ben, das ist furchtbar, ich …“
„Ich hätt’s nicht erwähnen sollen“, sagte Ben. „Wir haben noch was zu erledigen, nicht wahr?“
Also warteten sie. Pimm tat sein Bestes, die Straße im Auge zu behalten, ohne dabei die Frauen zu beachten, die mit Männern in den Gassen verschwanden. Wie jeder andere mochte auch er Frauen gern und hatte schon ein paar Nobelbordelle besucht, obwohl das letzte Mal während seiner Studentenzeit in Oxford gewesen war. Doch er verstand nicht, wie man Vergnügen daran finden konnte, in einer dunklen Gasse zu vögeln. Andererseits schleppte er auch nicht den ganzen Tag lang Kisten oder arbeitete in einer Fabrik. Außerdem hatte er daheim mehr zu erwarten als ein paar stinkende Zimmer voller Kinder, die er kaum kannte, und eine Frau, die sich wahrscheinlich nicht besonders freute, dass er heimkam. Vielleicht war ein Augenblick der reinen, blinden, zuckenden Lust das Beste, was sich solche Männer erhoffen konnten, und anziehend genug, dass sie ihre Angst vor der Krankheit überwanden. Es hatte in den letzten Jahren nur ein paar Hundert bestätigter Fälle gegeben, obwohl es sicherlich noch viele mehr gab, die den Ärzten nie gemeldet worden waren.
Die Frauen hatten bestimmt nicht viel Freude an dieser Arbeit in dunklen Gassen. Er hatte gehört, dass einige Mädchen in diesem Geschäft die Arbeit wirklich gern ausübten oder sie zumindest weniger unangenehm fanden als andere Berufe. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas anderes als die pure Verzweiflung eine Frau dazu bewegen konnte, in dieser scheußlichen Gegend für Abel Value zu arbeiten.
Ein schriller Pfiff ertönte dreimal, und Ben und Pimm rannten gemeinsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zweimal kurz und einmal lang, das war das vereinbarte Signal, wenn der Mörder auf frischer Tat ertappt worden war. Die zusammengedrängten Kneipen und Lagerhäuser warfen die Töne zurück, sodass es verflucht schwierig war, ihre Herkunft zu bestimmen. Doch Ben schien genau zu wissen, wohin sie sich wenden mussten, deshalb folgte Pimm ihm auf den Fersen. Vielleicht war es auch ein falscher Alarm, Values Männer waren zur Zeit sehr angespannt. Aber falls nicht, hoffte Pimm von Herzen, dass er Value davon abhalten können würde, den Mörder zu töten. Der Täter musste zur Polizei gebracht werden, und sei es nur, weil die Familien der Opfer ein Recht hatten zu erfahren, dass er gefasst worden war. Wenn der Mann kein Geständnis ablegte, würde man annehmen, dass die Mädchen ganz einfach verschwunden waren, verschlungen von den Straßen der Stadt. War Ungewissheit nicht noch schlimmer als das Wissen, eine Tochter oder Schwester verloren zu haben?
Der Mann, der gepfiffen hatte, keuchte und hielt sich den Oberarm, als sie ihn fanden. Er lehnte an einer Wand neben dem reglosen Körper eines rothaarigen Mädchens, das mit dem Gesicht nach unten in der Gasse lag. „Der Mistkerl hatte ein Messer, hat mich geritzt“, meinte Values Mann und nahm seine Hand weg, unter der eine klaffende Wunde in seinem Bizeps zum Vorschein kam.
„Wo ist er hingelaufen?“, fragte Pimm.
Der Mann wies in eine Richtung, und Ben schüttelte den Kopf. „Den kriegen wir nie, Sir. Fünf Schritte nach der Straßenmündung gibt’s zehn Richtungen, in die er laufen könnte.“
Pimm betrachtete nachdenklich den Mann, der gepfiffen hatte. „Ben, würdest du vielleicht unseren Freund hier untersuchen, um sicherzugehen, dass es ihm gut geht?“
„Ich versteh schon“, sagte Ben. „In Ordnung, Solly, zeig uns deine Taschen, sei ein guter Junge.“ Der große Mann sprach in vollkommen freundlichem Ton. Solly runzelte die Stirn, doch er tat wie ihm geheißen. Er trug nichts bei sich als ein paar Münzen, ein Stückchen Schnur und ein kleines Taschenmesser, das Ben an Pimm weiterreichte. Der Detektiv entnahm seiner Manteltasche ein kleines alchemistisches Gerät, das die Form einer Taschenuhr hatte, und öffnete den Metalldeckel. Ein helles, starkes Licht schien aus dem Gerät und wurde durch eine klare Glaslinse gebündelt. Es war ihm unmöglich, dieses Gerät anzufassen, ohne an Bens angeblichen Cousin zu denken, der bei der Schöpfung eines dieser kleinen Wunderwerke durch ätzende Säure ums Leben gekommen war. Pimm richtete den Lichtstrahl auf das Messer und untersuchte sorgfältig Klinge und Griff. Es war kein Tropfen Blut auf dem Metall oder in den Spalten, und als Pimm die Schneide mit seinem Daumenballen berührte, war sie fast so stumpf wie ein Löffel. Solly trug das Messer wohl eher aus Gewohnheit mit sich herum und nicht, weil er es gebraucht hätte.
„Andere Waffen hat er nicht?“
Ben schüttelte den Kopf. „Ich würde das hier nicht mal als Waffe bezeichnen, M’lord, aber nein.“
„Dann ist es unwahrscheinlich, dass er sich selbst den Schnitt zugefügt hat, um uns in die Irre zu führen.“ Pimm klappte das Messer wieder zusammen und reichte es Ben.
Der andere Mann öffnete empört den Mund, um zu protestieren, doch Ben klopfte ihm auf die Schulter. „Nimm’s ihm nicht übel, Solly. Er tut nur, was Mr. Value von ihm verlangt, und muss alles und jeden verdächtigen.“ Ben begann, dem Mann Fragen zum Aussehen des Mörders zu stellen, während Pimm sich hinkniete, um die Leiche zu untersuchen. Er drehte sie auf den Rücken. Ein hübsches Mädchen, sicher nicht älter als siebzehn, sie sah irisch aus. Ihre weitgeöffneten Augen starrten ins Leere. Pimm beugte sich so dicht über sie, dass er sie hätte küssen können, dann wandte er sich ab. Der Geruch von Äther umwehte noch immer ihr Gesicht. Er legte den Kopf auf ihre Brust und fühlte am Handgelenk nach ihrem Puls, doch sie hatte keinen Herzschlag mehr.
„Ich hab mir nichts dabei gedacht“, meinte der Mann. „Er ging zu ihr wie jeder andere auch, und sie plauderten recht nett miteinander, fast wie alte Freunde. Aber Margaret hier war auch ’ne freundliche Seele. Ich nehme an, sie einigten sich, und dann gingen sie in die Gasse. Ich hätte mir gar nichts dabei gedacht, aber …“ Seine Stimme verlor sich.
„Du bist zur Gasse geschlichen, um zuzugucken“, sagte Ben. Er wandte sich an Pimm. „Solly ist ein Spanner, Sir, jeder weiß das.“
„Ich tu nur meine Pflicht.“ Solly sah zu Boden. „Wache halten. Ich sah, wie er sie gegen die Wand drückte, schien alles in Ordnung zu sein. Aber dann hat er ihr was ins Gesicht gehalten, und sie wurde ganz schlaff, also hab ich gerufen und bin reingerannt. Er kam mir gerade entgegen, holte mit seinem großen Messer nach mir aus, und ich bekam ’nen Schnitt ab. Ich dachte, er würd’ mir den Kopf abschneiden, aber er schien irgendwie zu zögern, und dann hat er sich umgedreht und ist weggerannt. Ich hab so laut gepfiffen, wie ich konnte.“
„Ich denke, der Äther hat sie getötet“, sagte Pimm und legte die Hand an die Wange des Mädchens. Sie war noch warm. „Wahrscheinlich sind einige der anderen Frauen auf dieselbe Weise umgekommen.“
„Glauben Sie, er wird es heut’ Nacht noch mal versuchen?“, sagte Ben.
„Das ist möglich, aber ich glaube, dass er dafür zu vorsichtig ist.“
„Was machen wir jetzt?“, fragte Ben.
Pimm seufzte. „Wir sollten ihre Leiche zu Mr. Adams bringen, und zwar schnell. Am besten noch in dieser Stunde.“
Ben und Solly wechselten einen Blick. Ben zuckte die Schultern. „Wie Sie meinen. Das könnten wir schaffen, wenn wir uns beeilen.“
„Manchmal glaube ich, die Wissenschaft hat der Nekromantie den Rang als dunkelste Kunst abgelaufen“, meinte Pimm und blickte auf die tote Frau herunter. Er fragte sich, ob Adams tatsächlich vollbringen konnte, was er versprochen hatte, und ob er es ihn überhaupt versuchen lassen sollte.
„Ich bin anderer Meinung, Sir“, sagte Ben. „Nein, die Stadt ist so hell wie nie zuvor. Man kann jetzt alles viel deutlicher sehen, und das haben wir nur der Wissenschaft zu verdanken.“
„Ich hab’ die alchemistische Lampe, die meine Alte mitgebracht hat, weggeworfen“, sagte Solly. „Ich hatte vorher nie ’ne Ahnung, wie verdreckt mein Haus war, bis sie dann die Lampe reingestellt hat. Ich konnt’ mich kaum überwinden, mich in meinen eigenen Sessel zu setzen, weil es so ekelhaft war.“ Das sagte ein Mann, der so schmutzig war, dass man in seinen Nasenfalten Korn hätte säen können.
„Keiner hat je behauptet, dass der Fortschritt hübsch wäre“, sagte Pimm und half ihnen, die arme Frau fortzutragen.