Eine wertvolle Befragung
Er wohnt in einer durchaus respektablen Gegend“, sagte Pimm und lugte aus dem Fenster der Droschke, die er seinen ehemaligen Diener Ransome für sie hatte bestellen lassen. Sie befanden sich einige Meilen westlich von Seven Dials. Hier säumten elektrische Laternen die Straßen und erhellten den Innenraum der Droschke so weit, dass die Insassen einander sehen konnten. Sie mussten noch ein gutes Stück zurücklegen, doch zumindest waren die Straßen um diese Uhrzeit relativ leer. Tagsüber war der Verkehr in dieser Gegend fürchterlich, es war dann fast besser, zu Fuß zu gehen. „Was hat dieser Mr. Worth für einen Beruf? Ist er Anwalt? Oder besitzt er ein Geschäft?“
„Wir haben nie über seinen Beruf gesprochen“, sagte Miss Skyler. „Um ehrlich zu sein, schien er in seinem eigenen Haus fehl am Platz, und ich glaube, dass er aus recht bescheidenen Verhältnissen stammt. Mir scheint, dass er erst vor Kurzem zu seinem Vermögen gekommen ist. Wir sprachen vor allem darüber, wie die Verwandlung und das darauffolgende Verschwinden seiner Frau ihn getroffen hatten, und wie verloren und haltlos er sich seitdem fühlte. Er blieb jedoch etwas vage und war nicht besonders wortgewandt. Ich nehme an, dass er zu viel getrunken oder Laudanum genommen hatte. Tatsächlich konnte ich nur sehr wenig von unserem Gespräch für meinen Artikel verwenden. Sehen Sie, die besten Geschichten sind voller Einzelheiten und besonderer Details, und er schien nicht in der Lage zu sein, etwas anderes als Allgemeinheiten von sich zu geben.“
„Er hetzte also nicht lautstark gegen Prostituierte?“
„Nein“, sagte Skyler. „Allerdings schneiden manche Männer diese Themen auch nur ungern an, wenn sie mit einer Frau sprechen. Ich wünschte, ich hätte diese Verkleidung schon früher in meiner Karriere gehabt. Sie hätte mir einen Vorteil verschafft.“
„Ich glaube nicht, dass ihre Karriere ohne Verkleidung gelitten hat. Tatsächlich habe ich ihren Artikel über die Opfer von Morbus Konstantin gelesen. Ich fand ihn ausgesprochen gut geschrieben.“
Pimm hatte aus nachvollziehbaren Gründen ein gewisses Interesse an der Krankheit. Freddy hatte den Artikel ebenfalls gemocht. Trotzdem hatte sie sich darüber beklagt, dass niemand versucht hatte, sie für ein Interview aufzuspüren, weil sie ihre Rolle als Frau so überzeugend spielte. „Nicht dass sie all die Flüche hätten drucken können, die nötig wären, um meine wahren Gefühle auszudrücken“, hatte sie abschließend gesagt. Seitdem hatte Freddy sich jedoch besser an ihre Situation gewöhnt. Auch wenn sie ihr neues Geschlecht nicht voll und ganz begrüßte, hatte sie zumindest entschieden, sich stärker auf die interessanten, neuen Erfahrungen zu konzentrieren, die ein weiblicher Körper mit sich brachte. Einer der Vorteile, eine Frau zu sein, bestand darin, dass man die Menschen sehr viel leichter schockieren konnte. Freddy hatte es immer Freude gemacht, Leute zu schockieren. Die Kehrseite war die furchtbare Missachtung, die Frauen erfuhren, weil man sie für niedere Wesen hielt. Inzwischen bewunderte Freddy jene Frauen, die sich den lähmenden Erwartungen der Gesellschaft entziehen konnten oder sie überwanden. Frauen, die Hindernisse umgingen oder bezwangen, die Pimm noch nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn verstehen konnte.
Frauen, vermutete er, ganz wie Eleanor Skyler.
„Danke“, sagte sie, und errötete sie etwa? Diese Frau war einfach zu reizend. Pimm beschloss, sich so schnell wie möglich von ihr zu lösen, ehe sie ihn ganz und gar bezaubert hatte. „Ich weiß Ihre hohe Meinung davon zu schätzen.“
„Ich nehme an, Sie sind eine Art Expertin für Morbus Konstantin, oder? Was glauben Sie, wie weit verbreitet die Krankheit ist?“
„Ich habe Schätzungen gelesen, die besagen, dass einer von fünftausend Einwohnern der Stadt betroffen sei“, sagte Skyler, doch an ihrem Ton erkannte er, dass sie das nicht glaubte. „Es wird behauptet, dass die Krankheit monatelang, wenn nicht sogar jahrelang, im Blut lauern kann, ehe sie ausbricht. Manche übermitteln sie nur passiv, ohne selbst jemals daran zu erkranken. Viele Menschen könnten deshalb auch erkrankt sein, ohne es überhaupt zu wissen.“
Pimm schüttelte den Kopf. „Aber trotzdem, selbst wenn wir uns nur auf die aktiven Fälle beschränken – eins zu fünftausend, in einer Stadt von drei Millionen? Das wären ja nur sechshundert Fälle. Nein, ich denke, diese Zahl ist viel zu niedrig. So viele Fälle mögen dokumentiert sein. Wahrscheinlich diejenigen, die während der Umwandlung starben. Die, die während der ersten Welle einen Arzt herbeiriefen, ehe die Krankheit einen Namen hatte und man sie besser verstand. Ehe die Menschen anfingen, ihre Veränderungen zu verbergen. Aber wie viele Männer nahmen einfach andere Namen an oder verschwanden? Oder wurden von beschämten Verwandten aufs Land geschickt, oder bestiegen ein Schiff nach Frankreich, oder kauften sich wie Sie einen Anzug und versuchten, nicht aufzufallen? Wie viele der verwandelten Frauen wurden wohl von ihren entsetzten Ehemännern ermordet, oder ermordeten ihre entsetzten Ehemänner zuerst? Oder, um die Dinge etwas rosiger zu sehen, wie viele Frauen, die sich verwandelt haben, gingen einfach auf die Straße und fingen für sich ein neues Leben als Mann an? Die Fabriken brauchen immer Arbeitskräfte und verlangen keine Zeugnisse.“
„Die Krankheit hat in der Mittelschicht angefangen oder in der Oberschicht, so sehr sie es auch zu leugnen versucht“, sagte Skyler. „Das ergibt auch Sinn, falls sie auf die exklusiveren Prostituierten zurückgeht und von Männern an ihre Frauen weitergegeben wurde. Für wohlhabende und bekannte Männer und Frauen dürfte es schwierig sein, ihr altes Leben aufzugeben, ohne entdeckt zu werden, meinen Sie nicht?“
Pimm winkte ab. „Oh nein, die Krankheit wurde sehr schnell aus der Oberschicht weitergegeben, und für die armen Leute in der Stadt ist es wesentlich einfacher, zu verschwinden und ein neues Leben anzufangen. Wenn die Krankheit so lange schlummern kann und durch intimen Kontakt übertragen wird, kann man sich leicht vorstellen, wie schnell sie sich verbreiten konnte. Vielleicht hat ein unwissentlich infizierter Kaufmann seine Verkäuferin in eine Ecke des Lagers gedrängt. Vielleicht ist diese Frau nach Hause zu ihrem Mann gegangen, ohne über ihre Schmach sprechen zu wollen. Vielleicht ist dieser Mann dann hinaus zu den Huren gegangen. So muss Morbus Konstantin sich ebenso schnell verbreitet haben wie die Franzosenkrankheit.“ Abrupt brach er ab. „Ich muss mich entschuldigen, Miss Skye. Es liegt an Ihrem grässlichen Schnurbart. Er lässt mich vergessen, dass ich mit einer Dame spreche. Verzeihen Sie meine Taktlosigkeit.“
„An dem, was Sie gesagt haben, finde ich nur eines taktlos, nämlich dass Sie vergessen konnten, dass ich eine Frau bin“, sagte Skyler. Ihr Gesichtsausdruck war unmöglich zu erkennen mit diesem buschigen Ding unter ihrer Nase, die ansonsten absolut hinreißend war. Wie hatte er ihre Nase jemals zu lang finden können? Obwohl die Tatsache, dass er sie selbst in ihrer Verkleidung attraktiv fand, ihn fast ebenso beunruhigte, wie es ihn verwirrte, Freddy schön zu finden. „Ich bin Journalistin, Lord Pembroke. Ich habe Männer und Frauen jeglicher Couleur interviewt. Ich kann Ihnen versichern, dass ich schon wesentlich Schlimmeres gehört habe. Aber ja, ich vermute, dass Sie recht haben. Ich glaube, die Krankheit ist wesentlich weiter verbreitet, als den Menschen bewusst ist. Sie ist noch immer unheilbar, und ihr Verlauf ist nicht einmal ansatzweise verlangsamt worden. Die mechanischen Kurtisanen bieten den Männern, die es sich leisten können, eine sichere Form der Erleichterung. Ich bin mir weiterhin sicher, dass alle Männer enorme Willenskraft aufwenden, um der Versuchung aus dem Weg zu gehen, aber die Krankheit wird sich weiter verbreiten.“
„Wie viel Prozent der Bevölkerung müssten wohl mit der Krankheit infiziert sein, um den totalen Zusammenbruch der Gesellschaft herbeizuführen, was meinen Sie?“, sinnierte Pimm. „Ehe sie unser Verständnis dessen, was Männer zu Männern und Frauen zu Frauen macht, vollständig verändern würde? Wenn man nicht wissen kann, mit welchen Geschlecht jemand zur Welt gekommen ist, wird es schließlich zunehmend absurd, darauf zu bestehen, dass Männer und Frauen grundsätzlich anders sind. Ändert sich die Persönlichkeit, wenn sich das Geschlecht ändert? Ändert sich der Geist?“
„Der Geist ist vom Körper nicht völlig losgelöst“, sagte Miss Skyler. „Wer einmal miterlebt hat, wie ein geliebter Mensch krank wurde und litt, und wie er düster, wütend und traurig wurde, der weiß dass der Körper den Geist beeinflusst.“
„Gut, dann sagen wir, dass alle Individuen verschieden sind“, sagte Pimm. „Eine Grenze zwischen Männern und Frauen zu ziehen, die sich auf irgendetwas anderes als die reproduktiven Fähigkeiten gründet, oder vielleicht noch auf die durchschnittliche Ohrbehaarung oder die Kraft im Oberkörper, erscheint mir absurd. Ein brillanter Mann, der in eine Frau verwandelt wird, ist immer noch brillant, und anders herum.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie solch radikale Ansichten vertreten, Lord Pembroke. Sind Sie denn nicht der Meinung, dass die Teilung der Welt in männliche und weibliche Bereiche ganz offenkundig richtig ist? Dass Männer in der Gesellschaft die Führung übernehmen sollen, weil sie stärker als Frauen sind? Das ist doch nur natürlich.“
„Auch Kannibalismus ist natürlich. Kindsmord. Mord. Auf Bäumen leben, nackt herumlaufen, Raupen essen. Alles ganz natürlich. Hingegen ist es eindeutig unnatürlich, feine Mahlzeiten zu kochen, Kricket zu spielen, Brandy zu trinken und in einem Haus mit Dach und Kamin zu wohnen. Warum sollte man das Natürliche vorziehen? Wir können viel Besseres erschaffen.“
Skyler beugte sich vor, nun zutiefst interessiert, und Pimm fühlte einen Schauder bei dem Gedanken, dass sie ihn zitieren könnte. Seine Familie würde der Schlag treffen, wenn sie seine wahren Ansichten erfuhr. Verdammter Brandy. Er löste ihm stets die Zunge.
Sie fragte: „Glauben Sie, dass Morbus Konstantin zu wahrer Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern führen kann, Lord Pembroke?“
Er war betroffen. „Das glaube ich nicht. Die hohe Sterberate macht es eher schwierig, die Krankheit als Motor für positive soziale Veränderungen zu sehen, Miss Skye. Aber ich nehme an, dass es sicherlich Leute gibt, die es für einen vertretbaren Verlust halten, wenn so viele Menschen sterben. Denen es nichts ausmacht, wenn bei einer Revolution viel Blut vergossen wird. Solchen Leuten käme die Krankheit wohl wie gerufen.“
Die Idee war Pimm plötzlich durch den Kopf geschossen. Vielleicht hatte das medizinische Wunder, das er zu Beginn der Nacht miterlebt hatte, seine Gedanken in diese Richtung gedrängt. Wenn man eine Tote zum Sprechen bringen konnte, warum könnte man dann nicht auch … „Was glauben Sie, woher die Krankheit stammt?“
Sie zuckte die Schultern. „Manche behaupten, dass sie von Konstantinopel aus nach London gebracht wurde, daher der Name. Allerdings wird meist noch nicht einmal spekuliert, wie sie dort entstanden sein könnte. Von manchen habe ich gehört, dass sie den Rauch, der aus den Fabriken strömt, für die Ursache halten, oder die alchemistischen Abfälle, die in den Fluss gekippt werden. Dass diese Stoffe in unser Trinkwasser sickern, uns vergiften, uns verändern. Manche Fische und Frösche können das Geschlecht wechseln, und ich habe mit Leuten gesprochen, die glaubten, dass diese Fähigkeit auf irgendeine Weise an uns Menschen weitergegeben wurde. Obwohl keiner der Erkrankten sich jemals wieder zurückverwandelt hat, soviel ich weiß. Es scheint, dass man immun gegen weitere Verheerungen durch die Krankheit wird, wenn man sie einmal überlebt hat. Natürlich gibt es dann noch die Menschen, die religiöser als ich sind und die Krankheit als eine Prüfung oder Strafe Gottes sehen.“
„Ich frage mich, ob sie vielleicht vorsätzlich in die Welt gesetzt wurde“, sinnierte Pimm.
Skyler sah schockiert aus. „Was um Himmels willen meinen Sie?“
Pimm zuckte die Achseln. „Heute Nacht waren Sie in der Nähe von Whitechapel. Das war ein Experiment, das gehörig schief ging. Sie haben doch von den schleimigen Geschöpfen in der Themse gehört, sogar darüber geschrieben. Von denen heißt es, sie seien ebenfalls das Ergebnis gewisser fehlgeschlagener Forschungen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein großer Befürworter des wissenschaftlichen Fortschritts. Wie viele Leben hat die Keimtheorie gerettet! Dank unserer technischen Fortschritte floriert die Wirtschaft wie nie zuvor. Selbst arme Leute haben oft alchemistische Lampen in ihren Häusern. Trotzdem ist nicht jedes Experiment nützlich oder klug.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass irgendjemand Morbus Konstantin geschaffen haben könnte? Dass jemand die Krankheit absichtlich auf die Bevölkerung losgelassen hat?“
„Ich vertreibe mir lediglich die Zeit damit, mich mit einer mir bekannten Dame zu unterhalten und vor mich hin zu spekulieren“, sagte Pimm. Die Droschke kam schlingernd zum Stehen, und der Kutscher pochte aufs Dach. „Da sind wir“, sagte Pimm fröhlich. „Wollen wir einen potentiellen Mörder wecken gehen, Jenkins?“
* * *
„Haben Sie eine Strategie?“, fragte Ellie. Lord Pembroke hatte den Droschkenkutscher angewiesen zu warten und ihm genügend Geld geboten, dass er klaglos einwilligte. Nun standen sie auf der Türschwelle, wo Ellie mehrere Monate zuvor allein und in ganz anderer Aufmachung gestanden hatte.
„Nein, aber ich habe den Bauch voll Brandy. Das und ein wenig Improvisation ist meiner Erfahrung nach genug, um mich durch den Tag zu bringen.“ Lord Pembroke pochte mit dem Griff seines Gehstocks an die Tür, stetig, laut und systematisch, länger als eine Minute.
Endlich hörten Sie von drinnen eine heisere Stimme rufen. Die Tür öffnete sich einen Spalt und offenbarte das Gesicht von Thaddeus Worth, dessen Haar in alle Richtungen abstand.
Er hatte seinen Bart abrasiert, seit Ellie ihn interviewt hatte, und sie zweifelte nicht mehr daran, dass er der Mann war, der sich früher am Abend in der Gasse an ihr vorbeigedrängt hatte.
„Mr. Worth?“, sagte Lord Pembroke so freundlich, als sei es heller Tag und dies ein angenehmer gesellschaftlicher Anlass.
„Zum Teufel, was ist hier los? Ich habe geschlafen.“
„Wirklich?“, sagte Lord Pembroke. „Wie wundervoll. Ich wünschte, ich wäre ebenfalls im Bett. Mein Name ist Pembroke Halliday. Vielleicht haben Sie schon einmal von mir gehört? Hin und wieder helfe ich der Polizei bei ihren Ermittlungen. Heute Nacht hat man mich zu einem Tatort geladen. Eine schreckliche Sache, ein junges Mädchen wurde in der Nähe des Flusses ermordet.“
Worth erbleichte, dann schien er zum ersten Mal von Ellie Notiz zu nehmen. Seine Augen weiteten sich.
„Das hier ist mein Partner, Mr. Jenkins“, sagte Lord Pembroke. „Dürften wir einen Augenblick mit Ihnen sprechen?“
„Es ist spät, und ich habe nichts mit der Sache zu tun.“ Worth versuchte, die Tür zuzudrücken, doch Lord Pembroke blockierte sie mit der Spitze seines Gehstocks.
„Aber Sir, wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, habe ich Sie höflich gefragt. Die Polizei wird weniger zuvorkommend sein. Trotzdem warte ich auch gern mit Ihnen, während mein Partner Jenkins zu Scotland Yard geht, um jemanden zu holen. Oder wir klären die Angelegenheit unter uns.“
Was für ein Bluff, dachte Ellie. War Worth tatsächlich der Mörder, was wahrscheinlich schien? Würde er versuchen, wegzulaufen, oder auf Zeit spielen? Ellies Erfahrungen mit Verbrechern beschränkten sich darauf, über deren Taten zu schreiben. Noch nie war sie einem Verbrecher, der sich der Festnahme entziehen wollte, persönlich gegenüber gestanden, nicht so.
„Dann kommen Sie wohl besser rein“, sagte Worth und öffnete die Tür wieder. „Auch wenn ich noch immer nicht weiß, wie ich Ihnen helfen kann.“ Wieder wanderte sein Blick zu Ellie. Erkannte er sie als den Mann, dem er in der Gasse begegnet war?
„Wir haben nur einige Fragen“, sagte Lord Pembroke. „Es wird nicht einmal einen Augenblick dauern.“ Er lallte überhaupt nicht und artikulierte klar jede Silbe. Wenn das überhaupt möglich war, schien er nüchterner als nüchtern. Doch war seine Nüchternheit nicht etwas übertrieben, vielleicht nur vorgetäuscht?
Ellie war nicht immer ein Einzelkind gewesen. Ihr Bruder Robert war in schlechte Gesellschaft geraten. Er hatte eine viel zu starke Vorliebe für schlechten Whiskey entwickelt, und war mit einer Flasche in der Hand und ohne einen Penny in der Tasche gestorben. Das Weiße in seinen Augen war gelb geworden, ein Zeichen dafür, dass seine arme, überlastete Leber den Giftattacken erlegen war, denen er sie täglich aussetzte. Doch Robert war recht charmant gewesen, wenn er einen oder zwei Drinks genossen hatte. Erst nach drei oder vier Drinks wurde er finster und bedrohlich.
„Kommen Sie schon rein“, sagte Worth, trat zurück und begleitete sie in die Eingangshalle. Er schloss hinter ihnen die Tür ab, dann führte er sie in sein Arbeitszimmer. Ein großer Schreibtisch aus Holz dominierte den Raum. Bis auf ein Tintenfässchen, ein wenig Löschsand und eine nicht angeschnittene Schreibfeder war er leer. An den Wänden hingen eingerahmte Zeichnungen von Vögeln, doch es gab weder Regale noch Bücher. „Einen Drink, die Herren?“ Er ging an eine kleine Bar und man konnte das leise Klirren von Gläsern hören.
Lord Pembroke stellte sich vor Ellie und umfasste seinen Gehstock mit beiden Händen. „Nein danke, wir werden nicht lange hier sein. Wir haben einen Zeugen, der sie in der Nähe des Tatortes gesehen hat.“
Worth erstarrte, während er ihnen noch immer den Rücken zuwandte. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Hmm? Oh, nein.“ Lord Pembroke schmunzelte. „Bitte um Entschuldigung. Nein, wir haben keinen Grund, Sie zu verdächtigen, Sir, wir wollten lediglich herausfinden, ob Sie tatsächlich in der Gegend gewesen sind, und ob Sie vielleicht irgendetwas Verdächtiges gesehen haben.“
Der Mörder fuhr herum, ein Messer in der Hand, und stürzte sich auf Lord Pembroke. Ellie keuchte und taumelte einen Schritt zurück, doch Lord Pembroke hob nur seinen Gehstock und stieß dem Rüpel den Griff gegen die Brust. Ellie hatte erwartet, dass Worth den Stock beiseite schlagen und zustechen würde. Doch stattdessen erklang ein merkwürdiges Surren, Worth keuchte, brach zusammen und ließ das Messer fallen. Er fiel auf den Teppich, wo er zuckte und sein Körper sich zusammenkrümmte wie der einer sterbenden Spinne. Er wand sich, verkrampfte sich und stöhnte.
Lord Pembroke seufzte. „Es macht die Sache leichter, wenn sie versuchen, einen zu ermorden, das ist fast so gut wie ein Geständnis unter Tränen. Trotzdem finde ich es immer ermüdend, wenn man sich auf das Niveau körperlicher Gewalt hinab begeben muss. Ich nehme an, er hat Sie erkannt und wusste, dass Sie ihn vom Tatort haben fliehen sehen. Er fühlte sich in die Enge getrieben und unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, sich zu befreien.“
„Hat er einen Herzinfarkt gehabt?“, fragte Ellie. „Oder eine Art Anfall?“
„Aber nein, das war mein Gehstock.“ Lord Pembroke hielt den Gegenstand in die Höhe und zeigte auf die silberne Kugel, die als Griff diente. „Meine … nun, ein Freund von mir hat für mich einige Änderungen daran vorgenommen. Im Stock selbst befinden sich versteckte Batterien, und hier ist ein Schalter, sehen Sie? Ich kann den Schalter betätigen und durch die Metallkugel am oberen Ende einen starken elektrischen Schock entladen. Es ist, als würde man mit einem Zitteraal schwimmen gehen. So sind die meisten Auseinandersetzungen schnell zu Ende.“
Elektrizität! „Wird er sich wieder erholen?“
„Aber ja, natürlich. Gegen alte oder gebrechliche Menschen würde ich ein solches Gerät nicht einsetzen, ebenso wenig gegen jemanden, der ein schwaches Herz hat. Bei einem gesunden Erwachsenen ist der Effekt jedoch nur temporär. Krampfartige Muskelzuckungen, Verlust der motorischen Kontrolle. In ein paar Sekunden sollte es vorbei sein.“ Er trat das Messer von Worths Hand fort. „Zugegeben, ich wusste nicht, ob Mr. Worth Herzprobleme hat. Die Tatsache, dass er mich erstechen wollte, ließ meine Sorge um sein Wohlbefinden jedoch ein wenig in den Hintergrund treten.“
„Was tun wir jetzt? Sollen wir die Polizei rufen?“
„Später, ja“, sagte Lord Pembroke. „Aber vorher müssen wir uns mit ihm unterhalten. Wollen wir einmal nachsehen, womit wir ihn fesseln können, bevor er aufwacht?“