Das Leben eines großen Geistes

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Oswald nickte, als beglückwünsche er sich selbst zu diesem exzellenten Argument. „Lassen Sie sich zunächst einmal gesagt sein, dass ich keinem von Ihnen schaden will. Ich halte Sie auch nur sehr ungern hier fest, und ich habe gewiss nicht den Wunsch, Sie zu töten. Ich werde es allerdings tun, wenn Sie mir keine andere Wahl lassen.“ Er setzte ein finsteres Gesicht auf, als seien sie Kinder, die ihn enttäuscht hatten. „Anfangs dachte ich noch, dass Miss Skyler lediglich Mr. Jenkins sei, irgendein Anwalt oder Kaufmann aus der Mittelschicht, der zufällig auf meine geheimen Geschäftsinteressen gestoßen war. Zugegeben, damals hätte ich nichts dagegen gehabt, das Problem ihrer Existenz etwas endgültiger zu lösen. Doch nun, da ich ihre wahre Identität kenne, muss ich gestehen, dass ich in der Tat ein großer Bewunderer ihrer Texte bin. Es würde mich freuen, wenn sie in der neuen Welt, die ich einzuläuten gedenke, erfolgreich sein könnte. Dasselbe wünsche ich mir auch für Sie, Lord Pembroke. Anders als die meisten parasitären Adligen, die aufgeplustert durch diese Stadt stolzieren und ihr müßiges Leben verschwenden, sind Sie ein Mann von Geist, auch wenn Sie ihn weniger würdigen Beschäftigungen widmen, als ich mir wünschen würde. Dann wären da noch Sie, Winifred. Sicherlich würden Sie gern in einer Welt leben, in der man Sie nach Ihrem Charakter beurteilt und nicht nach dem Zufall Ihres Geschlechts?“

„Mir scheint, Sie wissen nicht viel über meinen Charakter“, meinte Winnie.

Oswalds Augen erinnerten Ellie an die einer Krähe, die auf der Straße ein frisch getötetes Tier betrachtet. „Ich mache meine Feinde am liebsten zu Verbündeten, wenn möglich. Glauben Sie etwa, Abel Value sei anfangs darauf erpicht gewesen, mit mir zusammenzuarbeiten? Natürlich nicht. Doch er – damals noch sie – wollte etwas, und ich war in der Lage, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Der Mann, den Sie unter dem Namen Adams kennen, war ebenfalls einst eine Art Rivale für mich, doch ich eröffnete ihm meine Pläne. Ich zeigte ihm, dass ich seinen Beitrag schätzte, sodass er bald ein Teil meines großen Werkes wurde. So, wie ich es mir auch von Ihnen erhoffe. In meiner Organisation ist immer Platz für kluge, einfallsreiche Menschen.“

„Was für ein großes Werk meinen Sie, Sir?“, fragte Ellie in bester Journalistenmanier.

„Ich glaube an die Macht der Wissenschaft, Miss Skyler. Sie auch?“

„Natürlich staune auch ich über die jüngsten Fortschritte der Alchemie, der Dampfmaschinen und des Magnetismus …“

„Nein!“ Mit einem hallenden Knall stieß Oswald die Spitze seines Stocks auf den Boden. „Sie sprechen von Technik, nicht von Wissenschaft. Technik ist die Frucht der Wissenschaft, aber die Wissenschaft ist der Baum. Die Wissenschaft ist ein Weg, die Welt zu verstehen, Miss Skyler. Man macht Beobachtungen und zieht daraus Schlüsse. Man führt ein Experiment durch, um die Richtigkeit dieser Schlüsse zu beweisen oder sie zu widerlegen. Wenn nötig, passt man schließlich sein Weltbild daran an. An diesen Prozess glaube ich. Nicht an bloße Annahmen, nicht an jene gemeine Lüge, die man ‚gesunden Menschenverstand‘ nennt, nicht an Gott oder den Teufel, nicht an Tradition oder Glaube oder Religion oder an all die gesammelten, institutionalisierten Schwächen, die man die menschliche Natur, oder noch schlimmer, Menschlichkeit nennt. Für mich zählt nur das Empirische.“ Er stand auf, den Kopf gesenkt. „Aber die Welt ist ein komplizierter Ort. Wahrlich, viel zu kompliziert, zu chaotisch. Der Schlüssel zu jedem Experiment liegt darin, die Variablen zu kontrollieren. Aber wie kann ich ein wirklich großes Experiment durchführen, eine Studie, die das Wesen der Gesellschaft selbst offenbaren soll, wenn so viele Faktoren außerhalb meiner Kontrolle liegen? Ich habe versucht, gewisse Experimente dennoch durchzuführen, trotz dieser Einschränkungen. Doch jedes Mal befleckten äußere Kräfte die Reinheit meiner Bestrebungen. Das Feuer in Whitechapel, das noch immer brennt? Wissen Sie, wodurch es ausgelöst wurde?“

„Ein illegales Experiment in einer alchemistische Werkstatt, soviel ich weiß“, meinte Pimm. Seinem Ton nach zu urteilen hätte er sich auch auf einer etwas langweiligen Abendgesellschaft befinden können und nicht eingesperrt in einem Löwenkäfig.

„Illegal? Wie konnte es illegal sein? Es gab keine Gesetze gegen das, was ich tat.“

Ellie starrte ihn an. „Das waren Sie? Ihr Experiment? Aber wie kann das sein? Die Brände begannen doch schon Jahre vor meiner Geburt. Sie waren damals selbst noch ein Kind, Sie sind gewiss zu jung, um ...“

„Sie sind zu gütig“, meinte Oswald. „Am Anfang meiner Studien hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, ein Mittel zu finden, meine Lebenserwartung zu verlängern. Es ist zwar nicht das sagenumwobene Elixier des Lebens und bringt weder die Jugend zurück, noch verleiht es Unsterblichkeit. Aber es hemmt den Alterungsprozess, wenn man es regelmäßig einnimmt. Ich bin wesentlich älter, als ich aussehe, und ich habe Grund zur Annahme, dass meine Lebensdauer die immense Langlebigkeit, die man gewissen biblischen Patriarchen zuschreibt, noch übertreffen wird. Im Laufe der Jahre war ich gezwungen, mehrmals die Identität zu wechseln oder mich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Später bin ich dann als mein eigener Sohn oder Neffe oder als irgendein anderer verloren geglaubter Erbe wieder aufgetaucht. Die gesamte Ahnenreihe der Oswalds, die sich über Generationen hinzieht, besteht allein aus mir.

Ja, die Tragödie von Whitechapel hatte mit meiner Arbeit zu tun, obwohl ich nicht die Schuld daran trage. Ich habe versucht, eine Energiequelle zu finden, die weniger schmutzig als Kohle ist. Eine Energie, die es mir ermöglichen würde, gigantische Maschinen von unvorstellbarer Kraft anzutreiben. Meine Arbeit ‚Alchemie‘ zu nennen, ist nicht korrekt, in diesem Fall stand sie der Geologie wesentlich näher. Während meiner Reisen im Amazonasgebiet entdeckte ich in einer Höhle voll glühender purpurfarbener Gebilde einen merkwürdigen Kristall. Die dort ansässigen Stämme nutzten die Kristallsplitter als Waffen. Wenn man einen davon als Speerspitze verwendete, wurde jeder, den man damit stach, krank und starb. Wenn man aber einen der Splitter mit ausreichend Kraft gegen einen Stein warf, dann explodierte der Stein. Er zerfiel zu Staub, und nirgends, wo der Staub hinfiel, wuchsen jemals wieder Pflanzen. Mir wurde klar, dass in einem einzigen Kristall genügend Energie gespeichert war, um einen Berg dem Erdboden gleichzumachen, wenn man sie richtig entlud. Ich ersann eine Methode, diese Kraft zu kontrollieren und nutzbar zu machen, und so eine weit größere Energiewelle freizusetzen, als es ein Splitter, den man gegen einen Stein wirft, jemals könnte. Ich sammelte einige der Kristalle, verpackte sie sorgfältig und transportierte sie nach London. Ich beschloss, mir mein Labor in einem heruntergekommenen Häuserblock in Whitechapel einzurichten, weil ich wusste, dass es zu Unfällen kommen konnte. Wenn es eine Explosion gegeben hätte, nun, ich konnte ja wohl kaum riskieren, das West End in die Luft zu sprengen, oder?

Ich war vorsichtig, sehr, sehr vorsichtig. Doch ich konnte nicht jedes einzelne Gefäß und Werkzeug selbst herstellen. Ich stellte einen Mann ein, der für mich einen Sicherheitsbehälter aus Blei bauen sollte. Aus mir noch immer unbekannten Gründen verwendete er kein reines Blei, sondern streckte es mit irgendeinem anderen Metall. Warum? Um es billiger zu machen und so ein paar Münzen für sich behalten zu können? Oder weil er diese anderen Materialien einfach gerade zur Hand hatte? Wer weiß? Jedenfalls wich er von meinen genauen Vorgaben ab. Als ich schließlich das geheime Herz eines Kristalls aufbrach, um die Energien im Innern freizusetzen, wurden die Kräfte, die ich entfesselte, nicht eingedämmt. Das Gefäß zerbarst. Natürlich trug ich Schutzkleidung, mit der Zeit lernt man, vorsichtig zu sein, aber meine Helfer hatten weniger Glück. Die seltsamen Energien, die ich freigesetzt hatte, haben eine schädliche Wirkung auf den menschlichen Körper. Sie bekamen Wunden im Gesicht und an den Händen und vermutlich am ganzen Körper. Sie bluteten aus den Augen, schrien und schlugen um sich. Natürlich führten ihr rasendes Verhalten und die Kraft des zerbrochenen Kristalls zu einem Laborunfall, einem entsetzlichen Feuer, schrecklichen chemischen Reaktionen, zahlreichen Explosionen, durch die sich fast mein ganzer Vorrat an Kristallen entlud, und …“ Oswald machte eine unbestimmte Geste nach Norden, Richtung Whitechapel, „die Katastrophe begann. Einige der chemischen Reaktionen laufen noch immer ab und werden vielleicht noch jahrzehnte- oder jahrhundertelang weitergehen. Es gelang mir, meinen Namen aus der Angelegenheit herauszuhalten. Als die ersten Straßenhunde aus den Ruinen von Whitechapel gekrochen kamen, sahen sie so entsetzlich verändert aus, dass jedem klar wurde, wie tödlich die Gegend inzwischen war. Ich sah einen Weg, aus der Katastrophe eine Chance zu machen. Die Krone beauftragte eine Firma, die mir gehörte, Mauern zu errichten, um das Gebiet abzugrenzen. Seitdem habe ich die Absperrung stetig verbessert, zuletzt, indem ich die Kuppel habe darauf setzen lassen. Dabei habe ich viele bemerkenswerte Entdeckungen im Bereich der Werkstoffkunde machen können. Ich bin beim Bau dieser Mauern im Lauf der Jahre überaus sorgfältig vorgegangen. Ich gab bekannt, dass jeder Handwerker, der bei der Verwendung minderwertiger Materialien erwischt wurde, innerhalb der Mauern zurückgelassen werden würde.“ Sein Ton war nachsichtig, als er die Geschichte erzählte. Es war, als trüge er eine Anekdote vor, die jegliche emotionale Kraft eingebüßt hatte, sei es durch die Zeit oder durch die Gleichgültigkeit des Erzählers.

„Ihre Experimente haben Hunderte getötet!“, rief Ellie.

Oswald runzelte die Stirn. „Ich habe niemanden getötet. Tatsächlich sind Tausende gestorben, wenn man diejenigen mitzählt, die in der Nähe der Mauern lebten und später seltsamen Krankheiten erlagen. Doch ihren Tod hat der Mann verschuldet, der mir Blech gab, als ich Blei verlangte. Menschliches Versagen, verstehen Sie, das ist das Problem. Meine nächste Serie von Experimenten sollte menschliches Versagen unmöglich machen. Ich baute ein Gerät, das ich Aero-Zerebral-Emitter nannte. Es sendet gewisse Wellen und Signale durch die Luft an bestimmte Ziele. Der Zweck dieses Geräts sollte es sein, das Verhalten unzuverlässiger Menschen zu korrigieren.“

„Sie meinen Gedankenkontrolle?“, fragte Pimm und setzte zaghaft hinzu: „Ich möchte nur sichergehen, dass ich Sie richtig verstehe.“

Oswald räusperte sich missbilligend. „Man könnte es wohl so nennen. Aber ist es Gedankenkontrolle, einen Hund zu erziehen? Ein wohlerzogener Hund ist glücklicher und nützlicher als ein wilder Streuner, da stimmen Sie mir doch sicherlich zu, und sein Besitzer ist ebenfalls glücklicher. Ich dachte, es könnte die Menschen dazu anregen, sich besser zu benehmen, das ist alles. Der Emitter hatte gewisse Mängel. Man musste die Zielpersonen mit einer magnetischen Flüssigkeit übergießen, damit der Emitter auf sie wirken konnte. Die Flüssigkeit verdampft zwar schnell, trotzdem konnte das kaum heimlich vonstatten gehen. Wenn man ihn dann in Gang gesetzt hatte, veränderte der Emitter die Funktionsweise des Gehirns nicht ganz in der Weise, wie ich vorhergesagt hatte.“

„Sind die Leute explodiert?“, fragte Winnie. „In Flammen aufgegangen? Bin ich die Einzige, die sich noch an die Geschichten von spontaner menschlicher Selbstentzündung erinnert?“

„Nein, nein“, meinte Oswald. „Das war eine Angelegenheit, die mit dieser hier nichts zu tun hat. Der Zerebral-Emitter versagte in anderer Hinsicht. Seine Signale konnten auf die Hirnflüssigkeit einwirken, doch anstatt die Gedanken zu verändern, verursachten sie schreckliche Schmerzen und Beschwerden. Meine Testpersonen nahmen sich entweder das Leben, verließen fluchtartig das Land oder wurden ins Irrenhaus eingewiesen. Ich musste den Emitter aufgeben, doch ich denke noch immer voller Zuneigung daran. Er war eine so schöne Maschine. Ich glaube an die Schönheit, wissen Sie, es ist nur so, dass ich in anderen Dingen Schönheit sehe als die meisten Menschen. Durch das Scheitern des Emitters wurde mir klar, dass ich das menschliche Gehirn noch nicht gut genug verstand, um es so präzise zu beeinflussen, wie ich wünschte. Das war der Grund, weshalb ich den Mann in meine Dienste nahm, den Sie als Mr. Adams kennen, Lord Pembroke. Er versteht sich ausgezeichnet auf alle Bereiche der Physiognomie, innerhalb der engen Grenzen seines Fachgebiets übertrifft er sogar mich. Auch in Elektrizität und Chemie ist er äußerst bewandert. Eine Zeitlang arbeiteten wir zusammen, um ein Gerät zu entwickeln, das es uns ermöglichen würde, den menschlichen Geist zu beherrschen.“ Oswald seufzte. „Es hätte so gut funktionieren können. Aber leider bedurfte es dafür einer Hirnoperation, die man nur schwer im Geheimen durchführen kann. Daher beschlossen wir jüngst, nicht länger zusammenzuarbeiten und in Zukunft getrennt unsere Ziele zu verfolgen.“

„Ach, und ich habe gehört, dass Sie ihm ins Herz geschossen haben“, meinte Pimm. Ellie sah ihn beunruhigt an.

„Hmm“, sagte Oswald. „Sie sind wirklich ein echter Detektiv, was? Ja, es ist wahr. Aber vielleicht tröstet es Sie, zu erfahren, dass Adams kein echter Mensch war, sondern ein Flickwerk aus verschiedenen Leichen. Das monströse, wiederbelebte Geschöpf eines brillanten Naturphilosophen, der selbst schon lange tot ist. Ich habe Adams nicht getötet, sondern ihn lediglich abgeschaltet. Er war mir nicht länger nützlich, und es ist nur vernünftig, ein nutzloses Werkzeug zu entsorgen.“

„Wenn das jemand anders sagen würde, könnte man es für eine Drohung halten“, meinte Winnie. „Aber wisst ihr, ich glaube, er meint es nicht mal so.“

Oswald wartete geduldig, bis Winnie zu Ende gesprochen hatte, dann fuhr er fort. „In den letzten Jahren hat sich mein Schwerpunkt verändert und liegt nun nicht länger auf Individuen, sondern auf den Problemen des Systems. Auf der Gesellschaft selbst, die ein Teil der Ursache dafür ist, dass Individuen derart grässlich sind. Eines der größten Probleme unserer Kultur ist die Tatsache, dass Männer und Frauen so grundverschieden behandelt werden und ihre Lebensbereiche so strikt voneinander getrennt sind. Die Gattung Mensch ist komplex genug, ohne dass man weitere willkürliche Unterteilungen vornimmt. Männer und Frauen sind im Großen und Ganzen gleich, von gewissen Geschlechtsmerkmalen, die völlig sekundär sind und mich nicht weiter interessieren, einmal abgesehen. Die scheinbaren Unterschiede zwischen ihnen werden meines Erachtens hauptsächlich von kulturellen Vorurteilen bestimmt. Verallgemeinerungen bezüglich der Muskelmasse und natürlich der Reproduktionsfähigkeit einmal ausgenommen.“

„Sie mögen Recht haben“, sagte Ellie. „Ich bin es in der Tat leid, von Männern zu hören, dass Frauen niemals so gut wie sie selbst schreiben können.“

Oswald strahlte förmlich. „Sehen Sie? Wir sind uns einig. Ich wusste, dass Sie Gründe sehen würden, mit mir gemeinsame Sache zu machen. Ich beschloss, dass es sinnvoll sein könnte, die Ansicht zu entkräften, dass Männer und Frauen grundsätzlich vollkommen verschieden sind. Deshalb verbrachte ich mehrere Jahre damit, bestimmte Frösche, Eidechsen und Fische zu studieren, und zu lernen, wie verschiedene Infektionskrankheiten übertragen werden, und …“

„Ja, ich wollte es noch erwähnen“, meinte Pimm. „Unser Sir Bertram hier hat die Erschaffung und Verbreitung des Morbus Konstantin zu verantworten.“