Ein zusammengesetzter Mann

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Adam erwachte, und es roch nicht nach Feuer. Gut. Das bedeutete, dass Oswald nicht versucht hatte, das Laboratorium niederzubrennen, was Adams Schicksal besiegelt hätte. Eine solche Tat wäre äußerst unbedacht gewesen. Die Räume waren voller explosiver Chemikalien, die mit Sicherheit einen Flächenbrand erzeugt hätten. Er hätte sich durch die angeschlossenen Lagerhäuser und anderen Gebäude meilenweit ausbreiten können. Von den Tunneln ganz zu schweigen. Da Whitechapel bereits abgeriegelt und unbewohnbar war, hätte ein weiterer Großbrand wahrscheinlich fast das ganze East End zerstört. In den Augen vieler höhergestellter Londoner wäre das vermutlich kein großer Verlust gewesen. Adam hatte befürchtet, dass Oswald dies als eine Katastrophe annehmbaren Ausmaßes betrachten würde, wenn er dafür jegliche Beweise, dass Adam existiert hatte, vernichten konnte. Doch glücklicherweise hatte der Wissenschaftler diese Möglichkeit nicht gewählt.

Adam richtete sich mühsam auf, bis er sich in einer sitzenden Position befand, und hielt dabei die Hand gegen die Brust gepresst. Blut sickerte schwach aus dem Einschussloch. Die Kugel, die in seiner Brust saß, schmerzte fürchterlich. Er würde sie entfernen müssen.

Oswald hatte auf sein Herz gezielt, doch Adam hatte sich vorsorglich ein zweites Herz eingepflanzt für den Fall, dass das erste jemals verletzt werden würde. Der Mensch hatte schließlich auch zwei Nieren, eine Doppelung, die Adam immer überaus sinnvoll erschienen war. Oswald hatte das eine Herz zerstört, doch das andere war heil geblieben und schlug noch immer. Wegen des Schocks der Verletzung und wegen des Blutverlusts fühlte Adam sich ein wenig benommen, und ihm war schwindlig. Er riss sich die Maske vom Gesicht und warf sie beiseite. Humpelnd bewegte er sich zu seinem Operationstisch und ordnete die Spiegel an, die er verwendete, wenn er sich selbst operierte. Dann setzte er sich auf die harte Tischplatte.

Im Laufe der Jahre hatte Adam außergewöhnliche Kontrolle über seinen Körper erlangt. Die meiste Zeit funktionierte sein autonomes System von allein, doch er konnte es bewusst beherrschen, wann immer das erforderlich war. So war er auch in der Lage, jegliche Empfindungen aus seinem verletzten Bein zu verbannen und sich wenn nötig mit großer Geschwindigkeit zu bewegen, was allerdings eine bewusste Anstrengung erforderte. Nun konzentrierte er sich und betäubte die Nerven in seiner Brust, und unter Zuhilfenahme der Spiegel und grellen elektrischen Lichts brannte er einige der Blutgefäße aus. Er entfernte sein nun zerstörtes Herz und ließ das zerfetzte Organ in eine Metallschüssel fallen. Das Loch in seiner Brust machte ihn melancholisch, weil es ihm viel zu symbolisch erschien. Doch im Augenblick hatte er weder Zeit noch Kraft, irgendetwas dagegen zu tun. Er begnügte sich damit, die Wunde wieder zuzunähen und sie zu verbinden, indem er sich mehrere Meter Stoff um die Brust wickelte. Der Blutverlust war ein Problem. Adam war zwar widerstandsfähiger als gewöhnliche Menschen, doch selbst er konnte sterben, wenn er zu viel der lebensnotwendigen Flüssigkeiten seines Körpers verlieren sollte. Er hatte darüber nachgedacht, sein Blut durch die künstliche Substanz zu ersetzen, die er für seine wiederbelebten Leichen verwendete, doch er war sich nicht sicher, welche Wirkung eine solche Transfusion langfristig haben würde. Deshalb pumpte sein Herz noch immer gewöhnliches Menschenblut, das sich allerdings aus vielen verschiedenen Blutgruppen zusammensetzte.

Vorerst musste es reichen, dass er eine Menge blutiges Fleisch aß, um seinen Eisenmangel auszugleichen. Die hungrigen Toten, die in ihrer Kammer eingesperrt waren, würden heute leer ausgehen müssen. Er würde sich selbst an den Nieren und anderen Innereien laben, die er für sie auf den Schlachthöfen besorgt hatte.

Nachdem er gegessen hatte und sich einigermaßen gestärkt fühlte, humpelte er durch sein Laboratorium, um herauszufinden, welchen Schaden Oswald angerichtet hatte. Die meisten von Adams Notizen waren noch da. Dass seine übrigen Forschungsergebnisse es offenbar nicht wert waren, gestohlen zu werden, versetzte ihm einen Stich, doch sein Modell für die neue Batterie war verschwunden. Oswald hatte mechanische Neuerungen ohnehin lieber.

Die Tür zum Haupttunnel, der in den angrenzenden Keller führte, ließ sich nicht öffnen und war anscheinend von der anderen Seite blockiert. Adam fragte sich, ob Oswald dafür gesorgt hatte, dass die Tunnelöffnung mit Schutt gefüllt oder zugemauert wurde. Der Eingang zum Erdgeschoss des Hauses war ebenfalls versperrt und selbst jemand wie Adam, der über beträchtliche Körperkraft verfügte, konnte die Falltür nicht bewegen. War sie ebenfalls mit Ziegelsteinen beschwert worden? „Du liebe Güte“, murmelte Adam. „Begraben wie Fortunato.“ Zweifellos hoffte Oswald das. Warum sollte er das Laboratorium niederbrennen, wenn er es ebenso gut von der Außenwelt abschotten konnte? Wenn Oswald jemals Adams Forschungsergebnisse oder seine Geräte benötigte, konnte er einfach einige Männer mit Spitzhacken mitbringen und sie hinaufholen lassen. Mehrere von Adams anderen Tunneln waren ebenfalls versiegelt worden, selbst die, bei denen er sicher gewesen war, dass Oswald sie nicht kannte. Bei allen war es von außen geschehen, was vermuten ließ, dass Oswald nicht erst kürzlich entschieden hatte, ihn zu ermorden und zu begraben. Er musste die Tat sorgfältig geplant haben.

Doch Adam hatte schon vor langer Zeit gelernt, eigene Pläne zu schmieden und sich auch einen zweiten und einen dritten Plan zu überlegen. In einer Ecke seines Laboratoriums stand, von anderem Industrieschutt umgeben, ein großer rostiger Kessel, der wohl einmal zu einer riesigen Dampfmaschine gehört hatte. Adam lehnte sich mit der Schulter gegen den Kessel und schob ihn zur Seite, ein Kraftakt, den ein gewöhnlicher Mann allein nicht geschafft hätte. Zum Vorschein kam eine weitere Falltür. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass man sie öffnen konnte und die eiserne Leiter, die nach unten führte, frei war, ließ er die Tür wieder zufallen. Dann erst kehrte er an seinen Arbeitstisch zurück und zog das Tuch von dem Apparat, in dem sich Margarets Gehirn befand.

Er schraubte die Röhren, die die Sprachrohre mit Luft versorgten, wieder an und erstarrte. Bei Oswalds Auftauchen hatte er in seiner Eile vergessen, die Drähte abzutrennen, die Margarets Sinnesapparat anschlossen. Was bedeutete …

Als er den Sprechapparat wieder aufdrehte, glaubte er zuerst, dass er nicht richtig funktionierte. Doch dann erkannte er, dass das Geräusch bloß ein sprachloses Heulen war. „Margaret“, sagte er. „Margaret, geht es dir gut?“

Das Heulen brach ab. „Adam? Bist du es?“

„Ja.“

„Ich habe so schreckliche Dinge gehört! Mir war, als hätte ich einen Pistolenschuss gehört!“

„Ja. Mein Besucher hat auf mich geschossen, aber wie du hören kannst, habe ich überlebt.“

„Bist du verletzt?“

So viel Sorge aus der Stimme einer Frau zu hören, die selbst ihren ganzen Körper verloren hatte, war seltsam ermutigend. „Nicht schwer. Ich komme zurecht. Es tut mir leid, dass du dich geängstigt hast.“

„Hat er die schrecklichen Dinge, die er sagte, wirklich ernst gemeint? Dass er der Königin etwas Schlimmes antun will?“

„Er ist ein böser Mensch“, sagte Adam. Er glaubte selbst nicht an „gut“ und „böse“ als absolute Begriffe, doch eine differenziertere Erklärung hätte ihn viel Kraft gekostet, und er war noch immer sehr erschöpft. „Es tut mir auch leid, dass ich nicht sofort nach dir gesehen habe. Ich musste mich um meine eigenen Wunden kümmern und sichergehen, dass keine weitere Gefahr bestand.“

„Wird er wiederkommen?“, fragte Margaret.

Adam schüttelte den Kopf, dann fiel ihm ein, dass sie ihn nicht sehen konnte, und er lächelte voll Reue über seine eigene Dummheit. „Ich glaube es nicht. Er hat versucht, mich in meinem eigenen Laboratorium einzuschließen und diesen Ort in ein Grab zu verwandeln, doch keine Angst. Es gibt immer noch Wege, wie wir entkommen können.“

„Das hier ist kein richtiges Krankenhaus, nicht wahr?“, sagte sie.

„Nein. Nein, Margaret. Ich bin Arzt, ein Experte in Anatomie, aber ich arbeite nicht in einem Krankenhaus. Ich hatte einen privaten Gönner, der meine Forschungen finanzierte.“

„Mr. Value“, sagte Margaret. „Er war auch mein Arbeitgeber, oder meine Arbeitgeber arbeiteten für ihn. Hat man mich deshalb zu dir gebracht? Weil du für Mr. Value arbeitest?“

„Ich hatte gewisse geschäftliche Vereinbarungen mit Mr. Value, ja. Das ist der Grund, weshalb du hierher gebracht wurdest. Ich verarzte manchmal Leute, die im Dienst für ihn verletzt wurden, aber er war nicht mein Gönner. Tatsächlich hatten Mr. Value und ich denselben Gönner, einen wohlhabenden Mann mit vielen verschiedenen Interessen in Wissenschaft und Industrie. Er hat die Forschungen bezahlt, die es mir möglich machten, dein Leben zu retten. Leider hat er mir nun seine Unterstützung entzogen, wie du hören konntest. Doch ich habe noch andere Quellen.“

„Werde ich jemals wieder sehen können?“, fragte Margaret. „Meine Arme und Beine wieder fühlen? Muss ich etwa für immer blind und gelähmt bleiben?“

Adam legte die Wange an das kalte Glas, das ihr Gehirn umschloss. „Ich werde all meine Kräfte einsetzen, damit du wieder ganz wirst“, sagte Adam und schloss die Augen. „Ich habe beträchtliche Kräfte.“