Wahre Geständnisse
Pimm saß geduldig in einem von Worths Sesseln, die Beine übereinander geschlagen. Sein Blick wanderte immer wieder zu der Bar an der Wand und zu den Flaschen, mit denen Worth vorgeblich beschäftigt gewesen war, als er das Messer für seinen verzweifelten Angriff herausgeholt hatte. Ein Drink wäre jetzt sehr angenehm, doch er glaubte nicht, dass Skye das gutheißen würde. Natürlich hieß sie in Wirklichkeit „Skyler“, aber ihr Künstlername passte unter den gegebenen Umständen einfach besser.
Er hatte den Verdacht, dass ihre Texte ihrer wahren Persönlichkeit entsprachen, während er bislang nur mit ihren Verkleidungen zu tun gehabt hatte: Die ehrbare Matrone vor Values Büro, der Mann mit dem scheußlichen Schnurbart, der nun mit ihm unterwegs war. Ihre Reportage über die Opfer von Morbus Konstantin war nachdenklich und einfühlsam gewesen, ohne übermäßig sentimental zu werden. Der journalistische Ton war reserviert und gewissenhaft, während sie meisterhaft Zitate ihrer Gesprächspartner auswählte und arrangierte, um eine stärkere emotionale Wirkung zu erzielen. Er hatte sich das Namenskürzel unter dem Artikel nicht gemerkt, doch nun, da er wusste, dass der Text aus ihrer Feder stammte, hatte er noch größeren Respekt vor ihr. Pimm war recht gut darin, Briefe zu schreiben, und in Oxford hatte er den einen oder anderen Essay verfassen müssen. Doch die Fähigkeit, durch das geschriebene Wort Meinungen und Stimmungen zu beeinflussen, war ein Talent, das er nie ausgebildet hatte und das er bewunderte.
Gesprochene Worte waren allerdings etwas ganz anderes. Manchmal konnte er damit Stimmungen, Meinungen und sogar Leben verändern. Mit dem hölzernen Ende seines Stocks schlug er sacht auf Worths Knie. „Mr. Worth, bitte. Sie sind schon vor fast fünf Minuten aufgewacht. Bitte hören Sie auf, sich bewusstlos zu stellen. Ich habe Ihnen Zeit gelassen, Ihre Gedanken zu ordnen, aber nun müssen wir wirklich reden.“
Worth hob den Kopf. Er zerrte nicht an den Fesseln, die seine Knöchel an den Stuhlbeinen und seine Handgelenke an den Armlehnen festbanden. Skye hatte das Seil in einem der anderen Zimmer gefunden, wo es als Vorhangschnur gedient hatte, und Pimm hatte es für seinen jetzigen Zweck missbraucht. Eher würde der Stuhl zusammenbrechen, als dass die Knoten aufgingen.
Worth starrte Pimm mit leerem, verzweifeltem Blick an. „Ich habe nachgedacht“, sagte er tonlos. „Sie haben nicht die Bullen gerufen. Sie arbeiten nicht für die Polizei.“
Pimm nickte. „Nicht in diesem Fall. Wir handeln heute als Privatleute, als besorgte Bürger. Wir …“
„Sie arbeiten für Value.“
Das saß. „Mr. Value hat mich um Unterstützung gebeten, ja. Es gefällt ihm nicht, wenn seine Angestellten ermordet werden.“
Worth schüttelte den Kopf. „Es sei denn, er selbst tut es.“
„Also leugnen Sie Ihre Taten nicht?“, sagte Skye, und Worth zuckte zusammen und versuchte, hinter sich zu sehen. Dort saß Skye in einer Ecke im Schatten und sah zu. Beobachtete die Szene. Schrieb sich höchstwahrscheinlich alles auf, obwohl Pimm von Herzen hoffte, dass nichts davon am Ende in der Zeitung stehen würde.
„Dass ich diese Frauen getötet habe?“ Worth schüttelte den Kopf. „Ich hab’s getan.“
„Weil Sie Ihre Frau verloren haben?“, sagte Skye. „Weil Sie diesen Frauen die Schuld an der Krankheit gaben, die Sie mit nach Hause brachten? Die Krankheit, die Ihre Liebste verwandelte?“
„Sie sind gut informiert“, sagte Worth. „Allerdings nicht gut genug, scheint mir. Nein, dieses Unglück laste ich nicht den Huren an. Ich habe sie nicht aus irgendeinem Gefühl der Empörung getötet und auch nicht aus Rache. Ich kenne mich mit Huren aus, Sir. Ich war selbst einmal Zuhälter, und zwar ein recht erfolgreicher.“
Ah, dachte Pimm. Ein unzufriedener Angestellter also? Einer aus Values Führungsriege, der sich gegen seinen Herrn gewandt hatte und die Frauen tötete, die Value Geld einbrachten, um dadurch das Geschäft seines Feindes zu schädigen? Einleuchtend, wenn auch weniger romantisch als die Vorstellung, dass er vor Kummer über die Verwandlung seiner Frau wahnsinnig geworden war.
Worth fuhr fort. „Diese Straßenmädchen haben ohnehin nur ein sehr kurzes, unschönes Leben. Es steht von vornherein fest, dass sie elend sterben. Bei mir sind sie wenigstens rasch gestorben, in einer Ätherwolke, die sie auslöscht. Atemlosigkeit, die sie einschläfert und in einen sanften Tod übergeht. Ich hatte gehofft, sie vor einem sinnlosen Tod zu bewahren. Ich wollte, dass ihr Tod einen Sinn hat.“
Pimm hatte schon viele Rechtfertigungen für Mord gehört. Rache, Wut, eine Laune oder ein innerer Zwang. Aber dem Leben der Ermordeten einen Sinn zu geben? Das war neu. „Wie meinen Sie das? Was für einen Sinn?“
„Ich habe seine Huren umgebracht und auf den Treppenstufen seiner Bordelle hinterlassen, weil ich hoffte, dass die Polizei dann endlich gegen ihn ermitteln würde. Ich dachte, dass man solche Morde nicht ignorieren könnte, vor allem wenn sie so rasch hintereinander geschahen, in einer Serie. Ich dachte, das würde ganz sicher Aufmerksamkeit auf seine Geschäfte lenken.“
Als ob es keine bessere Methode gäbe, die Polizei auf etwas aufmerksam zu machen! Obwohl er in gewisser Weise recht hatte, eine Mordserie war mit Sicherheit wirkungsvoller als ein anonymer Brief voll unbewiesener Anschuldigungen. Pimm räusperte sich. „Ich versichere Ihnen, dass die Polizei Mr. Value im Visier hat. Gegen ihn laufen mehrere Ermittlungsverfahren.“
„Die Polizei weiß überhaupt nichts“, sagte Worth. „Sie glaubt, dass Value ein gewöhnlicher Krimineller ist, aber er ist noch in ganz andere Dinge verstrickt. Schmuggel, Prostitution und Diebstahl sind dagegen Dummejungenstreiche.“
„Dann klären Sie mich doch auf“, sagte Pimm. „Ich lerne so gern dazu.“
Der Mann fing an zu zittern und kniff die Augen zu. „Schluss mit dem Unsinn. Machen Sie schon. Töten Sie mich.“
„Wie bitte?“, sagte Pimm.
Worth öffnete zuerst das eine Auge, dann das andere. „Sie … Spielen Sie nicht mit mir, Sir. Man hat Sie geschickt, um mich zu töten. Bitte, tun Sie es, und setzen Sie meinem Leiden ein Ende.“
„Wir sind keine Mörder“, sagte Skye. „Wir sind, ähm, Detektive. Wir wollen nur die Wahrheit herausfinden.“
Worth fing an zu lachen. „Ihr seid Narren. Ihr arbeitet für Value. Ihr glaubt, ihr seid nur Ermittler? Wenn ihr selbst keine Mörder seid, dann seid ihr die Jagdhunde des Mörders, die ihn zu seiner Beute führen. Wenn Value herausfindet, dass ich es war, der seine Huren ermordet hat, wird er mich an die Kreaturen verfüttern, die in der Themse leben, oder über die Mauer ins alte Whitechapel werfen lassen. Das tut er nämlich mit den Feinden, die er am meisten hasst. Manche von ihnen haben dort drinnen tagelang überlebt und die Mauern angeschrien, bis der Durst sie schließlich überwältigt hat und sie versucht haben, das verseuchte Wasser zu trinken.“
Pimm unterdrückte ein Schaudern. „Ich habe Value noch nicht über das benachrichtigt, was ich herausgefunden habe. Ich bin allein hier. Ich bezweifle nicht, dass Ihnen etwas Furchtbares zustoßen wird, wenn Value Ihre Identität erfährt, und ich kann den Mann nicht ewig hinhalten. Aber Ihnen steht noch eine andere Option offen.“
„Welche soll das sein?“
„Gestehen Sie“, sagte Pimm. „Ich kenne einige Polizisten, vertrauenswürdige Männer, die unbestechlich sind.“
„Auch Sie galten als unbestechlich, Lord Pembroke, und doch haben Sie Values Geld angenommen.“
Einen Moment lang war Pimm beleidigt, dann schmunzelte er. „Sein Geld? Ich brauche und will sein Geld nicht, Mr. Worth. Meine Familie gehört nicht zu denen, die nur noch ihre Titel besitzen. Wir haben immer noch unser Vermögen. Über Geld brauche ich mir keine Gedanken zu machen. Ich habe eingewilligt, Mr. Value zu helfen, weil ich den Mörder aufhalten wollte. Mr. Value wünschte nicht, dass die Polizei hinzugezogen würde. Weil ich wusste, dass ich weitaus bessere Chancen haben würde, den Mörder – Sie – zu fassen, wenn wir zusammenarbeiteten, stimmte ich seinen Bedingungen zu. Value gewährte mir Einblick in die Arbeitsgewohnheiten der Frauen und bewaffnete Unterstützung durch seine Männer. Tatsächlich habe ich nach weniger als einem Tag mein Ziel erreicht, und hier sind wir nun. Aus Sicht der toten Mädchen und derer, die sie morgen, nächste Woche, im nächsten Monat noch getötet hätten, habe ich richtig gehandelt, denke ich.“ Er beugte sich vor. „Es stimmt, dass Value will, dass ich Sie ihm ausliefere, damit er seine eigene Art von Gerechtigkeit ausüben kann. Aber ich übergebe Sie gern stattdessen den Polizisten. Dann können Sie denen erzählen, was Sie getan haben, und warum Sie es getan haben.“
„Man wird mich hängen.“
„Sie verdienen doch sicherlich, gehängt zu werden?“, sagte Pimm eher nachdenklich als anklagend. „Aber vielleicht können Sie auch eine Abmachung mit der Polizei treffen und so Ihr Leben retten. Was auch immer das Geheimnis um Abel Value ist, auf das die Polizei hingewiesen werden sollte – warum erzählen Sie es ihr nicht einfach? Ich weiß, dass Sie deren Aufmerksamkeit eigentlich anonym darauf lenken wollten, aber dafür ist es jetzt zu spät.“
„Ich bin ein Mörder. Man würde mir niemals glauben.“
Pimm zuckte die Schultern. „Was für eine Wahl haben Sie? Sie sind ein Mörder, ganz wie Sie sagen. Ich kann Sie nicht entkommen lassen. Ich werde auf jeden Fall die Polizei rufen. Nun, wenn sie kommt, könnten Sie natürlich alles leugnen und mich festnehmen lassen, weil ich in Ihr Haus eingebrochen bin. Ich habe mich in der Tat absolut schockierend verhalten. Nicht einmal meine Freunde bei der Polizei könnten ignorieren, dass ich Ihr Haus unter Vortäuschung falscher Tatsachen betreten, Sie mit einer elektrischen Waffe von zweifelhafter Legalität angegriffen und danach an einem Stuhl festgebunden habe. Aber ich würde der Polizei alles erzählen, was ich weiß.“
„Es gibt keine Leichen“, sagte Worth. „Value versteckt sie, um meine Pläne zu durchkreuzen. Wie wollen Sie dann beweisen, dass ein Verbrechen stattgefunden hat?“
„In der Tat“, sagte Pimm. „Möglicherweise werden Jenkins und ich in irgendeiner Zelle verschwinden, die Polizei wird sich bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, und es wird nichts weiter geschehen, jedenfalls was uns betrifft. Aber denken Sie nicht, dass Value von meiner Verhaftung hören wird? Denken Sie nicht, dass er gewisse Schlüsse ziehen wird? Denken Sie nicht, er wird kommen, um …“
„Genug!“ Worth stöhnte auf. „Ich werde gestehen. Es wird das Unvermeidliche nur hinauszögern. Value wird mich sehr bald umbringen. Wenn er nicht an mich herankommt, wenn ich in der Zelle sitze, hat er Partner, die das für ihn übernehmen.“
„Wären Sie so freundlich, mir zu erzählen, welcher Verbrechen Sie Value verdächtigen?“, sagte Pimm. „Der Mann liegt mir nicht unbedingt am Herzen, wissen Sie.“
Worth spuckte aus. „Sie arbeiten für ihn. Vielleicht können Sie Ihren Mut nicht so weit in den Wind schießen, dass Sie einen Gefesselten ermorden, aber durch Ihre Verbindung zu ihm sind auch Sie verdächtig. Warum sollte ich Ihnen sagen, was ich weiß? Sie würden nur zu Value gehen und meine Worte weitertragen, und ich habe nicht den Wunsch, ihm zu zeigen, wie viel ich weiß.“
„Können Sie mir eine Frage beantworten?“, sagte Skye.
„Bestimmt nicht.“
„Ich frage trotzdem. Was hat Bertram Oswald mit Mr. Value zu tun?“
Pimm runzelte die Stirn. Sir Bertram? Was für eine seltsame Frage. Sie konnte genauso gut fragen, was der Premierminister mit Value zu tun hatte oder die Königin selbst. Da gab es gewiss keine Verbindung.
Worth versuchte wieder, sich auf seinem Stuhl umzudrehen. „Immerhin stellen Sie die richtigen Fragen, Mr. Jenkins.“
„Dennoch weigern Sie sich, brauchbare Antworten zu geben.“
„Was erwarten Sie von mir? Ich bin nur ein einfacher Mörder. Nun lassen Sie uns einen echten Detektiv finden, Lord Pembroke, damit ich mein Geständnis ablegen kann.“