Die Last des Visionärs

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Einen Augenblick lang herrschte fassungsloses Schweigen, dann sagte Winnie: „Die ganze Zeit über habe ich Gott verflucht, dass er mir Morbus Konstantin beschert hat, dabei hätte ich eigentlich Sie verfluchen müssen.“

Oswald seufzte. „Verglichen mit dem Wohl der Allgemeinheit sind Ihre Unannehmlichkeiten belanglos, Winifred. Außerdem ist Morbus Konstantin ein alberner Name. Ich war enttäuscht, als ich sah, dass Sie die Bezeichnung in Ihren Artikeln verwendeten, Miss Skyler. In meinen Tagebüchern nenne ich sie die Große Verwandlung.“

Tagebücher!, dachte Ellie. Tagebücher waren Beweise.

Oswald redete weiter und ging dabei vor dem Käfig auf und ab. „Obwohl in der Tat ein Botschafter aus Konstantinopel zu den ersten gehörte, die sich die Krankheit zuzogen, als ich sie in ein gewisses Bordell brachte. Er – oder sie – war allerdings nicht der ursprüngliche Überträger.“

„Was glaubten Sie, was geschehen würde, als Sie diese Katastrophe entwickelt haben?“, fragte Ellie. „Was war Ihre Vorhersage, Ihre Hypothese?“

„Chaos natürlich. Doch ich erwartete und erwarte noch immer ein weiteres Ergebnis. Die Tatsache, dass Männer sich in Frauen und Frauen sich in Männer verwandelten, während ihr Geist und ihre Fähigkeiten gleich blieben, sollte den Menschen doch zeigen, wie lächerlich und willkürlich die Trennung in männliche und weibliche Sphären ist. Ich würde dieses Experiment als noch nicht abgeschlossen bezeichnen, nicht als misslungen. Es ist einer der Vorteile eines verlängerten Lebens, dass man langfristigen gesellschaftlichen Experimenten wie diesem nachgehen kann. Natürlich muss man sich anderweitig beschäftigen, während man die Ergebnisse abwartet. Daher mein Interesse an den mechanischen Kurtisanen.“

„Die Seuche hat mehr Menschen getötet als verwandelt“, unterbrach ihn Ellie. „Waren all diese Toten ein akzeptabler Preis für Ihr Experiment?“

Oswald runzelte die Stirn. „Weshalb sind Sie derart fixiert auf Leben und Tod? Das Leben ist nichts Kostbares, Miss Skyler. Sie können eine schmutzige Wasserpfütze im Sonnenschein sich selbst überlassen und nach ein paar Tagen oder Wochen wird es darin vor Leben nur so wimmeln. Oh ja, manche Leben sind wertvoller als andere, gewisse Individuen würdiger als der Rest der schwirrenden Massen: Ich selbst und vielleicht Sie drei und vielleicht noch Abel Value auf seine harte, einfache Art. Aber wenn einige sterben müssen, um meine Forschungen voranzubringen, was macht das schon? Manche meiner Kollegen studieren Fruchtfliegen. Solche Fliegen sind wunderbare Testobjekte, weil sie sich rapide vermehren und ihr Leben sehr kurz ist, sodass sie sehr schnell immer neue Generationen hervorbringen. Wenn man eine neue Variable in das Fruchtfliegenvolk einführt, kann man zusehen, wie die Folgen sich unverzüglich ausbreiten. Verglichen mit meiner eigenen Lebensdauer sind Menschen ebenfalls kaum mehr als Fliegen. Ein paar Menschen zu vernichten ist ohnehin ein barmherziger Akt.“

„Ihr Rationalisierungsvermögen ist verblüffend“, sagte Pimm.

„Oh, seien Sie doch nicht so naiv, Lord Pembroke. Es gibt viel zu viele Menschen. Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie viele Menschen auf der Erde umher kreuchen? Eineinviertel Milliarden.“ Er erschauerte. „Eine solche Zahl kann der menschliche Geist kaum fassen!“

„Dass Sie die Zahl nicht fassen können, heißt nicht, dass auch nur einer von ihnen zu sterben verdient“, sagte Pimm.

„Was hat das mit verdient oder unverdient zu tun? Sie haben sich niemals das Recht verdient, zu leben, deshalb müssen sie sich auch nicht das Recht zu sterben verdienen. Haben Sie die Schriften von Reverend Malthus gelesen? Er hat schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass das Bevölkerungswachstum exponentiell vonstatten geht, während das Angebot an Nahrungsmitteln nur linear wächst.“ Er seufzte. „An Ihren Gesichtern erkenne ich, dass niemand von Ihnen rechnen kann. Was ich sagen will, ist Folgendes: Die Bevölkerung wächst sprunghaft, während unsere Möglichkeiten, Nahrungsmittel zu produzieren, kaum Schritt halten können. Malthus hat vorausgesagt, dass eher heute als morgen die Bevölkerung sehr viel größer sein wird als unsere Fähigkeit, uns zu ernähren. Es ist daher tatsächlich nur gnädig, die Herde zu verkleinern, wie man auch Hirsche und Rehe jagt, um ihre Zahl zu kontrollieren. Andernfalls vermehren sie sich zu schnell und verhungern.“

„Aber wir verhungern heute nicht“, meinte Carrington und kehrte mit einem Teetablett zurück. „Ich habe einige Kekse mit Zuckerguss gefunden, sie sind herrlich.“

Oswald schien verärgert, dass man ihn unterbrochen hatte. Er nahm seine Teetasse und wies Carrington an, das Tablett so hinzustellen, dass „unsere Gäste“ es erreichen könnten. Mit übertriebener Sorgfalt setzte der Sekretär das Tablett auf dem Boden ab und nahm dann Pimms Gehstock zu Hilfe, um es näher ans Gitter heranzuschieben.

„Was tun Sie da?“, wollte Oswald wissen.

„Ich würde es Freddy zutrauen, mir bei einem Fluchtversuch den heißen Tee ins Gesicht zu schleudern“, meinte Carrington.

„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen“, gab Winnie zu. „Natürlich nicht, um uns bei der Flucht zu helfen, das wäre offensichtlich lächerlich, sondern nur zu meinem Vergnügen.“ Sie griff durch die Gitterstäbe und schenkte für Ellie und Pimm Tee ein, während Oswald ungeduldig mit seinem Gehstock pochte. Irgendeine Eigenschaft seiner merkwürdigen Metallzusammensetzung ließ ihn unangenehm auf dem Boden klirren.

„Carrington“, blaffte der angesehene Wissenschaftler. „Bringen Sie unserem anderen Gefangenen den Tee, und bleiben Sie bei ihm. Er ist ein wenig überreizt. Sie sollten ihn beruhigen.“

„Natürlich, Herr.“ Carrington verbeugte sich auf so unterwürfige Weise, dass es eindeutig spöttisch wirkte, dann verschwand er wieder im Schatten.

Nachdem er einen Schluck Tee genommen hatte, meinte Pimm: „Ihnen ist vermutlich noch nie der Gedanke gekommen, dass Sie Ihre Intelligenz auch dafür nutzen könnten, neue Wege zu finden, die Hungernden zu ernähren?“

„Was meinen Sie damit? Landwirtschaft? Das ist nun wirklich keine meiner Interessen, Lord Pembroke. Zudem macht eine kleinere Bevölkerung es mir leichter, Variablen in meinen Experimenten zu verfolgen. Ich muss sagen, Ihre Reaktion enttäuscht mich. Mr. Value leuchtete die offenkundige Weisheit meiner Argumente sofort ein, und Mr. Adams teilte mein Interesse, die vollständige Spanne menschlichen Potentials zu erforschen. Sie sind Journalistin, Miss Skyler. Sie schätzen doch gewiss die Wahrheit höher als alles andere? Dann lassen Sie uns den Schleier von den Rätseln der Natur reißen. Lassen Sie uns die Wahrheiten der Welt enthüllen!“

„Wenn Sie die Wahrheit so sehr schätzen, dann stört es Sie doch gewiss nicht, wenn ich Sie in meiner Zeitung zitiere“, meinte sie.

Oswald schmunzelte. „Zeitungen. Ja. Ihre Texte sind äußerst erkenntnisreich, Miss Skyler, und Sie werfen damit Perlen vor die Säue. Ich könnte mich auch auf ein Feld stellen und einer Herde blökender Schafe die Prinzipien der pneumatischen Chemie darlegen, aber das würde mir nicht helfen und die Schafe auch nicht klüger machen. Das Gleiche gilt für die Idee, den Bewohnern dieser Stadt die Wahrheit zu erzählen. Sie würden sie nicht verstehen. Sie würden versuchen, mich aufzuhalten. Aber drucken Sie nur alles, was Sie möchten, wenn Sie Ihre Freiheit wiederhaben. Das liegt natürlich allein in meinem Ermessen. Selbst wenn es Ihnen gelänge, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen, würde ich das gewiss überstehen. Ich habe einflussreiche Freunde.“

„Ach richtig“, sagte Pimm. „Sie sitzen ja rechts von der Königin.“

„Sogar noch näher, alter Junge.“ Oswald zwinkerte ihm zu, und Ellie schauderte es. „Diejenigen meiner Experimente, die auch tatsächlich Anerkennung fanden, genügten, dass die Königin auf mich aufmerksam wurde. Die Entwicklung der alchemistischen Lampen und die Magnetfeldmanipulatoren, mit denen man die Gesundheit verbessern kann, und so fort. Mein Name war ihr folglich nicht völlig unbekannt. Trotzdem war sie zu dieser Zeit noch sehr vernarrt in ihren Mann Prinz Albert. Als er dank einiger meiner Fortschritte in der Keimtheorie wunderbarerweise das Fieber überlebte, wurde aus dem Interesse, das sie mir entgegenbrachte, freundschaftliche Zuneigung, obwohl ich Pasteur den Ruhm überließ, da die ursprüngliche Erkenntnis von ihm stammte. Leider wuchs ihre Hingabe zu Prinz Albert infolge seiner Krankheit sogar noch. Mir scheint, wenn man jemanden, den man liebt, fast verliert, weiß man ihn danach umso mehr zu schätzen.“

Ellie musste daran denken, wie Pimm bewusstlos ins Lagerhaus getragen worden war. Sie hatte angenommen, dass er tot sei, und in diesem Augenblick hatte sich ihr Herz in ihrer Brust in Glasscherben verwandelt. Oswald war zwar wahnsinnig, aber er lag nicht immer falsch.

„Als Erstes vergiftete er den Prinzen“, sagte Pimm. „Ich merke, dass er auf diese Enthüllung zusteuert, aber der Vortrag muss wirklich nicht die ganze Nacht dauern. Es stimmt nicht immer, dass Verbrecher sich nach einem Geständnis sehnen, aber die Verbrecher, die sich für klug halten, schwingen liebend gern lange Reden.“

Oswald lächelte dünn. „Sie sind ein fleißiger Detektiv, Lord Pembroke. Ich würde mir über Ihre Anschuldigungen Sorgen machen, wenn ich glaubte, für irgendeine Übeltat Beweise hinterlassen zu haben. Ja, ich habe den Prinzen mit der Großen Verwandlung angesteckt. Ursprünglich hatte ich gehofft, er werde daran sterben, doch rückblickend erscheint es mir besser, dass er sich nur verwandelte. Selbst wenn man der Königin Beweise für seine Untreue vorgelegt hätte, hätte sein Tod bei ihr vielleicht zu starke Gefühle ausgelöst. Zumindest wäre sie gezwungen gewesen, zu trauern, was insgesamt eine recht lästige Sache ist. Glücklicherweise überlebte der Prinz aber und wurde zu einer hässlichen Frau mit Pferdegesicht. Sein Name darf im Beisein der Königin nicht mehr genannt werden. Seine Unschuldsbeteuerungen glaubte ihm niemand, obwohl sie natürlich der Wahrheit entsprachen. Die ganze Geschichte war sehr geschickt eingefädelt, und ich wurde der Königin in dieser schweren Zeit eine Stütze und konnte sie trösten. Seitdem stehen wir uns äußerst nahe.“

„Oh“, meinte Pimm, „Haben Sie sie deshalb mit der Krankheit infiziert und in einen Käfig gesperrt?“

Winnie und Ellie rangen nach Luft, und Oswald sah ihn finster an. „Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie wohl die Identität meines anderen Gastes erraten konnten. Es erschien mir klug, Sie augenblicklich mit dem Gas bewusstlos zu machen, als ich Sie hier entdeckte. Vielleicht hätte ich Sie vorher fragen sollen.“

„Sie halten die Königin hier gefangen?“, fragte Winnie.

„Jetzt ist er wohl eher der König“, sagte Oswald. „Oder bleibt er trotzdem die Königin? Es gibt darauf sicherlich eine Antwort, in irgendeinem Buch über das Hofprotokoll, mir ist es gleich. Er selbst nennt sich noch immer meine ‚Königin‘, seine Meinung fällt allerdings kaum ins Gewicht. Die Verwandlung ist bedauernswert, aber sie war notwendig. Selbst als ich meinen ganzen Einfluss einsetzte, meine besten Argumente vorbrachte und die Königin als ihr Freund ersuchte, war sie störrisch. Sie weigerte sich, mich bei meinem neuen großen Plan zu unterstützen. Ich hatte die Hoffnung gehabt, ihren Geist beherrschen zu können, doch als diese Forschungsrichtung sich als fruchtlos erwies, wandte ich mich einem anderen Ansatz zu.“

„Was hilft es Ihnen, wenn Sie aus ihr einen Mann machen?“, wollte Ellie wissen.

„Die mechanischen Kurtisanen“, sagte Pimm. „Er hat für die Königin eine mechanische Doppelgängerin gebaut, eine Nachbildung.“

Oswald bleckte die Zähne. „Sie wissen mehr, als ich dachte, Lord Pembroke. Woher bekommen Sie Ihre Informationen?“

„Wie Miss Skye ist es auch mir nicht gestattet, meine Quellen zu nennen“, sagte Pimm.

„Aber sie könnte Sie als Quelle nutzen, nehme ich an“, sagte Oswald. „Sie könnte all dies in ihrer Zeitung drucken lassen und mit übler Nachrede Rufmord begehen.“

„Sie meinen Verleumdung.“ Ellie konnte sich nicht zurückhalten, sie musste diesem selbstzufriedenen Wichtigtuer einen Dämpfer versetzen. „Schriftliche Falschbeschuldigungen sind Verleumdung. Wenn jemand mündlich falsche Anschuldigungen erhebt, dann ist es üble Nachrede.“ Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Das ist ein häufiger Fehler. Außerdem ist natürlich keine der Anschuldigungen falsch.“

„Ich verneige mich vor Ihrem überragenden Wissen zum Thema Verleumdung“, sagte Oswald und verbeugte sich tatsächlich in sehr höfischer Manier. Falls Ellie ihn verärgert hatte, so zeigte er es nicht. „Ich bewundere Ihre sprachliche Exaktheit, Miss Skyler, und entschuldige mich für meine Unzulänglichkeiten. Also, ja, Sie könnten Ihren verleumderischen Unsinn drucken. Aber warum sollten Sie diesen Weg wählen? Warum sollten Sie versuchen, mich zu ruinieren, wenn Sie mir stattdessen bei meinem großen Werk helfen könnten? Alles, was ich vorbereitet habe, steht nun bereit. Dieses Land ist kurz davor, wahre Größe zu erlangen.“

Oswald trat näher an den Käfig heran. „Wir sind nun am Punkt der Entscheidung angelangt. Ich bin ein vernünftiger Mann. Ich biete Ihnen zwei Handlungsmöglichkeiten: Sie können die nächsten Tage oder Wochen hier eingesperrt bleiben, oder Sie dürfen sich mir anschließen und an meinem großen Werk teilhaben.“

„Was für ein großes Werk war das doch gleich?“, fragte Pimm. „Sie waren in diesem Punkt leider recht vage.“

„Oh, aber mein Vortrag langweilt Sie doch ohnehin schon. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass ich bereits genug geschwatzt habe? Lassen Sie mich nur so viel sagen: Mein neues Projekt lässt meine früheren Experimente bescheiden und ehrgeizlos aussehen. Mein großes Werk wird mir helfen, die Bevölkerung dieses Planeten auf ein überschaubares Maß zu verringern, und mir einen ausgezeichneten Raum für Experimente zur Erschaffung einer idealen Gesellschaft bieten. Schließen Sie sich mir an, und wenn ich Ihre Loyalität geprüft habe, werde ich Ihnen gern all meine Pläne mitteilen.“

„Was wäre denn unser Lohn?“, fragte Ellie.

Pimm hob zu sprechen an oder vielleicht auch zu einem Fluch. Doch er verstummte, als Oswald leise in sich hineinlachte. „Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen, Miss Skyler. Wenn mein Experiment erst einmal abgeschlossen ist, wird es in meiner Macht stehen, solch ein ungeheures Versprechen zu erfüllen. Wenn Sie es wünschten, wäre ich in der Lage, Ihnen Ihr eigenes Land zu geben, über das Sie herrschen könnten. Nun sagen Sie mir: Was wünschen Sie sich?“

„Ich möchte nur die Wahrheit suchen, schreiben und ein zufriedenes Leben führen.“

„Hmm. Das ist recht einfach, wenn auch etwas vage. Wir werden später auf die Einzelheiten zu sprechen kommen. Winifred?“

„Geben Sie mir mein Leben zurück“, sagte Winnie. „Es soll so sein, als hätten Sie mich niemals mit dieser Krankheit infiziert.“

„Eine schwierige Aufgabe, jedoch nicht unlösbar“, sagte Oswald. „Ich könnte den Prozess vielleicht einfach noch einmal ablaufen lassen. Wenn man die Große Verwandlung überlebt hat, wird man zwar immun gegen die Krankheit, aber ich könnte vermutlich einen neuen Erregerstamm züchten.“

„Oh, zur Hölle mit Ihnen“, meinte Winnie müde.

Oswald seufzte. „Was ist mit Ihnen, Lord Pembroke? Was wünschen Sie sich am allermeisten?“

„In der Regel nur einen weiteren Drink“, sagte Pimm. „Sie können mir nichts bieten, Sir.“

„Unsinn. Jeder will etwas. Value wollte Geld und Macht, und ich gab sie ihm. Er ist im Grunde ein Kind, wenn auch ein sehr gerissenes Kind, und er liebt sein Spielzeug. Mr. Adams, nun, tatsächlich wollte er Liebe. Diese rührseligen und romantischen Ideen waren ein eigenartiger blinder Fleck auf seinem Weltbild, das ansonsten hochentwickelt war. Ich versuchte ihm dabei zu helfen, die reine Liebe zu finden, die er suchte. Ich fürchte allerdings, er hat sie nie gefunden. Jeder hat seinen Preis, meine Freunde, und ich habe eine prall gefüllte Geldbörse.“ Er wandte sich ab.

„Es gibt noch eine dritte Möglichkeit“, meinte Pimm.

„Hm?“ Oswald blickte auf seine Taschenuhr und schenkte ihnen plötzlich nur noch sehr wenig Aufmerksamkeit.

„Sie sagten, wir könnten uns Ihnen entweder anschließen oder eingesperrt bleiben, aber es gibt noch etwas, das wir tun könnten. Wir könnten Ihnen Widerstand leisten.“

„Ah.“ Er ließ die Uhr zuschnappen und packte sie weg. „Ja, das könnten Sie wohl, vorausgesetzt, Sie entkommen. Allerdings kann man diese Möglichkeit auch anders formulieren: ‚Wir könnten sinnlos sterben.‘ Wenn Sie sterben möchten, lassen Sie es mich wissen. Ich kann das nur zu leicht einrichten. Aber ich habe noch Hoffnung für Sie. Dass Sie so viel über meine Pläne herausfinden konnten, zeugt von einem beeindruckenden geistigen Entwicklungsstand. Menschen mit Ihren Fähigkeiten kann ich gebrauchen. Verschwenden Sie Ihr Talent nicht damit, einen albernen Groll gegen mich zu hegen. Es gibt wesentlich Wichtigeres auf der Welt und im Himmel.“ Er gähnte. „Ich muss mich nun auf die Ausstellung heute Abend vorbereiten. Das große Werk beginnt. Wollen Sie mir helfen, oder wollen Sie Gefangene bleiben?“

„Natürlich werden wir Ihnen helfen“, sagte Winnie. „Ihre Argumente haben mich voll und ganz überzeugt.“

„In der Tat“, sagte Ellie. „Ich freue mich darauf, Ihre Einsichten an die Massen weiterzugeben.“

„Natürlich. Wir sind die treuesten Anhänger Ihrer Sache. Lassen Sie uns nur heraus“ – hier lächelte Pimm und zeigte alle seine Zähne – „und wir zeigen Ihnen gern das volle Ausmaß unserer Ergebenheit.“

„Sie alle enttäuschen mich schrecklich“, sagte Oswald und schien ebenso traurig wie ein Vater, der mit ansehen muss, wie seine Kinder sich törichterweise in Gefahr bringen. „Doch vielleicht wird eine längere Gefangenschaft Ihre Ansichten ändern. Verzeihen Sie, ich muss nun Vorbereitungen treffen. Sicherlich entschuldigen Sie mich, wenn ich so unhöflich bin, Sie zu verlassen? Ich werde Sie in Zukunft sicherlich noch einmal besuchen, wenn die Zeit es erlaubt.“ Er verbeugte sich leicht, ließ eine elegante Drehung folgen und marschierte fort in die Dunkelheit.

Sie sahen ihm nach, als er verschwand. „Wir sollten wirklich bald aufbrechen“, sagte Pimm. „Ich finde, wir sind lange genug hier gewesen, und außerdem müssen wir noch an den anderen Gefangenen denken.“

„Du willst die Königin befreien?“, meinte Winnie.

„Schlägst etwa du vor, sie hier in ihrem Käfig zu lassen?“, fragte Pimm.

„Da hast du auch wieder recht.“

„Nun, Winifred, Liebling …“

„Oh, nenn mich einfach Freddy“, sagte sie. „Carrington hat Ellie bereits die Wahrheit über mich verraten.“ Zum ersten Mal, seit Ellie ihn kennen gelernt hatte, sah Pimm vollkommen ratlos aus. Er starrte Winnie mit offenem Mund an, dann warf er einen Seitenblick auf Ellie. „Oh. Sie wissen über sie Bescheid?“

„Ja“, sagte sie. „Ich sehe, dass Sie Angst haben. Jedoch habe ich nicht vor, aus Ihrer Ehe einen reißerischen Artikel zu machen. Winnie ist für mich eine Freundin, und Ihnen bringe ich nur den größten Respekt entgegen. Ich muss nicht jedes Geheimnis, das ich aufdecke, bekannt machen, Pimm. Manchmal genügt es mir, für mich selbst die Wahrheit herauszufinden. Die Enthüllung selbst bereitet mir ebenfalls kein Unbehagen. Winnie mag ihr Leben als Mann begonnen haben, aber das macht doch keinen Unterschied. Ihre Seele ist immer noch dieselbe.“

„Das erleichtert mich“, sagte Pimm. „Obwohl ich selten gehört habe, dass jemand meiner Frau eine Seele zuschreibt. Nun denn, Freddy, wie lange brauchst du, um uns aus diesem Käfig zu befreien?“

„Zehn Minuten“, meinte Winnie. „Vielleicht auch fünf, wenn du es schaffst, während der Arbeit nicht auf mich einzureden.“

„Hoffen wir, dass ich derweil Big Ben aufwecken kann“, sagte Pimm und betrachtete zweifelnd seinen schlafenden Kameraden.

„Wollen Sie etwa sagen, dass Sie das Schloss öffnen können?“, fragte Ellie.

„Natürlich“, meinte Winnie. „Das Schloss an diesem Käfig soll Löwen gefangen halten, keine Wesen, die Daumen und schlaue kleine Werkzeuge haben.“ Sie griff sich ins Haar und begann zu Ellies Erstaunen, feine Drähte und Stäbchen herauszuziehen.

„Sie haben Dietriche im Haar?“

„Eine Frau braucht ein Steckenpferd“, sagte Winnie. „Man weiß schließlich nie, wann man ein nettes Schloss zum Üben findet.“

„Aber warum haben Sie uns nicht schon vorher befreit?“

„Hauptsächlich, weil Carrington die ganze Zeit da saß und uns beobachtete“, sagte Winnie. „Währenddessen hatten wir keine Zeit, aber im Augenblick scheinen wir unbewacht zu sein. Ich war wirklich neugierig, ob sie Pimm erwischen würden. Ich habe mit mir selbst eine kleine Wette abgeschlossen, und nun schulde ich mir einen Sovereign.“

„Das ist die Frau, die mir vorwirft, geschwätzig zu sein“, beschwerte sich Pimm.

„Ruhe“, befahl Winnie und kniete sich neben die Käfigtür, um mit der Arbeit zu beginnen.