Hirngespinste und Skandale

Steampunk_Element_Trenner.psd

Eleanor Irene Skyler wurde von ihren Freunden „Ellie“ genannt, obwohl ihr Verfasserkürzel in der Zeitung „E. Skye“ lautete, mit zusätzlichem „e“ am Ende, weil ihr Chefredakteur diese Form kultivierter fand. Sie stieg aus der elektrischen Tram und trat direkt in einen sehr unkultivierten Haufen Pferdemist. Sie fluchte nicht laut, denn obwohl sie zwangsläufig mehr Eigenständigkeit besaß als die meisten Frauen in der Stadt, konnte sie ihre gute Erziehung doch nicht ganz vergessen. Nachdem sie ihren Schuh, so gut es ging, an einem Pflasterstein abgeschabt hatte, wich sie einem weiteren Haufen Pferdeäpfel aus und begab sich zum Büro des ‚London Argus‘, nicht weit vom Printing House Square entfernt.

Die Straßen Londons waren noch immer ein stark umkämpftes Terrain. Die neuen elektrischen Trams polterten ihre vorherbestimmten Routen entlang, während traditionellere Verkehrsteilnehmer zu verhindern versuchten, dass man ihre Pferde überfuhr. Natürlich hatten die meisten Menschen weder Geld für ein Pferd noch für die Tram und gingen zu Fuß. Mit den elektrischen Omnibussen hatte es bereits einige größere Unfälle gegeben, und über manche davon hatte sie in der Zeitung berichtet. Deshalb fuhr sie mit der leuchtend roten „Teufelstram“, so oft sie konnte, in der Hoffnung, Augenzeugin einer weiteren derartigen Katastrophe zu werden. Selbst die Londoner, die sich die Fahrt leisten könnten, nahmen meistens lieber nicht die Tram. Zum einen aus Angst vor einem Zusammenstoß und zum anderen, weil die Dinger sowieso nicht viel schneller waren als ein strammer Fußmarsch. Auch wenn das die Schwere der Unfälle schon wieder abmilderte. Die Omnibusse gehörten jedoch zu Sir Bertrams Zukunftsvision für ein schönes neues London, und deshalb bestand die Königin darauf, dass sie in Betrieb blieben. Wahrscheinlich würden sie mit der Zeit in den Hintergrund des Stadtbildes rücken und nicht länger als Neuheit gelten. Schließlich waren selbst die Eisenbahnen den Menschen einmal gefährlich und schockierend erschienen.

Die Stadt London und die ganze Welt hatten sich seit Ellies Kindheit enorm verändert. Es war kaum mehr als ein Dutzend Jahre her, dass die Weltausstellung im Kristallpalast den Anbruch eines neuen Zeitalters des wissenschaftlichen Fortschritts und der Industrie angekündigt hatte. Dieses hypothetische Zeitalter war viel schneller Wirklichkeit geworden, als sie es sich je hätte vorstellen können. Teile der Londoner Innenstadt waren jetzt an das Stromnetz angeschlossen, sodass es nie wirklich Nacht zu werden schien. Emsig surrende Rechenmaschinen ermöglichten immer größere technische Meisterleistungen. Dazu gehörte auch der Tunnel unter dem Ärmelkanal, der zum ersten Mal von George Ward Hunt vorgeschlagen worden war und für den kürzlich die Grabungen begonnen hatten. Medizinische Fortschritte wie Magnetfeldmanipulatoren und Pasteurs kontroverse Keimtheorie hatten die Lebensbedingungen aller Menschen verbessert – ja, ohne Pasteurs Neuerungen wäre der Prinzgemahl zweifellos an Typhus gestorben. (Dass er am Leben geblieben war, hatte ihm allerdings auch nicht viel gebracht. Wahrscheinlich wünschte er sich inzwischen, er wäre tot.)

Jeden Tag war von weiteren Fortschritten die Rede, von Flugmaschinen, die schneller vorankamen als die schnellsten Luftschiffe, bis hin zu Expeditionen hinab in die Tiefen der Erde. Es gab hohe Bergteleskope, die so stark waren, dass man mit ihnen angeblich die Umrisse riesiger außerirdischer Städte auf den Jupitermonden erkennen konnte. Nun war Bertram Oswald sogar dabei, seine eigene „Weltausstellung“ vorzubereiten, die im Hyde Park stattfinden sollte. Es war ein großes Ereignis, bei dem alle neuesten technischen Wunderwerke gezeigt werden sollten, die in England entstanden waren. Die meisten davon stammten bemerkenswerterweise von Oswald selbst, dem größten Geist ihrer Zeit, wie er selbst nie müde wurde zu betonen. Das Schlimmste war, dass er damit höchstwahrscheinlich Recht hatte.

Natürlich hatte der Fortschritt auch seine dunklen Seiten: hochentwickelte Automaten, die für unsittliche Zwecke missbraucht wurden, die schrecklichen neuen Kriegsmaschinen, Morbus Konstantin und seine prominenten Opfer. Der eigentlich bedeutungslose Begriff „Morbus Konstantin“ ging auf einen Druckfehler in einer rivalisierenden Zeitung zurück. „Morbus Konstantinopolis“ war für den Schriftsetzer wohl zu schwierig gewesen, und zum Entsetzen von Grammatikern und Historikern war die vereinfachte Variante der Öffentlichkeit im Gedächtnis geblieben.

Jedenfalls war es eine großartige Zeit für Journalisten. Zwar gaben Katastrophen bessere Geschichten her als glorreiche Erfolge, aber auch die hellen Seiten des Fortschritts füllten die Zeitungsspalten und zogen die Blicke der Leser an. Obwohl das Essen bei diesen Veranstaltungen immer köstlich war, wollte Ellie nicht länger über noble Galas und die Hochzeiten der Reichen schreiben. Ihr Chefredakteur Cooper hatte sich schließlich ihren Beschwerden gebeugt und ihr einen neuen Auftrag gegeben. Sie sollte die Flussschiffer, die Themseweiber und die Schlammwühler über die Monster befragen, die in den Fluten gesehen worden waren. Er hatte geglaubt, so derbe Gesellschaft würde sie davon abbringen, um interessantere Aufgaben zu bitten, doch da hatte sie ihn enttäuschen müssen. Er hatte die Passagen ihres Artikels, in denen vernünftigere und glaubwürdigere Stimmen zugaben, seltsame Dinge im Fluss gesehen zu haben, gestrichen, doch sie warf es ihm nicht vor. Sie hatten nur noch wenig Platz übrig gehabt, und die verrückteren Sprüche lasen sich einfach besser. Ellie selbst hatte keine Monster im Fluss gesehen, doch sie hatte mit Menschen gesprochen, die fest daran glaubten.

In der Redaktion herrschte wie üblich geschäftiges Treiben. Man redete wild durcheinander, und über allem hing der Geruch nach Tinte. Sie schlängelte sich mit der Anmut einer Tänzerin an den Schreibtischen und Kollegengrüppchen vorbei, ehe sie ohne anzuklopfen im Büro des Chefredakteurs verschwand.

„Oh, gut, Sie haben meine Nachricht erhalten.“ Cooper sah von seinem Schreibtisch auf, der mit Papieren übersät war wie Whitechapel mit Trümmerhaufen. „Dann werden Sie sich also Ende der Woche einschiffen?“

„Nein.“ Cooper hielt nichts davon, seine Reporter zum Trödeln und Schwatzen zu ermuntern, weswegen auf dieser Seite des Schreibtischs kein Stuhl stand. Deshalb beugte sie sich über den Schreibtisch und stützte sich dabei auf zwei festen Stapeln Zeitungspapier ab. „Ich habe kein Interesse daran, über die neueste französische Mode zu berichten.“

„Widerspenstiges Weib.“ Cooper blies in seine Pfeife und erzeugte eine Rauchwolke, die nach seinem widerlichen Gewürztabak stank. „Sie wollten, dass ich Sie ins Ausland schicke, und nun weigern Sie sich, nach Paris zu reisen.“

„Schicken Sie mich nach Mexiko, um über den Krieg zu berichten. So eine Reise meinte ich.“

„Mexiko? Wohl kaum. Sprechen Sie überhaupt Spanisch?“

Sie hatte mit Einwänden bezüglich ihrer Sicherheit oder mit Hinweisen auf die Schwäche ihres Geschlechts gerechnet. Manchmal hatte sie das Gefühl, fast fünfundzwanzig Jahre lang nur gegen diese Argumente angekämpft zu haben. Doch diese neue Taktik gab ihr zu denken. „Nein, also, ich …“

„Aber Sie sprechen fließend Französisch?“

„Ja, natürlich, aber – nein! Ich habe kein Interesse an Mode, Cooper.“

„Das ist offensichtlich“, sagte Cooper noch immer so ruhig, dass sie wütend wurde. Sie hatte den Drang, ihm mitzuteilen, dass sein Bart absolut lächerlich aussah, doch sie hielt sich zurück. Oberlippenbärte und kunstvolle Backenbärte im Dundreary-Stil waren bei Männern gerade groß in Mode. Sie dienten wohl als Beweis, dass die Männer nicht an Morbus Konstantin erkrankt waren und dies zu verschleiern versuchten. Falsche Schnurrbärte waren allerdings zweifellos überall erhältlich, für die, die sich tatsächlich verwandelt hatten und einen männlichen Schein wahren wollten. Sie befand, dass Coopers Nasengewächs nicht alberner war als die meisten anderen, auch wenn das nicht viel hieß.

„Bitte“, sagte sie und versuchte es mit Entgegenkommen. „Vielleicht könnte ich etwas in der Nähe tun und Ihnen die Ausgaben einer Atlantiküberquerung ersparen. Schicken Sie mich nach Paris, wenn der Tunnel fertig ist, und dann werde ich über den neuartigen Reiseweg berichten und über die Kleider, die ich auf der anderen Seite zu sehen bekomme. Bis dahin habe ich etwas anderes im Sinn. Die ersten Zeilen habe ich schon geschrieben.“ Sie öffnete ihr Notizbuch und ärgerte sich wieder einmal über den anmutigen Schwung ihrer Handschrift, der nicht zum Ernst und der Schärfe passte, die sie zu vermitteln versuchte. Ihre Texte gefielen ihr weit besser, wenn ein Schriftsetzer sie in akkurate Zeilen gesetzt hatte. Sie legte das Notizbuch vor Cooper auf den Tisch, und er seufzte und begann zu lesen. Sie hatte die Zeilen noch im Kopf und konnte fast verfolgen, wie seine Augen über die Zeilen huschten.

‚Es ist äußerst ironisch, dass kein wohlhabender oder einflussreicher Mann jemals zugeben wird, ein mechanisches Freudenhaus betreten zu haben – da man doch nur wohlhabende und einflussreiche Männer überhaupt durch diese eleganten und wohlbewachten Türen lässt. Wir vom Argus freuen uns, Ihnen nun stellvertretend Zutritt zu gewähren, und bieten Ihnen die seltene Gelegenheit, die samtausgeschlagenen Zimmer in diesen Häusern der…‘

„Gütiger Himmel.“ Cooper schlug das Notizbuch zu. „Sie können doch nicht ernsthaft eine solche Recherche vorschlagen! Sie wissen, dass ich Ihre Artikel genauso hoch schätze wie die der meisten Männer. Aber Sie sind kein Mann, und man würde keiner Frau jemals Einlass gewähren in einem von diesen, diesen …“

„Mechanischen Bordellen? Zahnradbetriebenen Hurenhäusern? Tempeln der technischen Unvergänglichkeit?“

„Ja. Diese Dinger. Wie wollen Sie da hineinkommen?“

„Durch Täuschung natürlich. Ich kann mit tiefer Stimme sprechen“, sie machte es ihm vor, „und mich als Mann verkleiden. Solche Verkleidungen sind nicht schwer zu bekommen. Ohne vulgär klingen zu wollen, ich bin mir durchaus bewusst, dass meine Figur sich für einen solchen Trick besser eignet als manch andere. Es ist ja nicht so, dass ich eine Liaison mit einer mechanischen Kurtisane vollziehen müsste, um über sie zu schreiben.“

„Solche Einzelheiten würden wir auch nicht drucken. Wir sind schließlich nicht der Lantern, es gibt Abgründe, in die wir nicht sinken werden.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann das nicht gestatten.“

„Oh, aber wenn ich allein gehen würde, ohne Erlaubnis – würde die Geschichte, die daraus entsteht, Sie interessieren? Oder soll ich sie stattdessen dem Lantern verkaufen?“

Er seufzte. „Ellie, wenn ich Ihr Vater wäre oder Ihr Bruder …“

„Das sind Sie aber nicht.“ Es gab auch niemand anderen. Sie hatte keine lebenden Verwandten mehr und war deshalb gezwungen, vom Schreiben zu leben, was sie allerdings gern tat. Cooper war ein Freund ihrer Familie gewesen, und Ellie fragte sich manchmal, ob er einst ihrer Mutter den Hof gemacht hatte. Zunächst hatte er ihr Arbeit gegeben, weil er Mitleid mit ihr gehabt hatte. Doch dann hatte er angefangen, auf ihre zuverlässigen und fristgerecht verfügbaren Texte zu vertrauen. Manchmal behandelte er sie trotzdem noch wie seine jüngere Schwester, aber das geschah nicht mehr so oft wie früher.

„Es würde anonym erscheinen müssen“, sagte Cooper, nachdem er einen langen Augenblick nachgedacht hatte.

„E. Skye ist schon ein Pseudonym, und abgesehen davon glaubt jeder, es sei ein Männername. Halten Sie etwa größere Vorsicht für angebracht?“

„Die Männer, die diese Etablissements führen, sind unangenehme Zeitgenossen. Es ist sicherlich besser, wenn sie den Urheber eines solchen Artikels nicht so leicht identifizieren können. Die Wahrheit hinter einem Pseudonym kann man aufdecken. Es ist besser, überhaupt keinen Namen anzugeben. Wenn Sie den Artikel schreiben – und ich hoffe immer noch, dass Sie es nicht tun –, wird ganz einfach ‚ein Herr‘ als sein Verfasser genannt werden. Ich muss noch einmal wiederholen, dass ich starke Einwände gegen …“

„Zur Kenntnis genommen“, sagte Ellie.

„Aber natürlich werden Sie meinem Rat nicht folgen. Warum sollten Sie diesmal anders handeln als sonst?“ Er seufzte. „Wann wollen Sie sich dort einschleichen?“

„Oh, erst später heute Abend. Ich bezweifle, dass ein solches Etablissement vor Einbruch der Dunkelheit überhaupt geöffnet hat.“

Cooper klopfte mit der Spitze seines Füllfederhalters auf den Schreibtisch. „Zuerst berichten Sie über die Monster im Fluss, und nun wollen Sie die Wollust der städtischen Elite enthüllen. Von Hirngespinsten gehen Sie direkt zu Skandalen über, Ellie.“

„Wenn es Ihnen nicht gefällt, dann lassen Sie mich doch Kriegsberichterstatterin werden.“ Sie machte einen ironischen Knicks und spazierte aus dem Büro, während vor ihrem inneren Auge bereits Bilder von Schnurrbärten und Hosen tanzten.