Conquerors Worte
Pimm ging in den Hyde Park an Freddys bevorzugte Picknickorte, doch weder von seiner Frau noch von Ellie war eine Spur zu sehen. Er überlegte, ob er sich Sorgen machen sollte, sah dazu allerdings keinen Anlass. Oswald interessierte sich für ihn, das stimmte, trotzdem gab es keinen Grund, weshalb sich dieses Interesse auf Freddy oder Ellie erstrecken sollte. Nicht, solange Oswald und seine Leute nicht wussten, dass Pimms Assistent Jenkins und Ellie ein und dieselbe Person waren.
Die beiden waren wahrscheinlich bloß einkaufen oder dergleichen. Das allein war allerdings Grund genug zur Sorge. Es quälte ihn, sich Ellie in Freddys Fängen vorzustellen. Pimms alter Freund hatte schon immer eine Schwäche für Schabernack gehabt, die so groß war wie der Dom von St. Paul’s. Bei dem Gedanken, wie Ellie reagieren würde, wenn Freddy sich als Kupplerin versuchte oder vielleicht sogar einige ihrer schlauen Zweideutigkeiten von sich gab, schauderte es Pimm. Freddys Humor hatte sich durch seine Verwandlung in eine Frau kaum verändert, er hatte lediglich eine verständliche bittere Note angenommen.
Eine Weile stand Pimm unschlüssig unter einem Baum herum und dachte an den Flachmann in seiner Jackentasche, den er gerade erst aufgefüllt hatte. Die Versuchung, sich unter einen Baum zu setzen und den Nachmittag mit Trinken zu verbringen, war groß. Doch er hatte das Gefühl, dass er etwas Sinnvolleres tun sollte, falls es das überhaupt gab. Values rätselhafte Äußerungen und Ellies Andeutungen, dass Oswald mit dem alten Verbrecher unter einer Decke steckte, wiesen auf eine größere Gefahr oder Verschwörung hin. Er wollte mit Ellie sprechen und herausfinden, was sie wusste, und, vielleicht noch besser, was sie vermutete.
Er konnte heimgehen und darauf warten, dass sie wiederkamen. Jedoch kannte er sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er bald völlig betrunken sein würde, wenn er jetzt freien Zugriff auf seine persönliche Bar erhielt. Er war besorgt und verunsichert, und gegen diese Gemütszustände half die Flasche, allerdings nur vorübergehend. Er meinte zwar, als Belohnung für seine jüngst geleistete Arbeit etwas Vergessen verdient zu haben, immerhin hatte er einen Mörder aufgehalten und dafür gesorgt, dass einer der größten Verbrecher Londons in Todesangst floh. Trotzdem gab es noch zu viele Rätsel, die er vorher lösen musste.
Er spazierte um den Baum herum und betrachtete das Gras, die Bäume, die Blumen und die Baustelle in der Ferne. In Wirklichkeit war sein Blick jedoch nach innen gerichtet. Oswald, nun gut. Was wusste er über den Mann? Er war vor einigen Jahren bekannt geworden, unmittelbar nachdem man Prinz Albert wegen seines Ehebruchs eingesperrt hatte. Er hatte eine Fabrik eröffnet, die alchemistische Lampen für den heimischen Markt und für den Export herstellte, und Hunderte gelernte und ungelernte Arbeiter angestellt. Seinen Adelstitel hatte er sich im Wesentlichen mit dieser Neuerung verdient, falls Pimm sich recht erinnerte, und danach war er ein enger Vertrauter der Königin geworden. Allerdings war ihm nicht völlig klar, wie der Mann das im Einzelnen bewerkstelligt hatte. Pimm war seiner Monarchin zweimal begegnet, beide Male in Gesellschaft seines angesehenen älteren Bruders. Doch selbst wenn er aus dieser formellen Bekanntschaft eine persönliche Beziehung hätte entwickeln wollen, hätte er nicht gewusst, wie er das angehen sollte.
Oswald hatte die in Ungnade gefallene Königliche Alchemistische Gesellschaft wieder aufleben lassen. Jahrzehnte zuvor hatte sie sich aufgelöst, nachdem endgültig klar geworden war, dass es ihr nicht gelingen würde, unedle Metalle in Gold zu verwandeln oder das Wasser des Lebens abzufüllen. Er gab Geld für wohltätige Zwecke aus. Er ließ städtische Gewächshäuser errichten, damit Obst und Gemüse auch im Winter angebaut werden konnten. Er hatte ein fliehendes Kinn.
Das war eigentlich alles, was Pimm über den Mann wusste. Wenn Oswald wirklich mit Value zu tun hatte und wenn Sir Bertram der mächtige Mann war, den Value fürchtete, dann sollte Pimm mehr über seinen Gegner erfahren. Es war an der Zeit, seinem Freund, dem Professor, einen Besuch abzustatten.
Er winkte eine Droschke herbei und gab sich mit einem zweirädrigen, offenen Modell zufrieden, obwohl er diese Art von Wagen nicht mochte. Darin kam er sich immer wie auf einem Präsentierteller vor. Er wies den Kutscher an, zum King’s College zu fahren. Es war erst vor wenigen Jahrzehnten gegründet worden war, um der Mittelschicht den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen und Nonkonformisten jeglicher Couleur eine Ausbildung zu bieten, die frei von religiösen Einflüssen war. Für Pimm, der das Magdalen College in Oxford besucht hatte, war das King’s ein Emporkömmling. Er betrachtete es mit reflexartiger Geringschätzung, obwohl er mit seinen Gründungszielen sympathisierte und einen Herrn sehr gern hatte, der dort in der Fakultät für angewandte Wissenschaften arbeitete und dessen Spezialgebiet die Alchemie war.
Die Droschke setzte ihn einen kurzen Fußweg von dem Gebäudetrakt entfernt ab, wo Professor Conqueror sein Büro hatte. Pimm spazierte über den Campus und staunte wieder einmal, wie jung die Studenten waren, die in Grüppchen an ihm vorbeiliefen und sich unterhielten. War er jemals so jung gewesen? Mit Sicherheit war er nie so eifrig gewesen und hatte seine Schulaufgaben niemals so ernst genommen. Allerdings hatte er auch sein Familienvermögen im Rücken gehabt. Er hatte es nicht nötig, die Dinge ernst zu nehmen.
Nachdem er die breiten Steinstufen erklommen und die muffigen Flure betreten hatte, ging er eine Treppe hoch und folgte einem schmalen Gang. Schließlich erreichte er ein Büro, das im hintersten Winkel verborgen lag. Die Tür stand offen. Den Raum dahinter zierten übervolle Bücherregale, eine große tote Topfpflanze und ein mächtiger Schreibtisch, der aussah, als ob er noch auf die Gründung Londiniums zurückging und seither jeden Tag gründlich genutzt worden war.
Pimm klopfte an den Türrahmen. Professor Conqueror – was musste man ihn als Junge gehänselt haben, mit einem solchen Namen! – hob einen seiner wurstigen Finger und hielt den Blick auf die Seiten eines gewaltigen Buches gerichtet, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. „Nur einen Augenblick noch, ich bin gerade einem fadenscheinigen Argument auf der Spur … aha!“ Er schlug das Buch zu und sah Pimm triumphierend an. „Die Begründung ist unzureichend, nicht wahr? Er hat so viele Postulate aufeinandergesetzt, dass ich eine Weile gebraucht habe, um sie voneinander abzugrenzen, doch das ganze große Gedankengebäude beruht auf einer unbewiesenen und unhaltbaren Prämisse. Soll ich ihm etwa glauben, nur weil er behauptet …“
Professor Conqueror blinzelte. Er war ein großer, rothaariger Bär von einem Mann und sah aus wie ein Wikinger, der Albtraum der alten Engländer. Sein Bart wucherte wild. „Pimm! Falls Sie hier sind, um noch mehr von meinem guten Brandy zu bekommen, verschwenden Sie leider Ihre Zeit. Mysteriöserweise hat er sich in Luft aufgelöst.“
„Ich bin wegen Ihres Verstandes hier, nicht wegen Ihrer Bar“, sagte Pimm, hob einen Bücherstapel von einem Stuhl und legte ihn beiseite, ehe er sich auf dessen Platz niederließ.
„Oho. Wieder ein mysteriöser Tatort, der nach Chemikalien riecht? Haben Sie eine Flasche voll merkwürdiger Rückstände mitgebracht, die Sie von den Handflächen einer Leiche gekratzt haben? Ich freue mich immer sehr auf Ihre kleinen Rätsel.“
„Tatsächlich benötige ich Informationen über jemanden, den Sie wahrscheinlich als einen Ihrer Kollegen bezeichnen würden. Bertram Oswald.“
Conqueror lehnte sich in seinem Stuhl zurück, so gut er konnte, obwohl er dafür kaum Platz hatte. „Oswald, hm? Was ihn betrifft, bin ich nicht gerade ein Experte, obwohl ich ihm natürlich schon begegnet bin. Außerdem bin ich selbstverständlich Mitglied seiner Alchemistischen Gesellschaft. Möchten Sie denn etwas Bestimmtes wissen?“
„Ich weiß nicht, was ich wissen will“, meinte Pimm ehrlicherweise. „Warum erzählen Sie mir nicht einfach das, was Sie am interessantesten finden?“
„Mmm.“ Conqueror kraulte sich den Bart. „Sie verwirren mich, Pimm. Oswald kommt mir kaum wie jemand aus Ihren Kreisen vor. Er ist weder ein Verbrecher noch ein Kriminologe, und ganz gewiss kein Gourmet oder Bonvivant.“
„Brauchen Sie wirklich eine Begründung für mein Interesse?“, fragte Pimm. „Wenn Sie möchten, kann ich mir wohl etwas Überzeugendes einfallen lassen.“
„Oh nein, machen Sie sich nicht die Mühe, für mich nach Ausflüchten zu suchen. Sie wissen, dass ich es ohnehin am liebsten habe, wenn die Dinge rein theoretisch bleiben. Nun gut. Dann zu Oswald. Als Erstes sollten Sie wissen, dass er der brillanteste wissenschaftliche Geist in ganz England ist.“ Conqueror begann, sich mit seiner eigenen Tabakmischung die Pfeife zu stopfen. Sie stank nach ranziger Kamelhaut, wie Pimm aus bitterer Erfahrung wusste. Bedächtig meinte der Professor: „Nun, vielleicht ist er nicht der größte Geist von allen, die im Augenblick in der Wissenschaft arbeiten. Es gibt da einen jungen Mathematiker, der vor sieben oder acht Jahren eine Abhandlung über das binomiale Theorem veröffentlicht hat, die absolut verblüffend ist und auch in Europa Aufsehen erregt hat. Ich habe gehört, dass er nun an einem Buch über die Dynamik der Asteroiden arbeitet, das ich mit Spannung erwarte. Er ist jemand, den man im Auge behalten sollte, falls er seinem früheren Werk gerecht wird. Bei diesen jungen …“
Pimm war Conquerors eher umständliche Art, Vorlesungen zu halten, gewöhnt. Sanft brachte ihn wieder auf das Ursprungsthema zurück: „Sie sprachen über Oswald?“
„Oh, ja. Oswald wird von vielen als der größte Geist betrachtet, der seit Newton unserer Nation zur Ehre gereicht. Abgesehen davon ist recht wenig über ihn oder seine Familie bekannt. Er kommt aus wohlhabenden Verhältnissen, nehme ich an, oder besitzt zumindest genügend Geld, um jahrelang seine eigenen Studien und Experimente zu finanzieren. Sein frühestes Interesse galt der Biologie, und er hat einige Zeit im Ausland verbracht, in den Urwäldern von Afrika und Südamerika, wo er verschiedene Tierarten sammelte. Anscheinend hat er damals etwas Bahnbrechendes über Frösche oder Eidechsen herausgefunden, wenn ich mich auch nicht an die Einzelheiten erinnern kann, das ist nicht mein Gebiet. Wenn er nicht gerade auf Reisen war, pflegte er auf irgendeinem großen Gut im Norden zu leben, wo er Gewächshäuser voller exotischer Pflanzen und ein Vielzahl von Laboratorien und Werkstätten hatte. Eines Tages begann er, sich für Alchemie zu interessieren, und dort zeigte sich sein wahres Genie. Er studierte das Verhalten von Gasen, Flüssigkeiten und Plasma und versuchte herauszufinden, wie man sie am besten kombiniert. So hat er sein Vermögen gemacht, oder zumindest sein jetziges Vermögen. Hin und wieder verließ er das Gebiet der reinen Forschung und stellte etwas her, das der praktischen Anwendung diente. Alchemistische Lampen, verbesserte Batterien, innovative magnetische Geräte, solche Dinge. Natürlich hat er auch die neuen Sicherheitsmauern und die Kuppel entworfen, die vor einigen Jahren erbaut wurden, um die Ruinen von Whitechapel abzuschotten. Er hat dem Staat unzählige Dienste erwiesen, obwohl ich vermute, dass dies eher beiläufig geschehen ist. Er beschäftigt sich mit dem, was ihn gerade interessiert, und gelegentlich stimmen seine Interessen mit den Bedürfnissen der Menschheit überein. Vor einigen Jahren hat er sogar Medizin studiert, weil er sich für die Leiden des menschlichen Körpers, für ansteckende Krankheiten und Ähnliches interessierte. So hat er auch die Königin kennen gelernt, wissen Sie.“
Pimm zog eine Augenbraue hoch. „Nein, davon habe ich noch nichts gehört.“
„Er entwickelte gemeinsam mit Pasteur die Keimtheorie“, sagte Conqueror. „Tatsächlich spielte Oswald eine führende Rolle bei der Rettung von Prinz Albert. Den Ausschlag gaben natürlich Pasteurs Neuerungen. Man kann über Oswald sagen, was man will, jedenfalls versucht er nicht, die Lorbeeren anderer Leute einzuheimsen. Doch soviel ich weiß, war die Königin ihm für seine Unterstützung dankbar, und von da an erblühte ihre, ähm, Freundschaft.“
„Als dann Prinz Alberts Untreue ans Licht kam, weil Morbus Konstantin ihn in eine Frau verwandelt hatte, wurde die Beziehung zwischen Oswald und der Königin noch inniger. Das besagen zumindest die Gerüchte“, ergänzte Pimm.
Conqueror zuckte die Schultern und blies Rauch aus seiner übelriechenden Pfeife. „Der Hof ist mir nicht allzu vertraut, doch ja, ich habe dieselben Gerüchte gehört. Oswald interessiert sich allem Anschein nach inzwischen weniger für die Wissenschaft als für die Gesellschaft, und da kann es nicht schaden, das Vertrauen der Königin zu genießen.“
„Was meinen Sie mit ‚Gesellschaft‘? Sie meinen doch nicht etwa Galas und dergleichen? Bälle? Wohltätigkeitsveranstaltungen?“ Pimm verabscheute all diese Veranstaltungen, es sei denn, er fand dort eine gut ausgestattete Bar.
„Nein, nein. Ich meine, er will die Gesellschaft verbessern. Wie viele Philosophen haben im Lauf der Jahrhunderte den menschlichen Hang zum Bösen, zur Faulheit, zum Egoismus und zur Grausamkeit beklagt? Wie viele Männer haben von einer besseren Welt geträumt? Von Gesellschaften, die nach gesünderen Prinzipien funktionieren als ‚Nimm, was du kriegen kannst, und denk nicht an die Folgen‘?“
„Mindestens acht oder zehn, würde ich sagen“, meinte Pimm. „Vielleicht sogar ein Dutzend.“
„Ha“, sagte Conqueror. „Der Unterschied zwischen den meisten Philosophen und Sir Bertram besteht darin, dass er ein Mann der Tat ist. Wenn er ein Problem erkennt, ist er besessen davon, es zu lösen. Diese Stimme im Hinterkopf, die wir fast alle haben, die uns sagt, ‚Das ist unmöglich‘, oder ‚Das ist mehr, als ein einzelner Mensch schaffen kann‘, oder ‚Das geht mich doch nichts an‘ – die hört Oswald nicht. Er handelt einfach.“
„Mmm“, machte Pimm. „Da fragt man sich doch, was die Stimmen in seinem Kopf stattdessen sagen. Er hat der Königin also Reformen vorgeschlagen?“
„In der Tat. Für manche davon ist sie offen, habe ich gehört.“
„Natürlich ist sie das“, sagte Pimm. „Sie unterstützt gern gute Ideen. Schon seit Jahrzehnten gibt sie Macht an ihre Minister ab. Das ist wirklich eine ihrer besten Eigenschaften.“
„Dennoch ist es für Oswald ein gewisses Problem. Wenn er stattdessen das Vertrauen einer absoluten Herrscherin hätte, könnte er wesentlich mehr Ideen umsetzen. Ich habe einige seiner Wohltätigkeitsveranstaltungen und Vorlesungen besucht, meist nur um des Buffets willen. Einige seiner Gedanken sind recht radikal.“
„Zum Beispiel?“
„Er will alle Verbrecher sterilisieren lassen.“
„Oh. Das ist alles?“
„Er ist der Meinung, dass kriminelles Verhalten erblich ist, ganz wie die Haar- oder Augenfarbe. Wenn ein Verbrecher sich nicht vermehren kann, kann er diese Eigenschaften auch nicht weitergeben.“ Conqueror blies einige unförmige Rauchringe in die Luft. „Das Problem ist natürlich: Selbst wenn man Oswalds Prämisse anerkennt, haben die Verbrecher, die er sterilisieren lassen will, oft schon längst Nachkommen gezeugt, wenn sie gefasst werden, manchmal sogar recht viele. Deshalb will Oswald sie fassen, bevor ihre kriminellen Neigungen zutage treten.“
„Das erscheint mir etwas schwierig“, meinte Pimm, „da ein Verbrecher per Definition jemand ist, der ein Verbrechen begeht. Einen Verbrecher zu fangen, bevor er ein Verbrechen begeht, wäre dasselbe, wie einen Vogel zu fangen, bevor er geschlüpft ist. Es geht nicht. Es ist noch kein Vogel.“
„Aber wenn Sie schon wüssten, dass er ein ganz schrecklicher Vogel werden wird, wenn er noch im Ei ist, könnten Sie trotzdem das Ei zerstören“, sagte Conqueror. „Nicht dass Oswald vorschlägt, diesen jungen Verbrechern derart früh zu Leibe zu rücken. Er war Mitglied der Phrenologischen Gesellschaft.“
„Phrenologie? War das nicht diese Methode, nach der man sich Ausbuchtungen am Kopf einer Person ansehen muss, um ihren Charakter zu erkennen? Ist das nicht schon seit zwanzig Jahren aus der Mode?“
„Oswald ist in gewisser Weise noch immer ein Verfechter dieser Theorie“, sagte Conqueror. „Obwohl er nun glaubt, dass man Schwankungen im Magnetfeld einer Person beobachten kann. Dabei muss man natürlich ein Gerät verwenden, das er selbst erfunden hat. So lässt sich erkennen, ob die Person, sagen wir, musikalische Begabung besitzt oder ein angeborenes Verständnis räumlicher Verhältnisse oder tief verborgene mörderische Impulse. Man untersucht die Kinder, und wenn sie unwillkommene Eigenschaften aufweisen …“
Pimm war entsetzt. „Was dann? Man macht aus ihnen Eunuchen?“
Conqueror schüttelte den Kopf. „Nein, soviel ich weiß, hat er eine chemische Methode, um die Fortpflanzung zu verhindern.“
„Eine Chemikalie, die er zweifellos selbst kreiert hat“, sagte Pimm.
Conqueror nickte. „Das mag sein, aber wer sonst würde so etwas erfinden? Es herrscht nicht gerade starke Nachfrage nach geheimen Mitteln, um Kinder zu sterilisieren. Oswald glaubt, dass man mit einem strengen Kontroll- und Sterilisierungsprogramm kriminelle Neigungen innerhalb weniger Generationen ausrotten könnte.“
Pimm, den die Ausrottung von Verbrechern ähnlich traurig gestimmt hätte wie einen Schmetterlingsforscher die Ausrottung der Schmetterlinge, runzelte die Stirn. „Aber was meint er überhaupt mit ‚kriminellen Neigungen‘? Unter widrigen Umständen sind alle Menschen zu kriminellen Handlungen fähig. Denken Sie an den sprichwörtlichen Mann, der ein Brot stiehlt, nur um seine hungernde Familie zu retten.“
„Ich sagte nicht, dass ich seiner Meinung wäre“, sagte Conqueror. „Nur, dass Oswald diese Meinung vertritt. Offen gestanden finde ich sie abscheulich. Was, wenn seine verfluchte Maschine falsch liegt, selbst wenn es nur ein einziges Mal geschieht? Keine Maschine ist vollkommen. Hinzu kommt, dass er seine Definition von ‚Verbrechern‘ möglicherweise bald auf all jene ausdehnen würde, die ihm persönlich missfallen. Auf Leute, die er wohl als ‚Abweichler‘ bezeichnen würde. Auf ‚Abweichler‘ jeglicher Couleur, politisch, persönlich oder anderweitig.“
Pimm nickte. Conqueror war ein sogenannter „überzeugter Junggeselle“, und obwohl Pimm prinzipiell nicht über dessen persönliche Neigungen oder den Grund für seine Ehelosigkeit spekulierte, hatte er sich doch gelegentlich seine Gedanken gemacht. „Sehr besorgniserregend.“
„In der Tat. Aber Oswalds Ideen haben sich bislang kaum durchsetzen können. Zum Glück haben zu viele verschiedene Gruppen Einwände dagegen, und die Minister betrachten ihn und seine wilden Pläne mit großer Skepsis. Sie wünschen sich, die Königin würde weniger Zeit mit ihm verbringen. Oswald ist viel zu stark bestrebt, den Status quo zu ändern. Aber glücklicherweise ist er auch sehr sprunghaft. Er hat seine magnetischen Persönlichkeitsurteile tatsächlich schon wieder aufgegeben. Immer wieder folgt er einer neuen Leidenschaft und lässt halbfertige Projekte liegen, wenn sie ihn nicht mehr unterhalten.“
„Hmm. Haben Sie eine Vorstellung von seinen aktuellen Interessen?“
„Ich habe gehört, dass er in letzter Zeit die Astronomen plagt“, sagte Conqueror. „Es scheint, er hat seine Aufmerksamkeit den Sternen zugewandt.“
„Wenigstens kann er dort oben nicht viel Schaden anrichten“, sagte Pimm.
Conqueror ließ ein Husten hören. „Sie haben also noch nicht die Gerüchte über die ‚Aurora Britannica‘ gehört?“
„Wie, die Lichter am Himmel? Um ehrlich zu sein, ich habe sie kaum gesehen.“
„Stimmt. Sie verbringen zu viele Abende in gut beleuchteten Räumen oder auf den hellen Straßen der Londoner Innenstadt. Auf dem Land, wo der Himmel nicht vom Licht der tausend Straßenlaternen erhellt wird, ist die Aurora wesentlich auffälliger.“
„Es ist doch nur das Nordlicht.“ Pimm runzelte die Stirn. „Ich meine, man kann es hin und wieder auch in Schottland sehen, nicht wahr? Es ist in der letzten Zeit nur etwas häufiger aufgetreten.“
„Ich habe noch nie davon gehört, dass man das Nordlicht so weit im Süden sehen konnte“, sagte Conqueror. „Jede Nacht, volle zwei Monate lang? Das ist einmalig. Wer das Nordlicht gesehen hat, meint ebenfalls, dass dieses Licht hier anders aussieht. Es hat andere Farben, andere Muster. Die Intensität des Lichts ist eine andere.“
„Was genau hat Oswald damit zu tun?“
Conqueror sah zur Tür, als sei ihm gerade erst aufgefallen, dass sie noch immer offen stand. Pimm erhob sich, schaute hinaus auf den leeren Flur und kehrte wieder zurück. „Wir sind unter uns“, sagte er und zog hinter sich die Tür zu.
Der alte Professor lächelte gezwungen. „Es ist albern von mir, aber Oswald hat dem College damals sehr viel Geld gespendet, vor allem der Alchemistischen Fakultät. Als ich hier anfing, hieß sie noch chemische Fakultät, weil man das Bild von mittelalterlichen Männern in Sternenmänteln, die in Bechern Löwenblut köcheln, hinter sich lassen wollte. Sie wissen schon. Doch Oswald bestand darauf, dass der alte Name besser sei.
Verzeihung, ich bin schon wieder abgeschweift. Ach ja, genau. Mir scheint, ich sollte nicht schlecht von jemandem sprechen, der so großzügig die Institution unterstützt, bei der ich angestellt bin.“
„Heißt das, Sie werden es mir nicht erzählen?“
„Natürlich erzähle ich es Ihnen! Ich wollte nur sichergehen, dass mich niemand hören kann und dass Sie es für sich behalten.“ Er beugte sich über den Schreibtisch. „Oswald ist auf vielen Gebieten ein Experte, aber der Magnetismus ist seine langjährige Passion. Es gibt viele Theorien über den Ursprung des Nordlichts, und manche vertreten die Hypothese, dass es etwas mit Schwankungen im Magnetfeld der Erde zu tun hat. Ich habe gehört, wie einige Gelehrte von anderen Fakultäten scheinbar scherzhaft überlegten, ob Oswald vielleicht ein weiteres großes Experiment angefangen hat. Ob er aus irgendeinem Grund versucht hat, das Magnetfeld der Erde zu beeinflussen, und dabei sozusagen den Himmel beschädigt hat.“
„Das Magnetfeld der Erde. Das ist von großer Bedeutung, nicht wahr? Braucht man es nicht für Kompassnadeln und dergleichen?“
„Niemand kann genau sagen, wie wichtig das Feld wirklich ist, Pimm.“ Conqueror fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Manche sind jedoch der Ansicht, es sei für die Erde eine Art Hülle oder Schild, der uns vor der höllischen Strahlung der Sonne schützt oder vor noch gefährlicherem Feuer aus dem Weltraum. Wenn das Magnetfeld versagt … Die Dinosaurier waren einmal die herrschende Spezies auf diesem Planeten. Jetzt nicht mehr. Wir selbst könnten ebenso ausgerottet werden.“
„Gewiss würde nicht einmal Oswald ein solches Risiko eingehen?“
„Wenn er wissen will, was dabei herauskommt?“, sagte Conqueror. „Ich traue es ihm zu.“
All das war faszinierend und nicht gerade beruhigend, doch es gab Pimm keinerlei Hinweis darauf, wie Oswald mit Value in Verbindung stehen könnte. „Interessiert er sich auch für, ähm, Automaten?“
„Oswald? Das kann man wohl sagen. Er hat einen kleinen Skandal ausgelöst, als er nach Ausbruch des Morbus Konstantin vorschlug, mechanische Frauen herzustellen, um die Bedürfnisse der Männer zu erfüllen. Schließlich könnten sie den lebenden Frauen dabei nicht mehr trauen.“ Conqueror schauderte. „Wenig später wurden die ersten mechanischen Freudenhäuser eröffnet. Jemand muss von seiner Idee gehört und erkannt haben, dass sich daraus Profit schlagen lässt.“
Aha! „Wer stellt denn die Automaten her?“, fragte Pimm. „Ich habe noch keinen gesehen, aber ich habe gehört, dass sie verblüffend lebensecht seien.“
Conqueror zog nachdenklich an seiner Pfeife. „Wissen Sie, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich vermute, es ist irgendein verrückter Bastler, der einen ganzen Keller voller Unaussprechlichkeiten hatte und die Gelegenheit beim Schopf packte, den Bordellbesitzern seine persönlichen Spielzeuge zu verkaufen. Aber da Sie es erwähnen, es gibt tatsächlich Dutzende von diesen Dingern, nicht wahr, was eher auf eine fabrikmäßige Herstellung hindeutet. Ich weiß es wirklich nicht. Sie glauben doch nicht, dass Oswald dahintersteckt, oder?“
Pimm zuckte die Achseln. „Ich bin bloß neugierig, das ist alles.“
„Er besitzt auf jeden Fall die technische Fachkenntnis“, sinnierte Conqueror.
„Wenn die Anregung dafür sogar von ihm kam … soweit Sie mir erzählt haben, neigt er dazu, sich gewinnbringende Lösungen für Probleme auszudenken, die er selbst definiert hat“, mutmaßte Pimm.
„Das Geld braucht er wohl kaum, aber es wäre ihm wohl zuzutrauen, so etwas zu erschaffen, weil er es unterhaltsam findet. Dennoch erscheint es mir etwas unfein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Königin damit einverstanden wäre.“
„Es wäre ein arger Skandal“, sagte Pimm. „Vor allem, wenn man bedenkt, was für Geschäftspartner er bräuchte, um mit einem solchen Unterfangen Erfolg zu haben.“
„Die Sorte Verbrecher, die man auch ohne magnetische Persönlichkeitskontrolle erkennt“, bemerkte Conqueror. „Gut, gut. Langsam begreife ich, weshalb Sie hier sind.“
„Wie meinen Sie das? Ich bin bloß gekommen, um einen alten Freund zu besuchen. Tatsächlich muss ich bald wieder gehen. Aber ehe ich aufbreche: Haben Sie schon einmal von einem Mann namens Adams gehört? Ein Wissenschaftler, der private Forschungen betreibt?“
„Nicht dass ich wüsste. Was ist sein Forschungsbereich?“
„Oh. Die menschliche Physiologie, im weitesten Sinne, aber insbesondere das Weiterbestehen der Persönlichkeit nach dem Tod, denke ich.“
„Spiritualismus“, meinte Conqueror abfällig. „Kann man wohl kaum eine Wissenschaft nennen. Das ist hauptsächlich Wunschdenken und Einbildung.“
„Ich bin überzeugt, dass Sie Recht haben“, erwiderte Pimm. Er wünschte seinem Freund einen guten Tag und machte sich gedankenverloren auf den Weg über den Campus. Oswald war demnach der Erfinder der mechanischen Konkubinen und hatte mit Value Geschäfte gemacht. Selbstverständlich würde der Mann nicht wollen, dass diese Verbindung an die Öffentlichkeit kam. Ein Skandal würde Oswald zwar sicher zuwider sein, doch so sehr, dass er Value in Todesangst versetzte? Irgendjemand reagierte da eindeutig zu heftig. Es sei denn, es gab noch eine weitere Beziehung zwischen dem Wissenschaftler und dem Verbrecherkönig. Ein Gedanke regte sich in seinem Hinterkopf. Es hatte etwas mit Morbus Konstantin zu tun.
Er blieb im Schatten eines blühenden Baumes stehen und starrte ins Leere. Oswald hatte die Keimtheorie studiert. Oswald hatte ein Faible für groß angelegte Gesellschaftsexperimente. Oswald hatte Prinz Albert das Leben gerettet, und später, nachdem Prinz Albert als Ehebrecher eingesperrt worden war, hatte er sich der Königin angenähert. Die Königin konnte ihm helfen, noch mehr seiner großen Gesellschaftsexperimente in die Tat umzusetzen. Es war zwar nicht bewiesen, doch einmal angenommen, Oswald hatte mechanische Automaten entwickelt, die eine direkte Antwort auf Morbus Konstantin darstellten. Die würden sich für ihn als recht profitabel erwiesen haben.
Aber ja, erst gestern hatte Pimm Ellie gegenüber geäußert, dass jemand die Krankheit bewusst geschaffen haben könnte, um sie als Werkzeug für eine Revolution oder irgendeine gesellschaftliche Umwälzung einzusetzen. Später hatte er die Idee zwar wieder verworfen und als Ausdruck seiner Neigung gesehen, für jedes Unglück auf der Welt einen Schuldigen zu suchen. Aber wenn es ein Verbrechen gab, musste es logischerweise auch einen Verbrecher geben. Naturkatastrophen und Seuchen waren keine Verbrechen, doch was, wenn Morbus Konstantin nichts Natürliches war? Was, wenn dies das Geheimnis war, das Value kannte? Die Entdeckung, dass Oswald mit den Bordellen zu tun hatte, führte schließlich unweigerlich zu Value. Diese Verbindung konnte die wirkliche Gefahr für Sir Bertram darstellen, weitaus gefährlicher als jeder Skandal über eine Verstrickung mit mechanischen Frauen. Doch warum sollte Value etwas über eine von Menschen geschaffene Seuche wissen? Oswald hätte einem solchen Mann so etwas gewiss niemals anvertraut.
„Value“, sagte Pimm und schloss die Augen. Was war ein anderes Wort für ‚value‘?
Worth.
Pimm eilte auf die nächste Straße zu. Er brauchte Antworten. Doch zuallererst brauchte er eine Droschke. Davor konnte ein Drink nicht schaden. Er tätschelte den Flachmann in seiner Tasche und gab sich selbst das Versprechen, nur einen Schluck zu nehmen, vielleicht auch zwei. Nüchternheit war schön und gut, doch irgendwann brachte sie einen nicht mehr weiter.