Liebesakte
Er nannte sich Adam, und alles, was er wollte, war Liebe.
Der Mann, der nicht ganz Mann war, ging durch sein Laboratorium. Dabei zog er unbeholfen das Bein nach, das seit seinem Unfall in der Arktis vor vielen Jahren steif war. Sein Arbeitsraum im Keller war niedrig, beengt und vollgestopft mit Regalen, Tischen und den unzähligen Werkzeugen seiner unzähligen Tätigkeiten. Die unschöne Umgebung verstärkte nur die strahlende Schönheit der Frau, die auf seinem Untersuchungstisch lag. Ihr Haar hatte die Farbe von Rabenfedern, ihre Haut war blass wie schneebedeckte Alpengipfel, und ihr Fleisch noch immer kalt von den Eisstücken, in denen sie bei ihrer Ankunft eingepackt gewesen war. Ihre Kehle war unverletzt, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich erstickt oder möglicherweise an Gift gestorben war. Egal. Das chemische Präparat, das er verwendet hatte, um ihr Blut zu ersetzen, hatte alle Giftstoffe oder Krankheiten, an denen sie zu Lebzeiten gelitten hatte, fortgespült.
Adam befestigte die handgesponnenen Drähte an ihrer Stirn und steckte eine Metallsonde in einen winzigen, unblutigen Einschnitt über ihrem Herzen. Die Drähte liefen zu einem hohen Holzregal zurück, auf dem reihenweise tönerne Gefäße standen. Darin blubberten ätzende Chemikalien, die im Zusammenspiel das moderne Wunderwerk der gefangenen Elektrizität produzierten. Andere, die versucht hatten, eine ähnliche Richtung wissenschaftlicher Forschung einzuschlagen, waren gezwungen gewesen, auf Blitzschläge oder Wasserbecken voll Zitteraale und anderer elektrischer Fische zu vertrauen, um die nötige Energie zu erhalten. Aber die Naturwissenschaft – diese kalte Jungfrau, diese hochmütige Herrin, diese fruchtbare Mutter – war seit jenen dunklen Tagen vorangeschritten. Adam hatte diese Batterien perfektioniert. Sie speicherten Elektrizität in größerer Menge und gaben sie in kontrollierterer Spannung ab als andere, allgemein erhältliche Entwürfe. Er hätte mühelos reich werden können, wenn er die Innovation verkauft hätte, denn die öffentliche Begeisterung für Elektrizität fand noch immer kein Ende. Doch seine Forschungen wurden von seinem Gönner ausreichend finanziert, und über diese Bedürfnisse hinaus interessierte ihn Geld nicht. Wahrheit hingegen schon. Leben. Liebe.
Nachdem er noch einmal die dicken Lederriemen überprüft hatte, die die schlanke Frau auf dem Operationstisch hielten, hinkte er zu einem schartigen Holzhebel an der Wand hinüber, wo ein Dutzend Drähte aufeinandertrafen. Er legte den Hebel um, und der Raum war erfüllt von einem Brummen, das nach Zitronen schmeckte, und einem Duft, der wie Glockenläuten klang. Seit seinem Unfall und seinem Beinahe-Tod in der Arktis vor fünfundsechzig Jahren hatte sich etwas in ihm verändert, und Adams Sinne waren nicht mehr wie die anderer Menschen. Klang wurde zu Geschmack und Duft zu Klang, das Ergebnis seltsamer Querverbindungen tief in seiner Gehirnstruktur. Vielleicht zeigten diese Veränderungen eine Beschädigung an, doch er hatte seitdem eine normale menschliche Zeitspanne durchlebt, ohne eine weitere Verschlechterung zu erleiden. Alles in allem hielt er seine neu strukturierte Wahrnehmung für einen Segen. Ihm tat die Masse der Menschen leid, die mit ihren isolierten, abgeschnittenen Sinnen nur die Reflektionen des Lichts sahen und nur die Vibrationen der Luft hörten. Ihre Erfahrung der Welt musste einer einzelnen einsamen Flöte gleichen, während die Welt für Adam eine Symphonie war.
Die Frau auf dem Tisch bewegte sich, ihre Glieder zuckten, ihr Rücken bog sich, so gut er es gegen die Riemen vermochte. Doch diese Bewegung allein bedeutete nichts. Strom, der durch einen toten Frosch lief, brachte das Tier zum Zucken, die Muskeln würden sich anspannen und zusammenziehen. Solche Bewegungen hatten nichts mit Leben zu tun, nicht mehr als ein toter Zweig, der sich im Wind bewegte.
Nach einer angemessenen Pause, in der Adam die Sekunden in seinem metronomisch genauen Geist abgezählt hatte, schaltete er den Strom aus. Die Frau erschlaffte auf dem Tisch. Adam entfernte vorsichtig die Drähte von ihrem Körper, legte sein Ohr zwischen ihre Brüste auf ihren Oberkörper und lauschte.
Ihr Herz schlug wieder, das Geräusch schmeckte wie salziges Meerwasser. Das bedeutete wenigstens, dass er nicht komplett gescheitert war. Ungefähr die Hälfte seiner Experimente kam nicht einmal so weit, weil die Körper seiner Versuchspersonen zu starke unauffällige innere Schäden davongetragen hatten, als dass sie hätten wiederbelebt werden können. Sie blieben einfach tot auf dem Tisch liegen, um später als Futter für die anderen Misserfolge zerhackt zu werden. Zumindest für die, die er behielt.
Er beugte sich vor und sah in das Gesicht der Frau, so friedlich und ruhig. „Erhebe dich“, flüsterte er, ein Ritual ohne wissenschaftliche Rechtfertigung, das er sich dennoch erlaubte.
Die Frau öffnete die Augen. Ihre Pupillen waren riesengroß, schwarze Abgründe, die Iris nur ein dünner farbiger Streifen. Aber das bedeutete nicht zwingend, dass sie …
„Unggaahhh!“, sagte sie, und obwohl ihre Stimme eine individuelle Tonlage und Klangfarbe hatte, war die Art des Stöhnens vertraut. Sie schmeckte nach Asche und Galle in seinem Mund. Das Stöhnen war ein Laut des Hungers und der verzweifelten, sinnlosen Gier. Sie zuckte mit dem Kopf zu ihm herum und schnappte so fest zu, dass einer ihrer eigenen Schneidezähne abbrach. Doch Adam war noch immer viel schneller als normale Menschen, und ihr Biss verfehlte das Fleisch seiner Wange. Sie warf ihren Kopf hin und her und zerrte an den Riemen. Die Fesseln knarzten, doch sie hielten. Die Frau war jetzt wesentlich stärker als vor ihrem Tod und ihrer Wiedererweckung. Sie konnte nun das volle Potential ihrer Muskeln nutzen, ohne von Schmerzen, Zerrungen oder Wundheit geplagt zu werden. Doch sie war nicht Adams erstes Versuchsobjekt, noch nicht einmal sein zwanzigstes, und die Riemen waren stark genug und hielten.
Ein weiterer Fehlschlag. Bis jetzt waren sie alle Fehlschläge gewesen, doch die Liebe zog ihre Kraft aus dem Kampf, oder etwa nicht? Eine Liebe, die leichtfiel, konnte man auch leicht wieder verlieren. Adam notierte die Ergebnisse des Experiments in seinem Tagebuch und nutzte dabei eine Geheimschrift, die er selbst erfunden hatte. Dann überlegte er. Sie war reizend, und es wäre großartig gewesen, sie für seine Ehrengarde zu behalten. Seine Forschung ging ständig weiter, und wenn er sie behielte, würde er ihr vielleicht eines Tages eine wahre Auferstehung geben können. Aber nein. Sie war zu reizend, und es war schon eine Weile her, dass Adam seinem Gönner eine arbeitsfähige Frau geschickt hatte. Dessen Kollegen würden aufhören, ihm weiterhin diese armen toten Mädchen zu bringen, wenn er ihnen nicht hin und wieder etwas von dem Gewinn zurückzahlte.
Adam riss ein halbes Blatt Papier aus dem Tagebuch und kritzelte darauf eine Notiz in einem einfacheren Code, die jedem Leser außer dem beabsichtigten Empfänger wie eine bedeutungslose und langweilige persönliche Nachricht erschienen wäre. Er begab sich nach oben ins Erdgeschoss seines schmalen Hauses, das zwischen Lagerhäusern eingequetscht war. Es stand nicht weit von jenem Gebiet innerhalb der Mauern, das die meisten weitläufig umgingen. Die Mauern schlossen fast das gesamte ehemalige Whitechapel ein. Er legte seinen Kapuzenumhang um, setzte die einfache weiße Maske auf, die seine Züge verbarg, und stieß die Tür auf.
Draußen war es früher Abend in einer verwahrlosten Londoner Straße. Der Himmel wurde bereits von den seltsamen Lichtern erhellt, die die Zeitungen „Aurora Britannica“ nannten. Sie waren einen Monat zuvor erschienen, und einige schrieben sie dem neuen Liebhaber der Königin und seinen angeblichen Experimenten mit der Atmosphäre zu. Adam interessierten die Lichter oder ihre Ursache höchstens auf eine abstrakte Weise. Seine Belange waren weit bodenständiger.
Er rief: „Du da, Junge“, ohne jemand besonderen zu meinen, und ein Straßenjunge mit schmutzigem Gesicht kam aus dem Schatten hervor. „Sir?“, sagte er, ohne so nahe heranzukommen, dass Adam ihn hätte berühren können. Adam achtete darauf, seine Sonderlieferungen nur spät nachts und durch die Tunnel unter seinem Haus vorzunehmen, aber dennoch war er Gegenstand wilder Gerüchte. Die Leute vermuteten, dass er lebende Menschen aufschnitt, dass er in einem Experiment entsetzliche Narben davongetragen hätte (daher die Maske), dass er ein Hochadliger war, der an Morbus Konstantin litt (auch daher die Maske), und noch viel absurdere Einfälle. Doch trotz ihrer Befürchtungen hatten einige Straßenkinder, die in der Nähe hausten, gemerkt, dass man von ihm gelegentlich ein paar Münzen bekommen konnte. Normalerweise fand er immer eines, das tapfer genug war, sich ihm zu nähern.
„Kennst du den Süßigkeitenladen in der Hay Street?“
Der Junge nickte.
„Bring dem Ladenbesitzer diesen Brief.“ Er hielt dem Jungen das Blatt Papier hin, und dieser schnappte es sich und flitzte dann aus Adams Reichweite, so schnell er nur konnte. Dummer Junge. Adam hätte ihn mühelos fangen können, wenn er gewollt hätte. Bevor er sich das Bein verletzt hatte, war er schnell genug gewesen, Hirsche und Wildschweine einzufangen, ohne außer Atem zu geraten. Wenn die Situation es erforderte, konnte er den Schmerz alter Wunden ignorieren und diese Geschwindigkeit beinahe wieder erreichen.
Adam warf dem Jungen eine Münze hin. Für seine Verhältnisse war es ein Hungerlohn, doch den Jungen konnte es einen Tag lang zu einem kleinen König machen. Leider auch zu einem Ziel für jene, die lieber stahlen, als Botengänge zu erledigen. „Jetzt mach schnell.“
„Soll ich eine Antwort bringen?“ Dieser Junge war wagemutiger oder brauchte vielleicht dringender Geld als die meisten seiner Kameraden.
„Nein. Es wird keine Antwort kommen.“ Es war keine erforderlich. Die Vorgehensweise war inzwischen Routine. Der Mann im Süßwarenladen würde seinem Auftraggeber Bescheid geben, der wiederum spät nachts Männer schicken würde, um das neueste misslungene Experiment abzuholen. Adam hoffte, sie würden auch ein neues Versuchsobjekt vorbeibringen. In London fanden sich immer tote junge Frauen, vor allem in den Kneipen und Spielhöllen Southwarks, den engen kleinen Straßen Alsatias, in den von Lampen beleuchteten Gassen Limehouses, in den unzähligen Bordellen des East End. Zumindest in jenen Bereichen, die nicht zugemauert worden waren, um die Stadt vor den siedenden chemischen Reaktionen und immer brennenden Feuern im Innern zu retten.
Adam kehrte in seine Eingangshalle zurück und war bereits müde beim Gedanken an die Arbeit, die vor ihm lag. Er würde der Frau etwas Fleisch zu fressen geben. Menschenfleisch hatte er im Moment keines da. In Ermangelung übriggebliebener Leichen gab er den geistlosen Wiederbelebten Fleischabfälle, weil sie billig waren: Nieren, Lungen, Gehirne. Nachdem er sie gefüttert hatte, würde er sie mit Äther betäuben. Zum Glück atmeten die von ihrer Art noch, sodass Äther bei ihnen wirkte. Einem lebenden Menschen Essen zu geben und ihn dann in Narkose zu versetzen, war gefährlich, sozusagen eine Aufforderung zum Übergeben und zum anschließenden Ersticken. Aber die Toten vertrugen fast alles.
Wenn sie bewusstlos war, würde er ihr Haar abschneiden und es an die Perückenmacher geben. Seine Partner hatten so viele Möglichkeiten, sich zu bereichern. Dann würde er ihre Schädeldecke öffnen und die notwendigen Veränderungen in ihrem Gehirn vornehmen. Das Gerät, das er dort implantieren würde, machte sich die jüngsten Fortschritte in magnetischer Technologie zunutze und hatte eine höchst bemerkenswerte Wirkung auf das Verhalten. Das heißhungrige, unmenschlich starke Geschöpf, das er geschaffen hatte, würde fügsam und sanftmütig erwachen und in der Lage sein, einfachen Anweisungen zu folgen. Obwohl sie den Anschein gehorsamer Lebendigkeit erwecken würde, würde sie keinerlei Selbst besitzen. Sie würde unfähig sein, zu denken oder wahre Gefühle zu empfinden. Trotzdem dachte Adam nicht gern lange darüber nach, zu welchen Zwecken seine Partner sie gebrauchen würden. Vielleicht würden sie sie in einem der niedrigsten der nun illegalen Bordelle unterbringen und als lebendes Mädchen ausgeben, das angeblich stark unter Drogen gesetzt worden war. Er schauderte.
Adam zog den Vorhang vor seiner Tür beiseite und sah auf die leere Straße. Er grübelte über die Stadt da draußen nach, und seine Gedanken wanderten von der Liebe, die sein Leben beherrschte, zum Dreck der Menschheit. London, Opfer dreier Großbrände und unzähliger kleinerer, der ewige Phönix. Jedes Mal neu aufgebaut, selbst nach dem alchemistischen Brand von 1829. Teile dieses Feuers flackerten noch immer in grünlichen Flammen. Soweit man wusste, könnten sie für immer in dem Teil der Stadt brennen, der hinter Mauern verborgen lag. Die Menschen, die zu nah an dem abgeriegelten Gebiet schliefen, litten angeblich unter entsetzlichen Träumen und erfuhren manchmal wundersame Heilung. Adam schenkte solchen Anekdoten jedoch wenig Vertrauen.
Die Einwohner von London trotzten diesen immer wieder auftretenden Opferfeuern in ihrer Stadt. Sie atmeten weiter, paarten sich, spielten um Geld, schrieben, komponierten Musik, tranken Laudanum, rauchten Opium, erstachen sich gegenseitig, studierten die großen Dichter, bauten Häuser, tanzten auf Festen, belieferten ihn mit ihren schönen Toten und enttäuschten ihn ewig. Es gab Zeiten, in denen er die langen Jahre vermisste, die er in einer Art Winterschlaf in der Arktis verbracht hatte, grübelnd und in Erwartung des Todes, der niemals kam.
Die Stadt, sinnierte er, glich fast einer riesigen Versuchsanordnung mit Adam als Versuchsperson. Ihr Ziel war es, herauszufinden, wie lange es dauern würde, bis sein Verlangen nach Liebe sich zu etwas sehr viel Dunklerem wandelte.