Der Luna Club bricht mit seinen Traditionen

Steampunk_Element_Trenner.psd

Tut mir leid, Mylord.“ Ellie versuchte, ihre Stimme so barsch wie möglich klingen zu lassen. „Die Kerle haben mich entdeckt.“

Lord Pembroke nickte. „Nun ja, Spionage war noch nie Ihre Stärke, Jenkins. Natürlich bin ich enttäuscht, aber so etwas passiert nun einmal.“

„Moment“, sagte der zerlumpte Wächter, „Sie kennen diesen Mann?“

Lord Pembroke seufzte, wie nur ein gebeutelter Adliger seufzen kann, der gezwungen ist, sich mit dem niederen Volk zu befassen. „Natürlich kenne ich ihn. Zwar arbeite ich derzeit für Mr. Value, aber das bedeutet nicht, dass ich ihm traue, ebenso wenig, wie er mir traut. Jenkins sollte mir daher in unauffälligem Abstand folgen und mir zu Hilfe kommen, falls sich irgendetwas Unangenehmes ereignet.

„Was sollte der denn tun?“, sagte der Wächter. „Ich hab schon Zehnjährige gesehen, die kräftiger waren.“

„Jenkins ist ein Meister jener mysteriösen asiatischen Kampfkunst, die Gongfu genannt wird“, sagte Lord Pembroke mit todernster Miene. „Selbst unbewaffnet ist er tödlicher als die meisten Männer mit Schwert oder Pistole.“

„Ha“, sagte Crippen, „Das möcht’ ich sehen.“ Er nahm das Messer fort, das er gegen ihren Rücken gedrückt hatte. Ellie erlaubte sich, zum ersten Mal seit mehreren Minuten wieder richtig aufzuatmen, so tief, wie sie es mit Bandagen um die Brust eben konnte. „Wir werden Mr. Value sagen müssen, dass ein Komplize von Ihnen hier herumgeschlichen ist“, sagte Crippen.

„Ach, du meine Güte“, sagte Lord Pembroke, „Aber nein, dann könnte Mr. Value ja erfahren, dass ich ihm niederträchtigen Verrat zutraue! Wird unsere Beziehung sich jemals von einem solchen Schlag erholen?“ Er schnaubte. „Kommen Sie, Jenkins. Wir haben noch Arbeit vor uns. Die Nacht ist nicht mehr jung.“

Ellie zog vor dem zerlumpten Wächter den Hut und folgte Lord Pembroke. Sie versuchte, das Gesicht abzuwenden, doch Crippen machte sich die Mühe, sie zu umkreisen und zu mustern. Seine Augen weiteten sich. „Halliday“, knurrte er. „Dieser Mann arbeitet für Sie? Immer?“

Crippen erkannte sie aus dem mechanischen Freudenhaus, sie war sich sicher. Er hatte sie nur kurz zu Gesicht bekommen, als sie im Erdgeschoss des Bordells an ihm vorbeigegangen war, während er Karten gespielt hatte. Dabei hatte er ihr sogar zugezwinkert. Doch dieser kurze Blick war lang genug gewesen, um ihr jetzt Probleme zu bereiten.

Lord Pembroke hielt inne und runzelte die Stirn. „Ich beanspruche seine Dienste nicht jeden Tag rund um die Uhr, Mann. Warum fragen Sie?“

„Sein Gesicht kommt mir bekannt vor. Vor allem dieser Schnurrbart.“

„Mmm“, meinte Lord Pembroke. „Es ist tatsächlich ein recht grässlicher Schnurrbart. Nun, wenn Sie gestatten, ich habe noch Geschäfte zu erledigen.“ Er begann sich zu entfernen, dann hielt er noch einmal an. „Sie heißen Crippen, nicht wahr? Crippler? Ich habe ’59 Ihren Kampf gegen Hamilton gesehen. Das war wirklich ein Paradebeispiel für die Kunst des Faustkampfs.“

Der misstrauische Blick wich aus Crippens Gesicht, er richtete sich auf und warf sich in Pose. „Wussten Sie, dass Hamilton nach dieser Nacht nie wieder gekämpft hat?“

Lord Pembroke lächelte, seine Zähne blitzten wie eine dünne Messerklinge. „Ich bezweifle eher, dass er danach jemals wieder feste Nahrung zu sich genommen hat, Crippler.“

„Ha! Wie wahr, M’lord.“ Crippen tippte sich an den Hut, dann nickte er dem anderen Wächter zu. „Zurück auf unsre Posten, Kumpel. Nur noch ein paar Stunden bis zur Wachablösung, was?“

Lord Pembroke ging weiter, und Ellie eilte hinterher. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander, begleitet nur vom Geräusch ihrer Schritte und dem Klicken, mit dem Lord Pembrokes Gehstock auf dem Boden aufkam. Schließlich sagte er: „Ich muss gestehen, Miss Skye, dass ich Ihren vorherigen Aufzug einnehmender fand. Dieser Schnurrbart ist wirklich ganz und gar grässlich.“

Ellie lachte. „Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie mich erkannt haben. Nun bin ich ein wenig enttäuscht. Ich fand die Verkleidung recht gut.“

„Sie ist gut, und zuerst dachte ich auch, dass Sie ein Mann seien. Ich griff nur ein, weil ich verhindern wollte, dass ein Fremder ermordet wird. Aber als ich näher kam … Ihre Augen können Sie nicht verstecken, Miss Skye. Nicht einmal dieser Schnurrbart kann mich vollständig davon ablenken. Sie sind mir heute Nacht also gefolgt? Sie spielen ein gefährliches Spiel.“

„Für mich ist das kein Spiel, Sir. Es ist mein Beruf und meine Berufung. Tatsächlich sogar mein Leben.“

„Ich kann nicht für Ihre Sicherheit einstehen.“

„Ich auch nicht für die Ihre, Lord Pembroke. Trotzdem danke für Ihre Hilfe. Das hätte sonst unangenehm werden können.“

„Sie haben ein bemerkenswertes Talent zur Untertreibung. Haben Sie irgendetwas Interessantes herausgefunden, während Sie hinter mir her geschlichen sind?

„Ich bin mir recht sicher, dass ich das Gesicht des Mörders gesehen habe“, sagte sie.

Lord Pembroke stockte, Schritte und Gehstock gerieten aus dem Takt. Ellie gestattete sich ein kleines Lächeln.

„Das ist tatsächlich interessant. Natürlich habe ich vor Kurzem den Namen des Mörders erfahren, aber trotzdem ist eine Beschreibung immer hilfreich, da Namen geändert werden können.“

Ha. Nun, dann hatte er sie eben übertroffen. „Warum haben Sie die Leiche versteckt, Lord Pembroke? Ich bin geneigt, gut von Ihnen zu denken. Sie haben der Justiz in der Vergangenheit Dienste erwiesen und sich eben erst für mich persönlich eingesetzt. Aber dennoch muss Ihnen klar sein, dass manches von Ihrem momentanen Verhalten sehr leicht missverstanden werden könnte.“

„Talent zur Untertreibung und für Diplomatie. Wissen Sie was, ich glaube, ich würde Sie zum Premierminister wählen.“

„Leider bin ich aufgrund meines Geschlechts von diesem Amt ausgeschlossen, selbst wenn ich es wollte.“

„Hmm“, machte Lord Pembroke. „Man sollte annehmen können, dass in den drei Jahren seit Ausbruch des Morbus Konstantin etwas mehr geistige Flexibilität in Hinblick auf die männlichen und weiblichen Sphären entstanden sei. Stattdessen scheint die Seuche die Trennung nur verstärkt zu haben.“

„Man kämpft sehr viel verzweifelter, um an dem festzuhalten, was man zu verlieren fürchtet, Lord Pembroke.“

„Untertreibung, Diplomatie und Weisheit. Ich bin versucht, auch noch ‚Schönheit‘ zu der Liste hinzuzufügen, aber nun ja.“

„Es ist der Schnurrbart.“

„Ganz richtig“, sagte Lord Pembroke. Sie umrundeten eine Ecke und gingen weiter. Nach und nach wurde die Umgebung weniger scheußlich, und die flackernden Gaslampen wichen alchemistischen Lichtern. Die Straßen hier waren ruhig, weil die Bewohner respektabel waren, und nicht, weil sie irgendwo leise auf der Lauer lagen.

„Hören die meisten Frauen auf, Ihnen unangenehme Fragen zu stellen, wenn Sie sie mit Schmeicheleien abgelenkt haben?“, sagte Ellie.

„Die meisten Frauen stellen mir überhaupt keine unangenehmen Fragen. Bis auf meine Frau. Winifred hat da niemals Bedenken.“

„Das klingt nach einer Frau, die ich bewundern würde. Sie werden mir über kurz oder lang antworten müssen, Sir, oder ich werde Ihnen die Fragen in der Zeitung stellen müssen. Dann wird die Öffentlichkeit Sie ebenfalls fragen. Mir ein Interview zu versprechen, ist schön und gut, aber was ich heute Nacht gesehen habe … Ich kann es nur so deuten, dass Sie versuchen, ein abscheuliches Verbrechen zu vertuschen. Bitte überzeugen Sie mich vom Gegenteil, Lord Pembroke.“ Sie hoffte wirklich, dass er sie überzeugen würde, und das nicht nur, weil er ihr ein Kompliment zu ihren Augen gemacht hatte. Vor allem hoffte sie es, weil sie Intelligenz und Humor in seinen Augen sah. Sie wollte nicht, dass er sich als Schurke entpuppte.

Lord Pembroke seufzte. „Möchten Sie mich vielleicht auf einen Drink in meinen Club begleiten, Miss Skye?“

„Welcher Club ist das, Sir?“

„Der Luna Club.“

Ellie lachte. „Haben Frauen dort inzwischen Zutritt?“

„Natürlich nicht, Mr. Jenkins. Aber warum sollten Männer wie wir sich darüber Gedanken machen?“

* * *

Sie fanden eine Mietdroschke und fuhren Richtung West End. Während der Fahrt unterhielten sie sich leise. Der dämmrige Innenraum der Droschke schuf eine merkwürdige Intimität, und obwohl sie über Leben und Tod und über Verbrechen sprachen, fühlte es sich erstaunlicherweise fast wie ein Gespräch unter alten Freunden an. Ellie erzählte ihm von dem fliehenden Mann, den sie in der Gasse gesehen hatte, und entschuldigte sich, dass sie ihm keine bessere Beschreibung des mutmaßlichen Mörders geben konnte.

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Lord Pembroke. „Nur in Schauergeschichten hat der Mörder stets eine Augenklappe, ein Holzbein und ein Muttermal in Form eines Cellos. Die meisten Menschen sehen ganz einfach aus wie Menschen. Wir sind im Allgemeinen nicht besonders einprägsam.“

Ellie war froh, dass er ihr Lächeln im Dunkeln nicht sehen konnte. Er war jedenfalls sehr einprägsam. „Wenn Sie doch wissen, dass ein Mörder in der Gegend sein Unwesen treibt, warum melden Sie es nicht der Polizei?“

Lord Pembroke seufzte. „Mr. Value besteht darauf, das Problem selbst zu lösen. Er glaubt, dass der Mörder ihn zu blamieren versucht oder die Aufmerksamkeit der Polizei auf einige seiner anderen Geschäfte lenken will. Seine Bedenken sind plausibel, trotzdem überzeugen Sie mich nicht recht. Ich glaube, dass der Mörder wesentlich komplexere Motive hat, als Mr. Value zu verärgern, obwohl das gewiss einer der Gründe ist. Männer wie Value halten sich jedoch für den Nabel der Welt.“

„Das erklärt, warum Value die Polizei außen vor lassen will. Aber warum wollen Sie es? Warum arbeiten Sie überhaupt für ihn?“

„Dazu kann ich nur sagen, dass das Leben kompliziert ist. Manchmal müssen auch Männer mit Gewissen unbequeme Bündnisse schließen, um ein höheres Ziel zu unterstützen. Ich weiß, dass diese Antwort Sie nicht zufrieden stellen wird, Miss Skye. Aber lassen Sie mich Ihnen einfach sagen, dass es mir nicht zusteht, die Geheimnisse Dritter zu offenbaren. In Ordnung?“

Ellie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Sie war sich nur zu gut bewusst, wie eng und dunkel das Innere der Droschke war und wie nah sie beieinander saßen, fast Knie an Knie. Sie wollte nicht schlecht von diesem Mann denken, den sie bewundert hatte. „Sie arbeiten mit Value zusammen, um jemand anderen zu schützen?“

Obwohl der Innenraum der Droschke nur schwach beleuchtet war, glaubte sie, ihn fast unmerklich nicken zu sehen. „Mr. Value ist sich nicht zu schade, mit Erpressung zu drohen, und es gibt Menschen, die mir nahe stehen und denen kein Leid geschehen soll.“ Er sah aus dem Fenster der Droschke. „Oh, wir sind fast da.“

Ellie musste sich eingestehen, dass die Aussicht, einen Club zu betreten, sie doch etwas in Aufregung versetzte. Für jemanden ihres Geschlechts war ein solcher Ort ebenso mysteriös wie der ferne Orient oder die Urwälder Afrikas. Als sie vor einem vornehmen Backsteingebäude in der St. James’s Street hielten und aus der Droschke stiegen, ging es schon auf Mitternacht zu. „Hat er wirklich so spät noch geöffnet?“, fragte sie.

„Das hat er in der Tat. Der Luna Club war schon immer zu jeder Tages- und Nachtzeit geöffnet, auch wenn er tagsüber natürlich stärker frequentiert wird. Einige der Herren treffen sich fast jede Nacht zum Kartenspiel und spielen dann bis in die Morgenstunden, aber das ist dann auch der Gipfel der Ausgelassenheit. Die neuen Clubs in der Pall Mall sind belebter und entsprechen eher der aktuellen Mode, aber hier ist es etwas ruhiger. Anders als viele Jüngere gehe ich in den Club, um nachzudenken und mich zu entspannen, verstehen Sie.“

„Spielen Sie auch Karten, Sir?“

„Oh, natürlich, ein wenig, aber nicht ernsthaft. In dieser Hinsicht habe ich keinerlei Ambitionen. Ich habe auch kein großes Interesse daran, Geld zu gewinnen oder zu verlieren. Zum Glück. Eine starke Wettbegeisterung würde aufs Gefährlichste mit meinen anderen Lastern konkurrieren.“ Er grinste sie an, dann betätigte er den Türklopfer an der stattlichen, mit Schnitzereien verzierten Eichentür. Einen Augenblick später ging lautlos die Tür auf. Dahinter stand ein Mann mittleren Alters mit einem weißen Schnurrbart. Für Ellie sah er wie ein ganz normaler Bediensteter aus, doch Lord Pembroke wankte rückwärts, als habe der Mann ihm einen Schlag versetzt. „Ransome!“, sagte er. „Was in aller Welt machen Sie hier?“

Der Mann stand stocksteif da und sah aus wie die fleischgewordene Würde. Er sagte: „Der Luna Club suchte einen Nachtpförtner, und Lady Pembroke war so freundlich, eine Empfehlung zu schreiben.“

„Oh. Nun, gut gemacht.“ Lord Pembroke wirkte etwas überfordert, und Ellie fand diese Reaktion äußerst liebenswert bei einem Mann, der sich sonst so selbstsicher gab. „Ich bedauere, dass ihre, ähm, vorherige Stellung sich als unhaltbar erwiesen hat.“

„Ich bringe Ihnen nur den größten Respekt entgegen, Mylord. Aber diese Arbeit passt ganz einfach besser zu meinen Fähigkeiten.“

„Durchaus.“ Lord Pembroke wies auf Ellie. „Das ist Mr. Jenkins. Er ist heute Abend mein Gast.“

„Seien Sie willkommen, Sir.“ Ransome trat zur Seite, um sie einzulassen, und nachdem sie die Halle betreten hatten, nahm er ihnen Hut und Mantel ab. „Einige der Herren spielen Karten, Sir, falls Sie sich dazugesellen möchten.“

„Nein. Ich denke, wir werden in die Bibliothek gehen und uns dort unterhalten. Jenkins und ich haben viel zu besprechen.“

Ransome verbeugte sich, als habe er ein Scharnier in der Hüfte, und brachte ihre Sachen fort.

„‚Passt ganz einfach besser zu meinen Fähigkeiten‘“, murmelte Lord Pembroke, während sie weiter in den Club hineingingen. „Dieser Mann war mein Kammerdiener! Eigentlich sogar unser Mädchen für alles, er kochte auch ab und zu. Aber er musste nicht die ganze Nacht wach bleiben, als er in meinen Diensten stand! Jedenfalls nicht regelmäßig. Ich bin mir sogar recht sicher, dass ich ihm mehr gezahlt habe, als der Club es je könnte. Bin ich denn wirklich so ein schlechter Dienstherr?“

Ellie zog es vor, nicht zu antworten, und sah sich im Club um, während sie gingen. Sie war enttäuscht, wie langweilig er war, wie spießig sogar. Jedes Zimmer hatte eine dunkle Holztäfelung, verblichene Blümchenteppiche, glänzende Gaslampen aus Messing (hier gab es weder Alchemie noch Elektrizität), und einen kalten Kamin. Hin und wieder hing ein Porträt, ein Landschaftsbild oder ein abgehackter Tierkopf an der Wand. Lord Pembroke führte sie in die Bibliothek, die ebenfalls sehr typisch aussah. Meterhohe Regale standen an allen Wänden, einladend aussehende Clubsessel waren in den Ecken gruppiert. In der Mitte des Raumes stand ein langer Bibliothekstisch, umgeben von Stühlen mit geraden Lehnen. Sie zweifelte nicht daran, dass alle Möbelstücke antik waren, trotzdem fand sie keines davon sonderlich schön.

„Hier sollten wir ungestört sein. Die Herren, die nach Mitternacht noch hier sind, sind meist nicht zum Lesen hergekommen.“ Lord Pembroke schob die Holztür zu und trennte so die Bibliothek von der Außenwelt. Ellie fühlte mit leichtem Herzklopfen den Reiz des Verbotenen. Natürlich war sie schon mit Männern allein gewesen, die nicht direkt zur Familie gehörten, wie etwa kürzlich mit Mr. James, aber das hier war in gewisser Weise doch etwas ganz anderes. Lord Pembroke war nur wenig älter als sie und sah sehr gut aus – und er war verheiratet. Ellies selige Mutter wäre entsetzt gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass sie mit ihm allein in einem Zimmer war, ungeachtet ihres ungewöhnlichen Aufzugs. Mr. James hätte nicht anders reagiert.

Lord Pembroke bedeutete Ellie, in einem der Sessel Platz zu nehmen. Sie ließ sich dankbar hinein sinken, weil ihr vom stundenlangen Laufen und Stehen noch immer die Füße schmerzten. Er öffnete ein Schränkchen und nahm zwei Gläser heraus, dann goss er sich aus einer Karaffe, die auf einem kleinen runden Tisch zwischen ihnen stand, etwas Brandy ein. „Einen Drink?“, fragte er. „Oder sind Sie eine Verfechterin der Mäßigkeit?“

„Es gibt kaum jemanden, der mich als gemäßigt bezeichnen würde. Trotzdem trinke ich selten.“ Ellie versuchte zu lächeln, doch davon juckte ihr Schnurrbart. „Ich nehme nur einen Schluck, um den Schein zu wahren.“

Lord Pembroke schenkte ihr einen Fingerbreit voll in ein Kognakglas und reichte es ihr. „Trinken, um den Schein zu wahren. Was für eine eigenartige Idee. Manchmal übe ich mich in Enthaltsamkeit, um den äußeren Schein zu wahren, aber meistens mache ich mir nicht die Mühe. Ich finde, auf das Äußere wird entschieden zu viel Wert gelegt.“ Anders als Ellie erwartet hatte, trank er den Brandy nicht genüsslich, sondern schüttete ihn hinunter wie Medizin. Dann goss er sich ein weiteres, größeres Glas ein, das er in kleinen Schlucken trank. Kurz darauf beugte er sich vor, während er das Glas zwischen seinen Handflächen hin- und her rollte. „Heute Nacht habe ich mit einer Toten gesprochen, Miss Skye. Sie nannte mir den Namen des Mörders. Ich weiß nicht, ob Ihr Chefredakteur eine solche Geschichte drucken würde. Ebenso wenig weiß ich, ob Sie selbst sie mir überhaupt abnehmen.“

„Ich bin schon Menschen begegnet, die behaupteten, mit Geistern sprechen zu können“, sagte Ellie vorsichtig. „Ich fand sie nicht unbedingt glaubwürdig.“

Lord Pembroke schüttelte den Kopf. „Das war kein Geist. An dem Ort, zu dem Sie mir gefolgt sind, befindet sich das Labor von Abel Values Haus- und Hofwissenschaftler. Der Bursche ist ein wenig seltsam, und das ist noch untertrieben, aber er ist zweifellos brillant. Er erklärte mir, da die Frau gerade erst gestorben war, könnten aus dem Körper Informationen gewonnen werden.“

„So wie dieser alte Volksglaube, nach dem man das Letzte, das ein Mordopfer gesehen hat, als Spiegelbild in seinen Augen erkennen kann?“

„So ähnlich, ja, so ähnlich. Aber wissenschaftlicher. Es gab merkwürdige Apparaturen und ein Glas mit Flüssigkeit. Dünne Drähte, die an ein Organ angeschlossen wurden, das noch warm war. Schließlich erklang eine Stimme aus einem Horn und verriet mir den Namen des Mörders.“

Ellie runzelte die Stirn. „Das war doch sicherlich ein Schwindel? So wie der mechanische Türke? Vielleicht hegt dieser Wissenschaftler einen Groll gegen die Person, die genannt wurde, und hat deshalb einen aufwändigen Trick vorbereitet, um Sie zu täuschen?“

„Diese Möglichkeit ist mir auch schon in den Sinn gekommen, Miss Skye. Doch die Einzelheiten, die die Stimme mir erzählte, waren persönlich und in sich stimmig. In diesem Zeitalter der Wunderwerke, da Männer in Frauen verwandelt werden, Feuer ewig brennen können, seltsame Lichter am Himmel flackern und groteske Geschöpfe in den Wassern der Themse gesichtet werden – wer kann da schon sagen, was sonst noch alles möglich ist?“

„Tss“, machte Ellie. „Nur weil eine unwahrscheinliche Sache existiert, lässt sich daraus noch lange nicht schließen, dass man alle unwahrscheinlichen Sachen glauben sollte. Dennoch ist es wahrscheinlich am besten, unvoreingenommen an die Dinge heranzugehen. Ich habe schon Geschichten von Menschen gehört, die man für tot hielt und die später wieder zum Leben erwachten. Deren Körper aus eisigen Gewässern gezogen und auf einen Leichentisch gelegt wurden, nur um sich mit einem tiefen Atemzug aufzurichten, nachdem sie wieder aufgewärmt waren. Vielleicht kann man eine frische Leiche zum Sprechen bringen. Ich kann es nicht sagen.“

„Mit Sicherheit lohnt es sich, die Aussage der Stimme zu überprüfen. Was ich auch zu tun gedenke, und zwar schleunigst. Ich habe Mr. Values Wissenschaftler gebeten, seinem Dienstherrn den Namen des Beschuldigten nicht preiszugeben, ehe ich die Sache untersucht habe. Natürlich habe ich dem Wissenschaftler keine betrügerische Absicht unterstellt, sondern äußerte lediglich, mit Bedacht vorgehen zu wollen. Selbst wenn es wirklich die Stimme dieser armen Frau war, könnte sie den Mörder schließlich auch falsch identifiziert haben. Der Wissenschaftler stimmte mir zu, aber ich weiß nicht, ob ich darauf vertrauen kann, dass er schweigt. Es kann sein, dass er Value längst benachrichtigt hat. Falls dem so ist, wird der Beschuldigte vielleicht die Nacht nicht überleben.“

Ellie schauderte. „Value ist wirklich so brutal?“

„Er würde sein Handeln nicht als Brutalität bezeichnen, sondern als Pragmatismus, was jedoch auf dasselbe hinausläuft. Ich werde mich bemühen, den Mörder vor ein ordentliches Gericht zu bringen, falls er schuldig ist, und ihn nicht Abel Values Gerechtigkeit überlassen. Der Grund, warum ich hier sitze und trinke, anstatt dort draußen nach dem Mann zu suchen, ist folgender: Ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll. Normalerweise würde ich versuchen, meine Kontakte bei der Polizei zu erreichen, damit sie mir helfen, ihn aufzuspüren, aber in diesem Fall kann ich das nicht. Selbst mein engster Freund von der Polizei, Inspektor Whistler, würde zu viele Fragen stellen. Einer der Vorteile dabei, mit einem Verbrecher wie Value zusammenzuarbeiten, ist der Zugang zu einem Netzwerk von verbrechensbezogenen Informationen. Ich kann ihn aber nicht fragen, ohne den Tod meines Verdächtigen zu riskieren, ehe ich mich von seiner Schuld oder Unschuld überzeugen konnte. Ich bin gerade ein wenig ratlos, wie ich weiter vorgehen soll. Erfahrungsgemäß helfen ein paar Drinks und etwas Konversation, um meinen Verstand zu stimulieren. Darum sind wir nun hier.“

Ellie lächelte trotz ihres juckenden Schnurrbarts. „Ihnen steht noch eine weitere Quelle zur Verfügung, Lord Pembroke. Die Macht der Presse. Wir sind sehr geübt darin, Menschen ausfindig zu machen.“

Er knurrte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ihr seid auch sehr geübt darin, Geheimnisse zu verraten.“

„Lord Pembroke, ich werde den Namen dieses Mannes nur drucken lassen, wenn wir uns sicher sein können, dass er der Mörder ist.“

„Jetzt heißt es also schon ‚wir‘?“

Ellie zuckte nur die Achseln.

Lord Pembroke seufzte. „Nun gut. Der Name des angeblichen Mörders ist Thaddeus Worth.“

Ellie blinzelte. „Sind Sie sicher?“

„Ja, warum? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist verschluckt.“ Er blickte finster in seinen Drink. „Einen Geist gesehen, meine ich. Oder vielleicht auch eine Fliege verschluckt. Ich … “

„Ich kenne ihn“, fiel Ellie ihm ins Wort. „Ich habe Thaddeus Worth einmal für einen Artikel interviewt. Seine Frau ist durch Morbus Konstantin verwandelt worden und kurz darauf verschwunden, vor ungefähr drei Jahren. Ihre Verwandlung war tatsächlich die erste, die bekannt wurde. Allerdings wurde sie nie von einem Arzt untersucht, weil sie kurz nach ihrer Veränderung davonlief. Anfangs wurde ihr Mann als Verrückter abgetan, der davon fantasierte, wie seine Frau ein Mann geworden war und ihn verlassen hatte. Die Obrigkeit nahm an, dass sie eine Transvestitin geworden sei oder sich in eine andere Frau verliebt habe oder dergleichen. Erst als auch andere an dem Fieber erkrankten und drei Tage später mit verändertem Körper erwachten, begriff die Obrigkeit, dass Mr. Worths Bericht wörtlich gemeint und glaubwürdig war. Stellen Sie sich einmal vor, wie verängstigt Mrs. Worth erst gewesen sein muss? Die Schmerzen und das Delirium zu erleiden, um dann aufzuwachen und festzustellen, dass sie sich verändert hatte, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, was geschehen war.“

„Kein Wunder, dass sie geflüchtet ist“, sagte Lord Pembroke.

„Ich weiß es nicht ganz sicher, aber ich hatte immer angenommen, dass Mr. Worth sich die Krankheit bei einer Prostituierten zugezogen hat. Er selbst könnte nur ein passiver Überträger gewesen sein, der später die Krankheit an seine Frau weitergab, wo sie sich dann in ihrer aktiven Form zeigte.“ Konnte Worth der Mann gewesen sein, der in der Gasse an ihr vorbeigehetzt war? „Er könnte es sein“, sagte Ellie. „Ich bin mir nicht sicher, aber Größe und Körperbau stimmen. Zwar hatte Worth einen Bart, als ich das letzte Mal mit ihm sprach, und der Mörder war glattrasiert, aber beide hatten Pockennarben auf Stirn und Wangen.“

Lord Pembroke lehnte sich zurück, ließ seinen Brandy im Glas kreisen und starrte hinein. „Ein solcher Mann könnte die Prostituierten hassen und ihnen die Schuld an seinem Unglück geben, glauben Sie nicht? Wenn diese Frauen ihn nicht mit der Krankheit angesteckt hätten, hätte seine Frau sich niemals verwandelt und ihn verlassen. Ein verdrehter Gedanke, aber ich kann mir vorstellen, dass er verlockend sein könnte. Erinnern Sie sich vielleicht noch an Mr. Worths Adresse?“