Im Dienst großer Herren
Meine Angestellten sind so unaufmerksam.“ Oswald seufzte und fixierte Ellie durch die Gitterstäbe. „Sie müssen sich nur einen falschen Schnurrbart in ihr hübsches Gesicht kleben, Miss Skyler – oder möchten Sie lieber bei Ihrem Künstlernamen genannt werden, Skye? –, und schon sind Sie ganz offensichtlich das Ebenbild unseres mysteriösen Mr. Jenkins. Ich nehme an, Sie waren im Bordell, um eine Geschichte zu schreiben?“
Ellie straffte sich. „Ja, Sir. Ein geheimer Blick in ein skandalöses Haus der verrufenen Mechanik.“
„Ich bin sicher, das wäre ein faszinierender Artikel geworden“, meinte Oswald und schien echtes Bedauern zu empfinden. „Sie schreiben sehr gut. Zu schade, dass Ihre Neugier dazu führen musste, dass Sie meine Anwesenheit im Bordell entdeckten. Was uns natürlich hierher gebracht hat, ebenso unausweichlich, wie ein Fluss ins Meer fließt. Im Normalfall hätte ich Ihnen eine beträchtliche Summe Geld geboten, damit Sie über meine Verstrickung mit den mechanischen Kurtisanen schweigen, aber wie es der Zufall will, haben Sie mein skandalöses Geheimnis zu einem furchtbar heiklen Zeitpunkt entdeckt. Momentan kann ich es mir nicht leisten, auch nur den Verdacht eines Skandals zu erregen oder überhaupt näher unter die Lupe genommen zu werden. Was die Frage angeht, wie Sie mit Lord Pembroke und seiner Frau in Kontakt kamen und in deren Ermittlungen hineingerieten, muss ich gestehen, dass ich in diesem Punkt etwas verwirrt bin. Jedoch denke ich nicht, dass das eine Rolle spielt.“ Er wandte sich zur Seite und verneigte sich vor Winnie. „Lady Pembroke. Es tut mir leid, dass Sie in diese Angelegenheit mit hineingezogen wurden.“
„Das lässt sich leicht wieder gut machen“, sagte Winnie. „Lassen Sie uns frei.“
„Ach! Ich würde, wenn ich könnte. Aber ich habe das Gefühl, es ist das Beste, wenn Sie beide vorerst einmal meine Gäste bleiben. Zumindest, bis ich die Gelegenheit habe, Ihre schlechte Meinung von zu verbessern.“
„Uns einzusperren, ist gewiss ein guter Anfang“, meinte Winnie. „Sie haben einen wunderbaren ersten Eindruck hinterlassen.“
Oswald schenkte ihr wenig Aufmerksamkeit. „Ich habe nicht vor, Sie für immer festzuhalten, selbst wenn Sie sich als widerspenstig erweisen. Lediglich für einige weitere Tage, denke ich, und im allerschlimmsten Fall für wenige Wochen. Dann werden meine Pläne weit genug fortgeschritten sein, dass alle verrückten Anschuldigungen, die Sie gegen mich erheben, nicht mehr von Belang sein werden.“
„Wenn wir für längere Zeit verschwunden sind, wird es Nachforschungen geben“, sagte Winnie.
Oswald winkte ab. „Oh, keine Sorge. Wenn ich Sie länger einsperren muss, werde ich Sie beide durch mechanische Nachbildungen ersetzen lassen. Ihre engsten Freunde werden sich wahrscheinlich nicht täuschen lassen, aber sie werden als Beweis ausreichen, dass Sie beide am Leben und wohlauf sind.“
„Pimm wird sich durch ein solches Gerät niemals täuschen lassen“, sagte Winnie.
„Ja“, meinte Oswald. „Das weiß ich. Natürlich hatte ich auch ihn unter Beobachtung, aber heute Morgen ist er uns entwischt. Meine Leute suchen nach ihm, und ich zweifle nicht daran, dass man ihn bald finden wird. Ich bin sicher, er wird rechtzeitig zu uns stoßen. Machen Sie es sich einfach bequem. Ich werde sehen, ob ich bald eine angenehmere Unterkunft für Sie finden kann.“ Er wandte sich ab.
„Warten Sie!“, rief Ellie. „Ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, Sie hätten Fragen an uns?“
„Hmm? Oh, ich wollte lediglich erfahren, was Sie mit Jenkins zu tun haben und wo ich ihn finden könnte, aber da Sie Jenkins sind, ist das nicht mehr von Belang. Ich möchte Ihnen meinerseits gern einige Dinge erzählen, um mich zu erklären. Ich möchte Ihnen vor Augen führen, dass mir Widerstand zu leisten heißt, dem Fortschritt Widerstand zu leisten. Aber Lord Pembroke soll meine Argumente ebenfalls hören, und ich sehe keinen Grund, mich zu wiederholen. Carrington, bleiben Sie hier, während ich mich um einige andere Angelegenheiten kümmere.“
„Wollen Sie nach dem anderen Gefangenen sehen?“, fragte Carrington. Oswald holte mit seinem Gehstock aus und schlug ihn Carrington gegen die Wange, sodass dieser taumelte.
„Sie sind entschieden zu geschwätzig, Mr. Carrington“, meinte Oswald freundlich und ging fort ins Dunkel.
Carrington presste die Hand an die Wange und sah Sir Bertram mit einem Ausdruck wilden Hasses hinterher. „Ich rede zu viel?“, meinte er düster. „Das sagt ein großer Prediger wie er?“
„Sie haben einen äußerst unangenehmen Vorgesetzten“, sagte Winnie.
„Er ist ein brillanter Mann“, sagte Carrington mit schamroten Wangen. „Brillanten Männern gegenüber muss man nachsichtig sein.“
„Muss man?“, meinte Winnie. „Pimm ist ebenfalls brillant, aber wenn er mich mit einem Rohrstock schlüge, würde ich das nicht dulden. Ich bin allerdings auch eine sehr moderne Frau. Es gibt also noch einen weiteren Gefangenen?“
„Seien Sie still“, sagte Carrington. „Frauen sollten nicht sprechen, nicht einmal falsche Frauen wie Sie.“
„Sie sollten netter sein, Carrington“, sagte Ellie. „Es kann sein, dass wir mehrere Wochen miteinander verbringen. Was hat Ihr Herr und Meister im Sinn? Was ist sein großes Experiment? Kommen Sie, es schadet nicht, wenn Sie es uns erzählen, wir sind doch ohnehin gefangen.“
„Es ist an Sir Bertram, die Geschichte zu erzählen“, sagte Carrington. „Aber lassen Sie sich nur gesagt sein, dass nichts mehr sein wird, wie es war. Das Versprechen der Wissenschaft ist die vollständige Verwandlung der Welt. Dieses Versprechen wird schon bald erfüllt werden.“
„Da haben ausgerechnet Sie das Glück, von dem Mann, der die Welt verändern wird, auf den Kopf geschlagen zu werden?“, meinte Winnie heiter. „Was müssen Sie stolz sein!“
* * *
Pimm kehrte wieder zu dem Büro hinter der Kneipe zurück in der Hoffnung, dass Value noch dort war. Doch der einzige Anwesende war Big Ben, der auf Values altem Stuhl saß und die Decke anstarrte.
„Hallo, M’Lord“, sagte Ben. „Was führt Sie her?“
„Ich hatte gehofft, mit Mr. Value sprechen zu können.“
„Er ist in unbekannte Gefilde gezogen, Sir. Ich glaube nicht, dass wir ihn wiedersehen werden.“
„In Ordnung“, meinte Pimm. „Hast du irgendeine Loyalität gegenüber Bertram Oswald, Ben?“
„Für den Mann hab ich noch nie gearbeitet“, sagte Ben. „Value hat mich persönlich angestellt. Wollte einen, der ihm loyal ist und nicht aus Oswalds Tasche bezahlt wird, denk’ ich. Mr. Oswald hat mir hin und wieder Angebote gemacht, aber ich hab einfach sein Geld genommen und ihm Lügen erzählt. Ich bin nicht unbedingt das, was man einen guten Mann nennt, nicht in jeder Hinsicht, aber ich hab auf meine Art schon Ehrgefühl.“
„Dann wärst du vielleicht bereit, mir zu helfen, Mr. Oswald vor Gericht zu bringen?“
Ben überlegte. „Für gewöhnlich versuch’ ich einen möglichst großen Bogen um das Gericht zu machen, damit nichts davon auf mich abfärbt. Aber wie es der Zufall will, bin ich gerade auf der Suche nach einer neuen Anstellung, da mein vorheriges Dienstverhältnis plötzlich beendet wurde. Was möchten Sie, dass ich tue?“
„Wenn Mr. Value irgendwelche Akten hat, die ihn mit Oswald in Verbindung bringen …“
„Oh nein, Sir, leider war es eine meiner letzten Pflichten, fast jede einzelne Akte, die Mr. Value führte, zu verbrennen. Beide Versionen seiner Geschäftsbücher genauso wie alles andere. Von seinem Besitz machte er zu Geld, so viel er konnte, und nahm die Beine in die Hand. Er wollte keinerlei Beweismaterial zurücklassen. Ein umsichtiger Mann, unser Mr. Value.“
Pimm nickte, enttäuscht, aber nicht überrascht. „Ich brauche irgendeinen Beweis, dass Oswald in illegale Unternehmungen verstrickt ist. Etwas, das ich der Obrigkeit vorlegen kann. Schon eine Untersuchung würde ausreichen, ich bin sicher, wenn die Polizei erst einmal zu suchen anfängt, wird sie auch etwas finden.“
„Vielleicht gibt es in Oswalds Fabrik irgendwelche Papiere, Sir“, sagte Ben. „Er bestellt seine Bauteile bei vielen verschiedenen Händlern, deshalb muss es dort auch Aufzeichnungen geben.“
Pimm runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Fabrik?“
„Die, in der Oswald die mechanischen Huren herstellt“, sagte Ben. „Ich war einige Male mit Mr. Value dort.“
„Ah.“ Pimm lächelte. „Ja, Ben. Wir sollten unverzüglich dorthin gehen.“
* * *
„Geben Sie uns wenigstens den Picknickkorb, Carrington“, verlangte Winnie. „Wir sind am Verhungern. Wie Sie sich vielleicht entsinnen, haben Sie unser Mittagessen unterbrochen.“
Carrington schmunzelte. Er hob den Korb auf seinen Schoß, öffnete ihn und nahm sich einige der feineren Gegenstände heraus, ebenso Teller, Messer und anderes Besteck – selbst die Löffel! Dann setzte er den Korb direkt vor dem Käfiggitter ab und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Winnie griff durch das Gitter, öffnete den Korb und zog das restliche kalte Huhn und die hartgekochten Eier heraus. Sie reichte sie an Ellie weiter. „Wir brauchen auch Wasser“, sagte Winnie.
Carrington rollte die Augen und schlenderte fort in die Dunkelheit. Sie hörten, wie eine Pumpe betätigt wurde, dann kam er mit einem überschwappenden Eimer und zwei Blechtassen zurück. Er stellte den Eimer an die Gitterstäbe und warf die Tassen hindurch. „Wie Sie vielleicht bemerkt haben, befindet sich in der Ecke ein weiterer Eimer“, meinte Carrington. „Der sollte für das ausreichen, was nach dem Mittagessen passiert. Sagen Sie, Freddy, pinkeln Sie inzwischen im Sitzen oder versuchen Sie noch immer, es im Stehen zu tun? Alte Gewohnheiten wird man nur schwer los, möchte ich annehmen.“
„Sie sind ein durch und durch unangenehmer Mensch, Mr. Carrington“, sagte Ellie. „Sie sollten sich schämen.“
„Mein Herr hat mich gelehrt, dass Scham eine Torheit ist.“
„Ich dachte die ganze Zeit, Ihre Gemeinheit sei ein angeborener Zug, kein erlernter“, sagte Winnie. „Seien Sie unbesorgt, Ellie. Wir müssen uns vielleicht in einen Eimer erleichtern, aber Mr. Carrington ist derjenige, der unsere Abfälle ausleeren muss.“
Carrington gab sich Mühe, sie nicht zu beachten, schlug auf seinen Knien eine Zeitschrift auf und fing an zu lesen, wobei er vor sich hin kicherte.
Winnie lehnte sich an die Gitterstäbe und aß ihr Huhn. Ellie ließ sich neben ihr nieder. „So“, meinte Winnie leise. „Verabscheuen Sie mich nun, da Sie wissen, was ich wirklich bin?“
„Sie sind Opfer einer Krankheit“, meinte Ellie mit gedämpfter Stimme. „Das macht Sie wohl kaum verabscheuenswert. Ich muss sagen, Sie haben sich großartig daran angepasst, eine Frau zu sein.“
„Ich hatte Glück“, sagte Winnie. „Vor meiner Verwandlung war es mein ganzer Lebensinhalt, die Frauen zu studieren.“ Sie grinste. „Pimm mag Sie, wissen Sie.“
Ellie hörte für einen Augenblick auf zu kauen, verblüfft von dem plötzlichen Themenwechsel. Dann fuhr sie fort, schluckte und fragte: „Wie bitte?“
„Pimm. Ich wage zu behaupten, dass er ganz begeistert von Ihnen ist. Sie haben wirklich Eindruck auf ihn gemacht.“
„Hat er Ihnen das erzählt?“
„Er erzählt mir alles. Er findet, dass Sie intelligent, eindrucksvoll und schön sind. Nun gut, ‚schön‘ hat er nicht gesagt, aber ich habe es daran gemerkt, wie er das andere sagte. Außerdem konnte ich es natürlich sehen.“
Ellie öffnete den Mund, um zu protestieren – „Er ist verheiratet!“ –, doch dann wurde ihr klar, wie absurd diese Äußerung war.
„Ich weiß nicht, was Sie von ihm halten, aber Pimm könnte in seinem Leben eine gute Frau gebrauchen. Jemand anderen als mich. Die meiste Zeit ist er furchtbar unglücklich, eigentlich immer, wenn er nicht gerade einen Fall verfolgt. Er versucht seine Gefühle in Alkohol, gesellschaftlichen Anlässen und dergleichen zu ertränken, aber sie sind immer da, eine unterschwellige, dunkle Strömung. Er hat einmal eine Frau sehr geliebt, als er jung war, noch keine zwanzig. Ich glaube nicht, dass er jemals darüber hinweggekommen ist. Sie wurde ermordet, wissen Sie, und ihr Mörder wurde nie gefunden. Ich glaube, dass Pimm deshalb angefangen hat, sich für Kriminologie zu interessieren, auch wenn er das natürlich als Unsinn abtut. Er spricht auch nicht gern über sie, aber ich kannte ihn damals, und ich weiß, dass er am Boden zerstört war.“
„Das wusste ich nicht“, sagte Ellie und musste dabei an ihren eigenen verstorbenen Verlobten denken. „Winnie, wollen Sie andeuten, dass ich Pimm – Lord Pembroke – in romantischem Licht sehen könnte? Selbst wenn so etwas der Wahrheit entspräche, scheint es mir in der misslichen Lage, in der wir uns gerade befinden, kaum der richtige Zeitpunkt zu sein.“
„Oh, wir kommen schon wieder frei“, meinte Winnie sorglos. „Ich habe mir bereits drei Fluchtpläne überlegt, und sobald Pimm merkt, dass wir verschwunden sind, wird er sich doppelt so viele ausdenken, um uns zu finden. Sie dürfen sich nicht durch ein alltägliches Problem wie eine Entführung davon abhalten lassen, sich um wirkliche wichtige Dinge wie die Liebe zu kümmern.“
„Ich kenne ihn doch kaum!“, sagte Ellie.
„Oh, ich weiß. Alles, was ich Ihnen deutlich machen möchte, ist: Vielleicht sollten Sie versuchen, ihn näher kennen zu lernen. Sie sollten wissen, dass ich als seine Frau nichts dagegen habe.“
Ellie lachte bitter. „Angenommen, wir verliebten uns. Was dann? In den Augen der Welt ist er trotzdem verheiratet.“
„Ich habe meinen Tod schon einmal vorgetäuscht“, sagte Winnie. „Ich wage zu behaupten, dass es beim zweiten Mal leichter wäre. Wenn zwischen Pimm und irgendjemand anderem die Liebe erblühen würde, würde ich einen Weg finden, Platz zu machen. Er ist mein bester Freund. Er hat selbst zu lange auf das Glück verzichtet. Ich hätte niemals zulassen sollen, dass er mich heiratet, aber ich war damals ein wenig verzweifelt und außer mir, und es erschien mir als ein Rettungsanker.“
„Reden Sie beide über mich?“, rief Carrington. „Darüber, wie groß wohl meine Männlichkeit ist?“
„Er macht mich ganz krank“, sagte Ellie.
„Ja“, pflichtete Winnie ihr bei. „Zwei meiner Fluchtpläne sehen vor, dass wir ihn mit einem Eimer voll Urin niederschlagen. Beim dritten Plan wird er weit weniger schonend behandelt, wie Sie sicher gerne hören werden.“