Ein eigener Käfig
Die Kutsche fuhr durch das übergroße Tor eines Lagerhauses, das sich hinter ihnen schloss, dann wurden Ellie und Winnie in den dunklen Innenraum getrieben. Der Raum war riesig. Echos hallten von den Wänden, und Vögel flatterten im Gebälk. Haufen gebogener Eisenstangen lagen in scheinbar zufälligen Abständen auf dem harten Boden herum, neben großen Gegenständen, die mit Tüchern abgedeckt waren. Durch die Fenster, die sich hoch oben in Deckennähe befanden, fiel graues Licht, und eine einzige alchemistische Lampe, ein hohes, freistehendes Modell, warf im Halbdunkel einen Lichtkreis. „Hier entlang“, meinte Carrington. Mit der Spitze von Winnies Sonnenschirm stach er Ellie in die Seite und trieb sie zum Licht hin. „In den Käfig.“
Ellie blieb abrupt stehen und starrte das Ding an. Ihre Augen sehnten sich nach Licht, trotzdem konnte sie den nächsten Haufen Altmetall als großen eisernen Käfig erkennen, in der Art, wie man sie im zoologischen Garten im Regent’s Park zu sehen bekam. Er schien geeignet, wilde Löwen, Tiger oder Leoparden darin einzusperren. „Sie wollen uns in einen Käfig stecken?“
„Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit Seilen und Ketten fesseln ließe?“, fragte Carrington. „Ich könnte mich stattdessen zu dieser Methode überreden lassen. Mein Dienstherr wünscht sich ein gefesseltes Publikum, doch die Auswahl der Fesseln hat er mir überlassen.“
„Seile wären wahrscheinlich am besten.“ Crippen trat aus dem Schatten und ließ die Fingerknöchel knacken. Wahrscheinlich hatte er hinter ihnen das Tor geschlossen, dachte Ellie. „Frauen kann man nicht trauen, vor allem wenn sie Bratpfannen oder Blumenvasen zur Hand haben“, knurrte Crippen.
„In solchen Fragen sind Sie sicherlich Experte.“ Carrington versuchte gar nicht erst, seine Geringschätzung zu verbergen, er fühlte sich Crippen offensichtlich überlegen. Dabei war er selbst auch nur der Hund desselben Herren. „Was meinen die Damen?
„Der Käfig ist uns schon recht“, sagte Winnie und hörte sich an, als wähle sie ein neues Sofa für ihren Salon. „Er scheint einigermaßen geräumig zu sein.“ Sie spazierte in den Käfig hinein. Die Decke befand sich nur etwa eine Handbreit über ihrem Kopf. Ellie schluckte ihre Beklommenheit hinunter und folgte ihr. Carrington ließ die Tür zufallen, steckte einen großen Eisenschlüssel ins Schloss und drehte ihn um, mit einem Rasseln, das in Ellies Ohren erschütternd endgültig klang. „Seien Sie so gut, und sehen Sie nach den Pferden“, rief er Crippen zu. Dieser knurrte und schickte sich dann an, die Tiere und die Kutsche wegzuführen.
Carrington zog einen Holzstuhl an den Käfig heran, in die Nähe der Lampe. Er setzte sich, während er den gefangenen Frauen ein strahlendes Lächeln schenkte. Ellie stand mit dem Rücken zu den Gitterstäben in der hinteren Ecke des Käfigs, während Winnie sich im vorderen Bereich lümmelte, die Ellbogen auf eine Querstange aufgestützt, die Knöchel übereinander geschlagen. Irgendwie schaffte sie es, vollkommen entspannt auszusehen. Carrington warf einen Blick über die Schulter, sah zu, wie Crippen die Pferde fort in die Dunkelheit führte, und wandte sich wieder an seine Gefangenen. „Es tut mir schrecklich leid, dass ich keine getrennten Unterkünfte für die Männer und Frauen in Ihrer Gruppe anbieten kann“, sagte er. „Ich weiß, es ist entsetzlich unzivilisiert. Aber es macht Ihnen nichts aus, oder, Freddy?“
„Sie sind ein Schuft, Sir“, sagte Winnie frostig. Sie wandte sich Ellie zu. „Es gibt etwas, das ich Ihnen mitteilen sollte, Ellie, und sei es nur, um Carrington seinen grausamen Spaß zu verderben. Auch wenn ich nicht weiß, warum er solch eine elementare Abneigung gegen mich entwickelt hat. Ich habe nur im Vorbeigehen sein Gesicht mit meinem Sonnenschirm gestreift. Ein Mann, dessen Gesicht wie seines zum Schlagen geradezu einlädt, hat gewiss schon Schlimmeres erlebt. Nun, Ellie, ich muss gestehen, ich bin nicht als Frau geboren worden. Bis vor zwei Jahren war ich Frederick, nicht Winifred.“
„Buh“, meinte Carrington, „Spielverderber! Ich hatte vorgehabt, das Ganze etwas mehr in die Länge zu ziehen und viele bösartige Bemerkungen über Ihre Weichteile zu machen. Was soll ich jetzt tun, um mir die Zeit zu vertreiben?“
Ellie blinzelte. „Sie sind ein Opfer des Morbus Konstantin?“
„Ich würde mich niemals als ein Opfer von irgendetwas bezeichnen“, sagte Winnie, „Doch ja, ich habe mir die Krankheit zugezogen. Ich war leider nicht immer vorsichtig bei der Wahl meiner intimen Freundinnen.“
Ellie hatte schon Menschen getroffen, die durch die Krankheit verwandelt worden waren, doch nur im Rahmen ihrer Recherchen. Sie hatte begonnen, Winnie als Freundin anzusehen, und es war ein Schock für sie, herauszufinden, dass sich in diesem Körper der Geist und die Seele eines Mannes befanden. Sie platzte mit der ersten Frage heraus, die ihr einfiel: „Weiß Pimm davon?“
Winnie zog eine elegante Augenbraue hoch. „Ja, natürlich. Wir sind beste Freunde seit unserer Kindheit. Als ich mich verwandelt hatte, wusste ich, dass meine Familie für meinen neuen Stand im Leben kein Verständnis haben würde. Es war weitaus besser, wenn Freddy, der ohnehin immer ein unzuverlässiger Bursche war, eine lange Reise nach Amerika antrat, ohne vorher jemandem Bescheid zu geben. Pimm bot an, mich zu einer ehrbaren Frau zu machen.“
„Aber … aber habt ihr …?“ Ellie errötete.
„Um Gottes willen, nein!“, sagte Winnie und schauderte sichtlich. „Ich weiß, dass sich bei einigen, die verwandelt wurden, ihre, ähm, Vorlieben ebenfalls änderten. Aber ich fühle mich nicht zu Männern hingezogen, was in mancher Hinsicht verflucht unpraktisch ist. Selbst wenn ich mit einem Mann intim werden wollte – mit Pimm? Nie im Leben. Das wäre ja quasi Inzest. Nein, meine Liebe, wir wohnen nur zusammen, unsere Ehe ist zum Schein und fast völlig zu meinen Gunsten.“
„Dann ist Pimm … ähm …?“
„Ein warmer Bruder?“, meinte Carrington fröhlich. „Ein Perverser? Ein Anhänger gewisser griechischer Philosophen? Ja, das habe ich mich in der Tat auch schon gefragt. Was habt ihr beiden in der Schule nur zusammen getrieben, dass euch die Heirat wie eine natürliche Fortentwicklung eurer Beziehung erschien?“
Winnie ignorierte ihn scheinbar gelassen. „Nein, Liebes“, sagte sie sanft. „Pimm mag Frauen recht gern, wenn er sich lange genug von seiner Arbeit losreißen kann, um das schöne Geschlecht wahrzunehmen.“
„Aber Sie zu heiraten, das bedeutet doch, dass er niemals jemand anderen heiraten kann.“
Winnie nickte. „Das ist tatsächlich ein Grund für große Streitigkeiten zwischen uns. Ich lehnte sein Angebot zuerst ab, aber Pimm hat die seltsame Überzeugung, dass er einen grauenhaften Ehemann abgeben würde. Er meint, dass unsere Vereinbarung irgendeiner anderen Frau das Elend ersparen würde, dass er spät nachts noch an seinen Fällen arbeitet.“
„Oh bitte, fast jeder weiß, dass der Mann ein Trinker ist“, fiel ihr Carrington ins Wort. „Ein passabler Detektiv, wenn er nüchtern ist, aber wie oft ist das schon der Fall? Obwohl es recht anständig von ihm ist, seine Schwäche zu erkennen und einer Frau die Schande ersparen zu wollen. Auf jeden Fall ist Ihre Ehe nicht legal. In den Augen der Welt sind Sie noch immer ein Mann, Freddy.“
„Freddy gibt es nicht mehr“, sagte Winnie, „Ich bin Winifred. Sie können jeden fragen.“
„Warum sollten wir? Wir kennen die Wahrheit, und es gibt Wege, sie zu beweisen, was Sie sicherlich nur zu gut wissen. Eines Ihrer Haare und ein Haar aus Ihrem alten Leben, ein Schuss magnetische Flüssigkeit, und zwischen ihnen ist eine Verbindung hergestellt. So können wir beweisen, dass Freddy und Winnie ein und dieselbe Person sind.“ Er zuckte die Achseln. „Nicht dass wir uns die Mühe machen möchten. Wir haben wirklich keinen Grund, Pimm ins Verderben zu stürzen. Ich dachte nur, Miss Skye sollte wissen, dass Sie mit Vorsicht zu genießen sind, Freddy. Als Mann waren Sie ein rechter Wüstling, und wie man hört, besuchen Sie nun Salons, um sich dort eifrig nach den Anhängerinnen Sapphos umzutun …“
„Ich kann mich nicht erinnern, Sie aufgefordert zu haben, mit unseren Gästen zu sprechen“, sagte eine Stimme aus dem Schatten.
Carrington zuckte zusammen wie ein geprügelter Hund, der den Stiefel herannahen sieht. „Entschuldigung, Herr.“
„Ihre Kleinlichkeit ermüdet mich, Mr. Carrington“, sagte der Neuankömmling. Er stand noch immer im Dunkeln außerhalb des Lichtkreises der alchemistischen Lampe. „Verzeihen Sie ihm, meine Damen. Er wuchs in Armut auf und bringt all denen, die als Kinder regelmäßige Mahlzeiten genossen, tiefe Bitterkeit entgegen. Sein Wesen und seine Erziehung sind der Grund für seine böse Zunge, vor allem, wenn er mit Höhergestellten spricht. Entschuldigen Sie sich, Mr. Carrington.“
„Es tut mir wirklich leid“, sagte Carrington in einem Tonfall, von dem Ellie hätte schwören können, dass er aufrichtig war, wenn sie es nicht besser gewusst hätte.
„Sind Sie das, Sir Bertram?“, rief Ellie.
„Ich bin es in der Tat.“ Er kam näher, ein großer, gut gekleideter Mann, der einen Gehstock aus einem eigenartigen Metall in der Hand hielt. Er näherte sich den Gitterstäben, spähte hindurch und fing dann an zu schmunzeln. „Ach, du liebe Zeit“, sagte er. „Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen, Miss Skyler. Oder sollte ich sagen, Mr. Jenkins?“
„Wie, sie sind beide als Männer geboren?“, meinte Carrington verblüfft.