Interview mit einem schrecklichen Mann

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Pimm nahm eine Droschke, die ihn so nah wie möglich an die Adresse heranbrachte, die man ihm gegeben hatte. Keiner der elektrischen Omnibusse befuhr diese Route. Auch die Pferde weigerten sich für gewöhnlich, der Mauer, die die Überreste von Whitechapel sowie einen kleinen Teil von Mile End einschlossen, näher als einen halben Kilometer zu kommen. Die letzten Kilometer musste er daher laufen. Er schlenderte die fast völlig verlassene Straße entlang, an verrammelten Geschäften und einsturzgefährdeten Lagerhäusern vorbei. Dabei war sich stets bewusst, dass man ihn beobachtete und aus Gassen und leeren Fenstern und hinter Müllhaufen versteckt nach ihm spähte. Er blieb in der Mitte der Straße. Mehrmals hielt er inne, um einen Blick über die Schulter zu werfen und sich zu vergewissern, dass niemand versuchte, ihn von hinten zu überraschen. Er war für diese Gegend viel zu gut angezogen. Obwohl Raubüberfälle bei Tageslicht selbst in diesem elenden Teil von London selten waren, blieb er lieber wachsam, denn es dämmerte schon fast. Noch mehr Sorgen machte er sich allerdings über den Rückweg, wenn es mit Sicherheit völlig dunkel sein würde. Im West End und in einigen Teilen der Londoner Innenstadt gab es inzwischen elektrisches Licht, doch im East End leuchteten noch immer nur Gaslaternen, und auch die gab es nicht überall.

Pimm packte seinen Gehstock fester. Er war schwarz, solide, etwas mehr als einen Meter lang, von einer Silberkugel gekrönt und eigens von Freddy modifiziert worden, sodass er nicht nur als Knüppel dienen konnte. Während er, so gut es ging, versuchte, selbstsicher und unangreifbar auszusehen, schritt er voran. Die Pose wäre ihm leichter gefallen, wenn er nicht schon so viele Drinks gehabt hätte, bevor er hierhergekommen war. Er hatte sich eigentlich nur einen einzigen Drink zur Teestunde genehmigen wollen, um sich zu stärken. Doch aus einem Drink waren erst zwei und dann vier geworden, wie das eben manchmal so war. Er war nicht betrunken. Um das zu erreichen, musste er sich inzwischen fast einen ganzen Abend lang sehr anstrengen. Doch seine Reflexe ließen bereits zu wünschen übrig.

Nur ein paar Straßen nördlich von hier stieg abscheulicher gelber Nebel aus den Luftlöchern der Kuppel, die das verwüstete Gebiet in Whitechapel abdeckte. Es hatte Pläne gegeben, die Kuppel fester zu versiegeln, um die giftigen Schwaden drinnen zu halten. Jedoch befürchteten einige Wissenschaftler, dass die Gase der alchemistischen Feuer im Innern so viel Druck aufbauen würden, dass sie eine luftdichte Konstruktion sprengen könnten. Gelber Rauch war den Menschen lieber als ein Regen vergifteter Kuppelsplitter.

Es war schwierig, die Adresse zu finden, weil die meisten Häuser in dieser Gegend keine Hausnummern besaßen, doch er hatte Glück. Ein einziges Haus hatte eine Nummer, und es war genau das Haus, das er suchte. Die Adresse stand in Messingbuchstaben an der Eingangstür. Pimm blieb vor dem hohen, schmalen Gebäude aus Holz und alten Steinen stehen. Es hatte ein steiles, spitzes Dach und zwängte sich zwischen zwei längliche, niedrige Lagerhäuser. Irgendwie hatte das Haus etwas Germanisches an sich. Vielleicht wirkte es auch bloß wie aus einem Märchen. Es hätte ein Hexenhaus sein können oder der Wohnsitz eines ungewöhnlich vornehmen Menschenfressers.

Pimm pochte mit dem Griff seines Gehstocks an die Tür. Einige Augenblicke später hörte er von innen eine traurige Stimme: „Ja?“

„Sind Sie Mr. Adams? Mein Name ist Pembroke Halliday. Ein gemeinsamer Bekannter empfahl mir, mit Ihnen zu sprechen.“

„Oh, ja. Bitte treten Sie ein.“ Lautlos ging die Tür auf, und Pimm nahm den Hut ab, ehe er den düsteren Eingangsflur betrat. Er blinzelte, während seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten. Der Raum erschien riesig, aber wie konnte das Haus innen größer sein als außen?

Einen Augenblick später verstand er. Man hatte die Innenwände niedergerissen und lediglich die Stützpfeiler stehenlassen, sodass das Haus auf beiden Seiten nahtlos in die angrenzenden Lagerhäuser überging. Was von außen wie drei Häuser aussah, war in Wirklichkeit ein einziger gewaltiger Raum. Schemenhafte, massige Formen – wissenschaftliche Geräte, alte Möbel? – standen herum, und durch die verdreckten Dachfenster sickerte schwaches Licht. Der Boden war aus rohen Steinplatten, und an manchen Stellen lagen Teppiche. Sie erschienen in diesem großen Raum allerdings jämmerlich klein und verbreiteten kaum Wärme.

Mr. Adams war sogar noch seltsamer als sein Haus. Obwohl der Mann sich vorgebeugt hatte, war er trotzdem fast so groß wie ein Riese auf der Kirmes und überragte Pimm um einen guten halben Meter. Er trug eine dunkle Robe wie ein Gelehrter zu einem feierlichen Anlass, doch sie war fleckig und abgetragen. An den Händen hatte er dunkle Lederhandschuhe. Das Seltsamste von allem war die glatte weiße Maske, die sein Gesicht bedeckte und ihm eine furchteinflößende Leere verlieh. Doch seine Augen waren lebendig und wachsam. „Sie sind der Detektiv?“ Seine Stimme klang rau, als hätte er sich die Kehle verletzt. Vielleicht hatte er einen Brand überlebt. Verbrannte Haut könnte die Maske erklären, und die Kratzstimme mochte daher rühren, dass er zu viel Rauch eingeatmet hatte.

Pimm versuchte aus Prinzip, zu allen Menschen gleich freundlich zu sein, ob sie nun Geschäftsleute, Verbrecher oder Bettler waren, daher schmunzelte er nur. „Großer Gott, nein. Ich habe lediglich ein gewisses Interesse an Kriminologie, und deshalb bot ich unserem gemeinsamen Freund meine Hilfe an.“

Mr. Adams zeigte keine Regung. „Ich habe von Ihnen gehört. Sie haben gemeinsam mit Scotland Yard am Fall Constance Trent gearbeitet, nicht wahr?“

Pimm nickte. „Eine ganz hässliche Geschichte. Der Tod eines Kindes.“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich konnten wir nichts beweisen, was die Sache noch schlimmer macht. Der Mörder ist noch immer auf freiem Fuß.“

„Wir müssen alle für unsere Sünden büßen“, sagte Mr. Adams. „Wenn nicht sofort, dann im Laufe der Zeit.“

„Ja, in der Tat.“ Pimm räusperte sich. „Unser gemeinsamer Freund …“

„Sie können ihn gern beim Namen nennen.“ War Adams belustigt? Bei seiner Kratzstimme konnte man das schwer sagen. „Da ich mir sicher bin, dass wir beide zur Diskretion neigen, braucht es zwischen uns keine Geheimnisse zu geben.“

„Gut, dann Mr. Value. Er sagte, Sie könnten mir die Leichen dieser unglückseligen Frauen zeigen?“

„Zumindest eine davon. Folgen Sie mir.“ Er führte Pimm tiefer ins Haus hinein, durch Korridore aus Kistenstapeln, von denen manche uralt aussahen und mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Dieses zusammengeschlossene Haus war zwar ein großer, offener Raum, nur von Säulen gestützt, mit Hilfe von kunstvoll gestapelten Kisten, aufgehängten Wandteppiche und aufgespannten Zelten unter der hohen, dunklen Decke hatte man aber die Illusion von Zimmern und Korridoren geschaffen. Bald hielt Adams in einer engen Sackgasse aus Kistenstapeln an einer scheinbar beliebigen Stelle an. Die Kisten auf der einen Seite trugen Markierungen, die ägyptischen Hieroglyphen ähnelten, und auf der anderen Seite trug jede Kiste das schwer zu deutende Wort „Material“. Pimm sah sich in dem engen Raum um und erkannte, wohin sie als Nächstes gehen würden.

Die große Gestalt duckte sich, bückte sich sogar, sodass ihr Kopf auf einer Höhe mit Pimms Oberkörper war. Dann zog sie einen verblichenen orientalischen Läufer zur Seite, unter dem eine Falltür zum Vorschein kam, in die unten ein Eisenring eingelassen war.

„Ihre Falltür ist leider nicht allzu gut versteckt“, meinte Pimm zögerlich. „Der Teppichzipfel, den Sie hochgezogen haben, ist abgenutzter als der Rest, und der Umriss der Tür ist sichtbar, wenn man genau hinsieht. Wenn die Polizei jemals in dieses Haus eindringen sollte, fürchte ich, dass sie diese Tür entdecken könnte.“

Adams nickte. „Das mag sein. Aber die Polizei wird uns hier niemals belästigen. Mr. Value zahlt gutes Geld, um sicherzustellen, dass ich ungestört bleibe. Zwar gibt es einige zwielichtige Gestalten, die einbrechen und versuchen könnten, meine Geheimnisse zu aufzudecken, aber ...“ Er wies auf den Ring. „Versuchen Sie sie hochzuziehen, Lord Pembroke.“

Pimm ging in die Hocke, packte mit beiden Händen den Eisenring und zog. Er hätte ebenso gut versuchen können, den Tower von London hochzuheben. Tatsächlich kam ihm der Verdacht, dass Adams sich einen Scherz mit ihm erlaubte. „Ist dieser Ring etwa in einen Steinbrocken eingelassen?“

„Ganz und gar nicht.“ Adams griff hinunter. Mit einer Hand und offensichtlicher Leichtigkeit hob er die Falltür an. Als sie halb offen war, schaltete sich irgendein Mechanismus ein, der dafür sorgte, dass sie von allein offen blieb und eine Holztreppe freigab, die nach unten führte.

„Gibt es da einen Trick?“, fragte Pimm, während er hinunterspähte. „Irgendeinen verborgenen Schalter, mit dem man ein Schloss öffnen kann?“

„Vielleicht bin ich einfach nur sehr stark.“ Adams begann die Stufen hinunterzugehen, und nach kurzem Zögern folgte Pimm ihm. Mitgegangen, mitgefangen.

Am Fuß der kurzen Treppe legte Adams einen Schalter um. Der lange, niedrige Raum unter der Erde wurde hell, erleuchtet von einer Reihe elektrischer Laternen, deren Glühbirnen wie seltsame Früchte an Drähten über ihren Köpfen hingen und alle Dunkelheit vertrieben. Der seltsame Riese wies auf die Glühbirnen. „Das sind weißglühende Lampen, die auf einem Entwurf von Jean Eugène Robert-Houdin basieren, der ein großer Zauberer und passabler Erfinder war. Allerdings habe ich sie noch ein wenig verbessert, um die Lebensdauer dieser nützlichen Geräte zu verlängern.“

„Ihr Licht ist erstaunlich beständig“, sagte Pimm. „Die meisten elektrischen Lampen, die ich gesehen habe, flackern ein wenig, aber diese hier sind ja wie Miniatursonnen.“

„Das Licht kommt meiner Forschung zugute.“

Pimm sah sich im Laboratorium um. Es gab Regale voller rundlicher Tongefäße, einen langen Tisch, der mit Glaswaren bedeckt war, und einen riesigen Apothekerschrank, der die ganze Wand einnahm. Auf anderen Regalen standen unzählige Bücher und dazwischen Probengläser. Sie enthielten trübe Flüssigkeiten und biologische Kuriositäten, die er nur halb erkennen konnte. „Sie sind also Naturphilosoph, Sir?“

„Ich bin in erster Linie Anatom. Der menschliche Körper und seine Funktionsweise faszinieren mich schon lange. Mr. Value ist so freundlich, mir alle Leichen zu schicken, die er findet, damit ihr Unglück zumindest das Wissen der Menschheit erweitern kann.“ Adams ging zu einem Tisch, der mit einem Laken bedeckt war, und Pimm wappnete sich, als der Riese die Abdeckung beiseite zog.

Seit er mit seinem kriminologischen Hobby begonnen hatte, hatte er viele Leichen gesehen, von denen einige die Verletzungen schrecklicher Gewaltakte getragen hatten. Die arme Constance Trent war wohl die entsetzlichste gewesen. Allerdings hatte er auch schon Männer gesehen, denen man den Kopf mit einem Kaminbock eingeschlagen hatte, sowie einige durchgeschnittene Kehlen und Menschen, deren Gesichter in den letzten Grimassen eines Vergiftungstodes erstarrt waren.

Im Vergleich dazu erschütterte der Anblick der toten Frau auf dem Tisch ihn nur wenig. Sie war jung, hatte rotes Haar und Haut weiß wie Milch, und sie war nackt. Der letzte Punkt hätte ihm peinlich sein können, doch Pimm hatte schon vor lange Zeit gelernt, die Toten klinisch zu betrachten. Ihre Seelen waren fort und ihre Körper nur noch leere Hüllen. Sie verdienten zwar Respekt, bedurften aber nicht länger der Höflichkeiten, die er ihnen zu Lebzeiten hätte angedeihen lassen. Er zog instinktiv sein Taschentuch heraus, um es sich vor die Nase zu halten, doch die Leiche roch fast gar nicht. „Wie lange ist sie schon tot, Mr. Adams?“

„Sie wurde heute Morgen gefunden, auf einer Haustreppe in der St. James’s Street.“

Pimm knurrte. „Mein Club ist in dieser Straße. Ich hatte keine Ahnung, dass Value dort ein Etablissement unterhält.“

„Die Leitung soll absolut diskret sein.“

„Es ist ein recht weiter Weg, den man das tote Mädchen transportiert hat, da sie ja wahrscheinlich nicht in der Gegend gearbeitet hat. Da hat sich jemand wirklich angestrengt. ich bin mir sicher, dass der Mörder uns etwas sagen will.“ Pimm sah das Opfer prüfend an. „Das Mädchen ist schon fast einen ganzen Tag lang tot, und doch ist keinerlei Verwesung erkennbar. Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor?“

„Mr. Values Männer brachten sie in einer Kiste voll Eis. Zusätzlich verwende ich meinerseits gewisse konservierende Stoffe“, gab Adams zu. „Sie verlangsamen den Verfall, was mir die Arbeit angenehmer macht. Mein Beruf scheint Sie nicht zu beunruhigen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Die meisten Menschen finden ihn abstoßend.“

„Ich habe einen entfernten Verwandten, der Mediziner wurde. Er war das schwarze Schaf der Familie, zumindest bis ich kam. Er erzählte mir von seinen Forschungen, dass er Körper abkochte, um die Skelette freizulegen, und Kadaver sezierte. Er erklärte mir, die Forschung an Toten könne den Lebenden helfen und Leid mildern. Das scheint mir ein recht nobles Ziel zu sein, solange die armen Seelen, die untersucht werden, keine Familie haben, die ihre irdischen Überreste beansprucht. Auch wenn ich nicht glaube, dass Mr. Value sich um solche Feinheiten kümmert.“ Er warf einen Blick auf die leere weiße Maske des Riesen. „Was ist mit Ihnen? Ich möchte wetten, dass Sie nicht zum Lehrpersonal im St. Bartholomew’s gehören.“

„Ich habe meinen Beruf auf die alte Art erlernt, als Assistent eines Meisterchirurgen, als ich jünger war. Weder habe ich einen formalen Abschluss noch brauche ich einen. Ich bin damit zufrieden, meine eigenen Forschungen zu betreiben, und mein Gönner findet meine Arbeit nützlich genug, um sie mit Geldern zu unterstützen.“

„Sind Sie es gewesen, der die Wirkungskraft der Gewebeanziehung bei Opfern von Morbus Konstantin untersucht hat?“

Der Riese neigte lediglich den Kopf.

„Äußerst gescheit“, sagte Pimm. „Ich bewundere solche geistigen Leistungen. Wissen Sie, wofür Ihr Gönner Mr. Value Ihre Entdeckung verwendet hat?“ Er konnte den Anflug von Bitterkeit in seiner Stimme nicht unterdrücken.

„Die Wissenschaft ist ein Werkzeug, Lord Pembroke. Ich weiß, sie wird manchmal als Waffe verwendet. Aber ihre wahre moralische Orientierung ist vollkommen neutral. Der Stahlradscha zerquetscht seine Feinde mit dampfbetriebenen Automaten in Form von Kriegselefanten. Doch dieselben wissenschaftlichen Grundlagen treiben die Schiffe an, die die See befahren und den Handel an ferne Ufer tragen. Sie liefern die Energie für die Grabungsmaschinen, die sich in diesem Moment in die Erde unter dem Ärmelkanal fressen, um die Insel mit dem Kontinent zu verbinden. Dampfkraft ist nicht böse. Maschinen sind nicht böse. Nur ihr Verwendungszweck ist es manchmal.“

„Das ist eine interessante Sichtweise, Mr. Adams. Da wir uns schon mit dem Bösen beschäftigen, lassen Sie uns doch zu dem Mord zurückkehren. Was war nach Ihrer ärztlichen Ansicht die Todesursache? Das arme Mädchen hat keine sichtbaren Verletzungen.“

„Dieses Mal, denke ich, war es Gift. Vielleicht hat sie auch Äther oder andere Chemikalien eingeatmet. Manchmal erstickt der Mörder – vorausgesetzt, es ist derselbe Mörder – seine Opfer. Aber bei dieser hier sind keine Blutgefäße in den Augen geplatzt, wie es bei Erstickungstoden üblich ist, und sie hat keine Würgemale am Hals, wie man sie bei Erdrosselten findet.“ Er hielt inne. „Die Opfer, es sind derzeit fünf, weisen alle nur sehr leichte Verletzungen auf, und jedes ist makelloser als das vorige. Als Mr. Values Männer das erste Mädchen fanden, dachten sie, sie hätte bloß einen Herzstillstand gehabt. Obgleich niemand verstand, warum sie sich so weit von ihrem üblichen Viertel entfernt hatte, nur um auf den Stufen eines mechanischen Bordells tot umzufallen. Als dann eine Woche später ein weiteres Mädchen vor einem anderen Etablissement tot aufgefunden wurde, das ebenfalls Mr. Value gehört, nun ja. Das konnte kaum mehr ein Zufall sein.“

„Hmm.“ Pimm starrte in die leeren blauen Augen des unglücklichen Mädchens. „Wenn sie uns nur verraten könnte, was sie gesehen hat. Dem besten Zeugen eines Mordes kann man leider keine Fragen mehr stellen.“

„Das ist nicht zwangsläufig so“, sagte Mr. Adams. „Wenn ich ein Mordopfer gebracht bekäme, das, sagen wir, noch keine Stunde tot ist, könnte ich sie vielleicht dazu bringen, uns ein paar Fragen zu beantworten. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre das Gehirn wahrscheinlich zu stark beschädigt, als dass man es wiederbeleben könnte.“ Er zuckte die Achseln.

Pimm starrte ihn an. Das also war der Grund, weshalb Adams für jemanden wie Mr. Value arbeiten musste. Er war wahnsinnig. „Was Sie da beschreiben, ist unmöglich. Es ist Nekromantie.“

„Der Körper ist nur eine Maschine, Lord Pembroke. Ich werde mich nicht mit der Frage beschäftigen, ob der Mensch eine Seele hat. Aber er hat ein Gehirn, und dieses Gehirn kann uns die bevorzugten Wege und Bahnen zeigen, denen die Gedanken dieser Seelen gefolgt sind. Wenn nicht sogar noch mehr. Kurz nach dem Tod beginnen die Zellen zusammenzubrechen und zu verfallen, das stimmt. Doch wenn ich Zugriff auf das Gehirn hätte, wenn der Verfall noch nicht so weit fortgeschritten ist, wer weiß, welche Geheimnisse ich bergen könnte?“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Grenze zwischen Leben und Tod ist weniger deutlich, als man annehmen würde. Bringen Sie mir ein frisch verstorbenes Mädchen, und es könnte sein, dass sie Ihnen ihre Geheimnisse erzählt.“

Pimm schauderte. „Körper auseinander schneiden, um die Geheimnisse des Lebens zu erfahren. Das ist geschmacklos, Mr. Adams. Ich sehe, dass es einem höheren Ziel dient. Aber was Sie mir gerade beschrieben haben, das ist – ich möchte nichts dramatisieren, aber ich würde es als Blasphemie bezeichnen. Mit den Toten zu sprechen, ist sicherlich eine Beleidigung Gottes.“

Mr. Adams gluckste hinter seiner gleichgültigen Maske. „Haben Sie es noch nicht gehört, Sir? Der Mensch hat schon längst die Macht Gottes an sich gerissen. Wir haben das Feuer gestohlen, und wir schüren es immer höher. Wir haben vom Apfel der Erkenntnis gegessen und sind aus dem Garten Eden verbannt worden. Trotzdem kämpfen wir jeden Tag mit Zähnen und Klauen darum, ins verlorene Paradies zurückzukehren.“ Er nahm ein blankes Skalpell von seinem Werkzeugtablett. „Bringen Sie mir ein frisches Opfer, dann werden Sie sie vielleicht persönlich fragen können, wie das Paradies aussieht. Auch wenn die Antwort Ihnen vermutlich nicht gefallen wird.“

Pimm wandte sich ab, bevor Adams den ersten Schnitt machte.