Nachricht aus dem Untergrund
Pimm eilte seine Eingangstreppe hinauf und durch die Tür. Er hoffte, drinnen Freddy zu finden. Vielleicht durfte er sogar auf Ellies Anwesenheit hoffen? Doch die Wohnung war verlassen. Er seufzte und nahm die Gelegenheit wahr, den Flachmann wieder aufzufüllen, den er am Morgen geleert hatte. Er war gerade dabei, den Trichter wegzupacken, als es an die Tür klopfte.
„Einen Augenblick“, rief er, während er zur Tür ging. Er öffnete sie und sah einen schmutzigen Straßenjungen von neun oder zehn Jahren, der unbehaglich auf den Stufen stand. Sein Gewicht verlagerte er ständig nach vorn und nach hinten, als sei er im Begriff, Reißaus zu nehmen. „Sind Sie Halliday?“, nuschelte er.
„Der bin ich.“
„Mr. Adams schickt mich mit einer Nachricht.“ Der Blick des Jungen wanderte unruhig in alle Richtungen, als erwarte er, jeden Augenblick angegriffen zu werden.
„Tatsächlich? Was ist das für eine Nachricht?“
„Er meinte, Sie würden mir eine halbe Krone geben.“ Nun schaute der Junge ihn an, direkt und trotzig.
„Ich gebe dir einen halben Sovereign.“ Pimm nahm eine Münze aus der Tasche und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, außer Reichweite des Jungen. „Die Nachricht?“
Der Junge kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Anscheinend tat er das häufig, wenn er nervös war, jedenfalls sah die Lippe danach aus. Dann nickte er. „Er sagt, Sie sollen sofort zu ihm kommen. Er hat Neuigkeiten über jemanden, der Mr. O. heißt. Ich soll Ihnen den Weg hinein zeigen.“
„Ich denke, ich kenne den Weg.“, setzte Pimm an.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Nicht diesen Weg hinein, bestimmt nicht.“
„Das klingt unheilvoll“, meinte Pimm. Der Junge antwortete nicht, entweder weil er die Bemerkung nicht verstand, oder weil er sie keines Kommentars würdig erachtete. Pimm warf ihm die Münze zu, und der Jungen schnappte sie sich aus der Luft und ließ sie augenblicklich verschwinden.
„Führe mich, guter Mann.“
„Zu Fuß ist es verdammt weit“, sagte der Junge. „Können Sie uns eine Droschke mieten? Ich bin noch nie in einer gefahren, aber Sie sehen aus, als ob Sie’s sich leisten könnten.“
* * *
Der Junge brachte ihn schließlich in dieselbe heruntergekommene Gegend, die er schon zuvor besucht hatte. Doch als Pimm sich der Gasse nähern wollte, die zu Adams’ Laboratorium führte, schüttelte sein Begleiter den Kopf. „Da sind überall Steine und Schutt“, sagte er. „Zwei starke Männer haben mit Vorschlaghämmern ein paar Säulen umgehauen und eine ganze Wand ist umgefallen. Da ist alles dicht.“
„Weshalb?“, fragte Pimm.
Der Junge zuckte die Achseln mit der einfachen Beredsamkeit des Unwissenden, den es nicht sonderlich interessiert, ein Wissender zu werden. Stattdessen führte er Pimm durch ein Labyrinth aus schiefen Häusern und engen Gassen und schließlich in einen kleinen Hof hinter einigen Gebäuden mit abschreckenden Fassaden. Sie lagen nahe genug an Whitechapel, dass man den Gestank der grünlichen, alchemistischen Dämpfe riechen konnte, die durch die Lüftungsschächte der Kuppel entwichen.
Der Junge hob aus dem Müll eine lange Holzstange auf, steckte sie in ein Metallgitter am Boden und hievte das Gitter hoch. Der Müll rutschte beiseite, und zum Vorschein kam ein Loch, das ungefähr denselben Durchmesser hatte wie Pimm selbst. Eine Holzleiter führte hinunter. „Ich geh’ voran“, sagte der Junge und stieg hinab, während Pimm zusah, wie er im Dunkeln verschwand.
Das hier war zu aufwendig für einen bloßen Trick, um ihn auszurauben, urteilte Pimm und beschloss, dem Jungen zu folgen. Während er so weit hinabstieg, dass das Licht über ihnen zu einem fernen Kreis verblasste, wünschte er sich, er hätte geeignete Kleidung angezogen. Er war eher für ein geschäftliches Treffen als für einen Höhlenspaziergang gekleidet. Zumindest trug er anständiges Schuhwerk, aber als er den Fuß der Leiter erreichte und in etwas Breiiges trat, wünschte er sich, er hätte weniger anständige Schuhe angezogen.
Licht flammte auf, als der Junge eine Lampe anzündete. Sie war nicht alchemistisch, sondern lediglich ein Kerzenstummel, der auf einer Blechplatte mit einem Griff aus Draht steckte. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Pimm das alte Mauerwerk um sie herum. „Wir sind zuerst ein Abflussrohr hinuntergeklettert, aber jetzt sind wir in etwas Tieferes vorgedrungen, nicht wahr? War das hier einmal ein Keller?“
„Weiß nicht“, sagte der Junge. „Mr. Adams meint, London ist wie ein Abfallhaufen, lauter Zeugs, das auf anderes Zeugs geworfen wurde. Aber das andere Zeugs ist meistens nur noch mehr London, von ganz früher.“
„Das stimmt allerdings“, sagte Pimm und folgte dem flackernden Licht des Jungen durch die Finsternis. Sie gingen gebückt durch Löcher, die in Steinmauern geschlagen worden waren, und krochen – Pimm jedenfalls kroch – durch enge Tunnel mit schmutziger Decke. Schließlich, nachdem sie so oft abgebogen waren, dass Pimm schon lange nicht mehr wusste, wo er sich von der Oberfläche aus gesehen befand, stießen sie eine grob gezimmerte Tür auf und betraten einen Korridor. Über ihnen hingen elektrische Lampen an Drähten aufgereiht. Zerbrochene Ziegelsteine lagen überall auf dem Boden herum, und ein Vorschlaghammer lehnte an der Wand, als habe jemand gerade erst den Zugang freigeschlagen. „Adams’ Laboratorium?“, meinte Pimm. „Wie bemerkenswert!“
„Dann lass’ ich Sie mal alleine“, sagte der Junge und verschwand ohne weitere Abschiedsworte wieder im Tunnel, wobei er seine Lampe mit sich nahm.
„Warte!“, rief Pimm, doch der Junge kam nicht zurück. Pimm hatte versucht, stets darauf zu achten, wohin sie abbogen, doch er traute sich kaum zu, ohne Führer wieder den Weg hinaus zu finden. Am besten, er fand Adams. Vielleicht konnte dieser ihm eine Karte zeichnen, die ihn wieder an die Oberfläche führte, nachdem er Pimm seine Botschaft mitgeteilt hatte.
Pimm überprüfte seinen Gehstock, um sich zu vergewissern, dass er einsatzbereit war. Er klopfte seine Hosentaschen ab, um sicherzugehen, dass er eine Pistole dabeihatte sowie einige andere von Freddy entwickelte Gegenstände. Er hatte sie mitgenommen, falls Values Enttäuschung sich in Gewalt äußern würde. Adams hatte ihn nie bedroht, doch wer so leicht einen menschlichen Schädel knacken konnte, war gewiss nicht zu unterschätzen. „Adams?“, rief Pimm. „Ich habe Ihre Einladung erhalten.“
„Den Flur entlang, Mylord“, rief die heisere Stimme, und Pimm bewegte sich in die genannte Richtung. Er duckte sich, um durch einen Türrahmen zu gehen, der eigentlich eher ein notdürftig in die Wand geschlagenes Loch war. Dann betrat er den Hauptraum von Adams’ Laboratorium, der ihm wohlbekannt war, wenn auch auf dem Operationstisch heute Gott sei Dank keine Leiche lag. Pimm schielte hinüber zu dem Gehirn im Glas, das an seine gebogenen Rohre und Messinghalter angeschlossen war, und unterdrückte ein Schaudern. War das arme Ding noch immer bei Bewusstsein? Hatte die Frau nicht einen friedlichen Schlummer im Tod verdient, nachdem sie so viel gelitten hatte?
Adams humpelte hinter einem Regal voller großer Tontöpfe hervor, aus deren Deckeln Drähte entsprangen. Er zog sein verwundetes Bein hinter sich her und schien es mehr als sonst zu schonen, und als er den Kopf wandte, sah Pimm, dass er seine Maske abgelegt hatte.
Pimm starrte ihn an, und Adams hob die Hand, berührte sein Gesicht und zuckte zusammen. Zumindest glaubte Pimm, dass er das tat. Es war schwer zu sagen. „Verzeihung“, sagte Adams. „Ich verberge sogleich mein Gesicht.“
„Das ist nicht nötig, Sir“, sagte Pimm und nahm sich zusammen. „Das hier ist Ihr Haus, und Sie brauchen sich allein meinetwegen keinesfalls zu verstecken.“
„Nein, nein. Es ist mir lieber, wenn Sie sich meine Worte anhören, ohne dass meine Gestalt Sie ablenkt.“
Gewiss meinte er ‚Verunstaltung‘, dachte Pimm, doch er sagte es nicht. Adams nahm seine weiße Maske von einem langen Tisch und zog sie wieder auf, dann setzte er sich auf einen Hocker und forderte Pimm mit einer Geste auf, ebenfalls Platz zu nehmen. „Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte Adams. „Ich hatte befürchtet, dass Sie meiner Nachricht nicht mehr erhalten würden, ehe ich abreise.“
„Sie verlassen die Stadt, Sir?“, fragte Pimm.
Adams nickte. „Ich bin in dieser Stadt nicht mehr willkommen.“
Aha, dachte Pimm. Value hatte ungefähr das Gleiche gesagt. Kappte Oswald alle Verbindungen zu seinen wenig präsentablen Helfern? Wurden auch noch andere Dinge gekappt, beispielsweise Halsschlagadern?
„Es ist Zeit für mich, weiterzuziehen, sobald ich einige letzte Vorkehrungen getroffen habe. Doch ich dachte mir, dass ich Ihnen vor meinem Aufbruch noch einige Informationen zukommen lassen könnte, die in Ihrer Eigenschaft als Verbrechensermittler für Sie von Interesse sein könnten.“ Adams hustete, ein fürchterliches, kratzendes Geräusch, und hielt sich die Brust, als habe er dort Schmerzen. „Ah. Obwohl die Bezeichnung ‚Verbrechen‘ für solche Taten noch eine Untertreibung darstellt. Das, wovon ich sprechen will, ist nichts Geringeres als Hochverrat.“
Pimm beugte sich vor. „Wer ist denn der Verräter, wenn ich fragen darf?“
„Sie wissen, dass ich für Abel Value arbeite. Doch in Wirklichkeit sind Value und ich beide Angestellte eines anderen Mannes.“
„Bertram Oswald.“
Adams neigte den Kopf. „In der Tat. Sie sind ein scharfsinniger Ermittler. Was haben Sie über Oswald in Erfahrung gebracht?“
„Ich bin mir recht sicher, dass er an den mechanischen Bordellen beteiligt und möglicherweise selbst der Schöpfer der mechanischen Kurtisanen ist.“
„Das stimmt“, meinte Adams, und Pimm glaubte, in der Stimme des entstellten Riesen eine Spur von Belustigung zu hören. „Das mag skandalös sein, es ist jedoch kein Verbrechen.“
„Sicherlich auch kein Hochverrat“, stimmte Pimm ihm bei. „Ich habe wohlgemerkt keine Beweise, es ist nur etwas, worüber ich nachgedacht habe. Aber könnte Sir Bertram möglicherweise etwas damit zu tun gehabt haben, Morbus Konstantin zu entwickeln und in die Welt zu setzen?“
„Oh, das wäre nun wirklich ein Verbrechen, nicht wahr?“, meinte Adams. „Wenn Sie ein Gesetz finden könnten, das so etwas abdeckt. Die vorsätzliche Erschaffung und Verbreitung einer Seuche könnte mit, sagen wir, einer Massenvergiftung gleichgesetzt werden. Die Schwierigkeit läge darin, eine solche Tat nachzuweisen. Ich weiß, dass Oswalds Laboratorium und seine Originalproben bei einem Brand zerstört wurden, der durchaus nicht zufällig ausbrach. Nachdem die Seuche einmal entfesselt worden war und sich als ansteckend genug erwies, war es kaum vonnöten, seine Anlage zu unterhalten, um mehr zu produzieren. Was nicht bedeutet, dass er nicht einige Ampullen beiseite gelegt hat, falls er sie in Zukunft noch einmal benötigen sollte. Das Gift ist recht wirksam, wenn man es jemandem spritzt oder es ins Essen oder Trinken mischt, sodass es eingenommen wird.“
Pimm pfiff durch die Zähne. „Ist das möglich? Dass ein Mensch eine Seuche erschafft?“
„Die Natur tut es ebenfalls“, sagte Adams. „Ohne es auch nur zu wollen, durch eine Reihe geistloser Wiederholungen, die nicht einmal die Bezeichnung ‚Versuch und Irrtum‘ verdienen. Natürlich könnte ein Mann wie Oswald ein solches Problem in den Griff bekommen, wenn er seinen Intellekt darauf anwendet. Er konnte jedoch leider die Sterberate niemals so stark senken, wie er wünschte, und er hat auch nicht beabsichtigt, dass die Menschen während der Verwandlung sterben. Er wollte die Menschen lediglich ändern und herausfinden, was für eine Wirkung solche Verwandlungen auf die Gesellschaft haben würden. Eine so tiefgehende physische Veränderung konnte allerdings nicht bewirkt werden, ohne dass der eine oder andere dabei starb.“
„Seine erste Patientin war also Mabel Worth?“
„Jedenfalls die erste Patientin, die überlebte“, sagte Adams. „Gut gemacht. Sie sind ein kluger Mann.“ Pimm ärgerte es, dass sich der riesige Anatom so überrascht anhörte. „Stellen Sie sich vor, was Sie erreichen könnten, wenn Sie nicht den Alkohol Ihre Nerven betäuben ließen. Ich weiß nicht über alle Einzelheiten Bescheid, aber soweit ich gehört habe, trat Oswald an Mabel Worth heran und bot ihr an, sie zu einem Mann zu machen und sie zu finanzieren, wenn sie in weitere kriminelle Bereiche vorstoßen wollte. Im Gegenzug wollte er ihre illegalen Verbindungen nutzen. Mrs. Worth, schon bald Mr. Value, gestattete Oswald, die Prostituierten in seinen Diensten zu infizieren und verbreitete so die Krankheit in der gesamten Gesellschaft. Obwohl sich die Gesellschaft merkwürdig unbeeinflusst von den Veränderungen zeigt, welche die Krankheit bewirkt hat. Ich glaube, Oswald hat wesentlich größere gesellschaftliche Umwälzungen erwartet. Vielleicht sogar die plötzliche universale Erkenntnis, dass Männer und Frauen letztlich überhaupt nicht so verschieden sind, von den Geschlechtsorganen und gewissen anatomischen Unterschieden einmal abgesehen. Dass ein Geist nun einmal ein Geist ist, und dass das Geschlecht nicht notwendigerweise den Charakter bestimmt.“
„Ich bin entsetzt, in einigen Punkten Oswalds Meinung zu sein.“
„Selbst Wahnsinnige haben hin und wieder gute Einfälle“, sagte Adams. „Oswalds Problem ist, dass er die Menschen nicht versteht, nicht im Entferntesten. Er hat einige interessante Erkenntnisse über größere Systeme, aber wenn es um Individuen geht …“ Adams schüttelte den Kopf. „Er kann einfach nicht verstehen, was echte Menschen antreibt. Er betrachtet alles mit dem Verstand, und wenn die Welt sich nicht rational verhält, ist er völlig verwirrt. Oh, er weiß, dass Menschen Gefühle haben oder es zumindest vorgeben, aber er selbst fühlt nur wenige Emotionen. Oswald besitzt kein wirkliches Verständnis universeller menschlicher Beweggründe wie Gehässigkeit, Eifersucht, Wut, Großmut, Barmherzigkeit oder Liebe.“
„Da wir gerade von Liebe sprechen. Oswald hat Prinz Albert mit der Krankheit angesteckt, richtig?“
„Ah.“ Adam hob die Hände zu einem langsamen Klatschen. „Nun lassen wir die bloße Kriminalität hinter uns und kommen langsam zum Hochverrat, nicht wahr?“