Was folgt

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Sie fürchtete, dass Lord Pembroke sie erkennen könnte, und dieser Teil der Stadt war für Frauen alles andere als einladend, außer es waren Frauen von einer ganz bestimmten Sorte. Also legte Ellie erneut ihre Verkleidung an. Mr. James hatte widerwillig zugestimmt, dass sie die Kleidung und die restliche Ausstattung noch einige Tage lang behalten durfte. Er hatte sie auch mit einem Döschen Hautkleber versorgt, der ihr helfen sollte, ihren Schnurbart zu befestigen. Sie hatte sich in ihren Räumlichkeiten umgezogen. Ellie bewohnte ein kleines Apartment im Erdgeschoss eines Hauses, das sich in der Nähe des Charter House befand und ausschließlich von unverheirateten berufstätigen Frauen und deren verwitweter Vermieterin bewohnt wurde. Nachdem sie sich als Mr. Smythe verkleidet hatte, verließ sie hastig ihr Zimmer und eilte zur Haustür hinaus. Dabei hoffte sie, dass nicht gerade zufällig ein Nachbar hinübersehen und einen seltsamen Mann entdecken würde, der das Grundstück verließ. So etwas würde eine Menge schockiertes Gerede und einen Besuch von der Vermieterin nach sich ziehen. Vielleicht würde sie die Mieterin, der sie den Umgang mit seltsamen Männern am ehesten zutraute, sogar vor die Tür setzen.

Nachdem Ellie es ums Eck geschafft hatte, ohne dass sie irgendeinen erschrockenen Ruf gehört hätte, schritt sie selbstbewusster aus, bis sie einen Omnibus nehmen konnte. Sie schwang sich auf den Wagen und war entzückt, wie viel Bewegungsfreiheit ihr die Hosen ließen. Der Omnibus rumpelte die festgelegte Strecke entlang, während es dem jungen Fahrer an der Bremse vor der Maschine zu grauen schien, die er doch selbst steuerte. Ellie fuhr so nah an das Viertel heran, wie es mit dem Omnibus möglich war, und ging den restlichen Weg zu Fuß.

Ihr Erscheinungsbild war für diesen Stadtteil viel zu vornehm, und einige Arbeiter auf der Straße warfen ihr finstere Blicke zu. Aber andere Männerkleidung besaß sie nicht, und es kam ohnehin nicht selten vor, dass angesehene Männer in solchen Stadtteilen verbotene Vergnügungen suchten. Sie schlich die Straßen entlang, roch den Mief vom Fluss und wich den Scharen aus, die Waren an Menschen verkaufen wollten, die sich diese kaum leisten konnten. Im Vorbeigehen spähte sie in verschmierte Kneipenfenster. Als die Sonne langsam unterging und die Schatten, in denen sie sich verstecken konnte, immer länger wurden, begann sie sich weniger beobachtet und sicherer zu fühlen.

Ihr Kollege Barnard vom Argus hatte ihr gesagt, dass Abel Values unbestrittenes Territorium einen großen Teil von Alsatia umfasste, was sie nicht überraschte. Ellie fand es plausibel, dass die Morde an Values Angestellten hier passieren würden. In diesem Fall war vermutlich auch Lord Pembroke irgendwo in der Nähe, um die Gegend im Auge zu behalten, in der Hoffnung, den Mörder auf frischer Tat zu ertappen. Ellie wollte ihn gern interviewen, wenn er seine Angelegenheiten zu Ende geführt hatte, doch sie war nicht Reporterin geworden, um sich etwas diktieren zu lassen. Sie wollte vor Ort dabei sein, inmitten der Geschehnisse. Cooper hatte sie oft ermahnt – „Sehen Sie sich die Geschichte an, aber seien Sie nicht die Geschichte“ – und sie respektierte die Wahrheit, die in diesem Satz lag. Sie wollte sich nur die Geschichte aus allernächster Nähe ansehen.

Leider sah sie jedoch wenig Interessantes. Mehrere Frauen machten ihr Angebote, was zumindest bewies, dass ihr Verkleidung überzeugte. Doch sie lehnte stets dankend ab, ohne zu nahe heranzukommen. Falls Mr. Value Straßenwachen aufgestellt hatte, passten sie sich gut an die anderen Männer an, die aus den Kneipen getorkelt kamen oder im Schatten herumlungerten und die Betrunkenen misstrauisch beobachteten. Von einem Mord oder von Lord Pembroke war keine Spur zu sehen.

Der Abend wurde später, die Luft kühlte ab, und die schrecklich seltsamen Lichter am Himmel wallten und wogten wie unnatürliche Bänder. Ellie hatte Hunger und Durst, und ihre Füße schmerzten in den Männerschuhen, die ihr nicht recht passten. Sie beschloss, nach Hause zu gehen und zu schlafen. Sie musste am nächsten Morgen noch ihren Artikel über den Besuch im mechanischen Freudenhaus fertig schreiben. Plötzlich zerriss ein schriller Pfiff die Luft. Einige Leute sahen auf, runzelten die Stirn und kümmerten sich dann wieder um ihre eigenen Angelegenheiten, doch für Ellie klang das Geräusch wie ein Signal. Sie begann sich so lässig wie möglich in die Richtung zu bewegen, aus der das Pfeifen kam. Doch nach drei Pfiffen ertönte es kein weiteres Mal, und sie konnte seine Herkunft nicht genau bestimmen. Nach kurzem Zögern lief sie eine enge Gasse entlang, die mit zersplitterten Kisten vollgestellt war, und wo ein Abfallhaufen den süßlichen Geruch verrotteter Früchte verströmte. Ein Mann eilte durch die Gasse auf sie zu; er rannte fast. Ellie fiel auf, dass er einen sehr feinen, leuchtend grünen Mantel trug. Ein recht gewagter Farbton, doch im Halbdunkel war er schwer zu bestimmen. Sie bemerkte außerdem, dass sein Gesichtsausdruck verängstigt aussah. Der Mann schob sich an ihr vorbei, ohne langsamer zu gehen, und drückte sie dabei fast gegen eine Kiste. Ellie nahm ganz deutlich einen chemischen Geruch wahr, als er vorbeiging. Sie zögerte. Sollte sie lieber dem rennenden Mann folgen, oder war es klüger, nachzuforschen, wovor er davonrannte?

Rufe hallten aus der Richtung, aus der auch der rennende Mann gekommen war. Weil sie wusste, dass die Gasse bald in ein Straßengewirr überging, wo der Mann höchstwahrscheinlich schon nicht mehr auffindbar war, schlich Ellie den anderen Stimmen entgegen. Sie lugte kurz ums Eck, lange genug, um einen menschliche Körper auf den Pflastersteinen liegen zu sehen. Lord Pembroke hatte sich über die reglose Gestalt gebeugt und lauschte auf einen Herzschlag. Bei ihm waren zwei weitere Männer, die in ein ernstes Gespräch vertieft schienen.

Ellie wurde es kalt ums Herz, viel kälter als die klamme Luft, die vom Fluss hinüberwehte. Der Mann, der an ihr vorbeigeeilt war, war der Mörder. Sie war sich sicher. Würde sie ihn identifizieren können, wenn die Polizei sie dazu aufforderte? Sie hatte sein Gesicht kaum wahrgenommen, nur als blassen Fleck unter einem Hut. Er war glattrasiert gewesen und hatte pockennarbige Wangen gehabt. Darüber hinaus wäre es ihr allerdings schwergefallen, irgendwelche Erkennungsmerkmale zu nennen, obwohl er ihr vage bekannt vorgekommen war. Sie war unsicher, ob sie vortreten und sich Lord Pembroke zeigen sollte. Ihren Aufzug zu erklären, würde peinlich werden, doch es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Wenn sie etwas zur Ergreifung des Täters beitragen konnte, würde sie es tun. Andererseits standen die Männer, die Lord Pembroke begleiteten, vermutlich in Values Diensten. Abgebrühte Verbrecher, die es wahrscheinlich nicht schätzten, wenn irgendjemand Zeuge ihres Umgangs mit Lord Pembroke wurde. Es war schon für Lord Pembroke verfänglich genug, wenn sein Name mit dem eines Verbrechers wie Value in Verbindung gebracht würde. Aber würde es nicht auch Values Ruf schaden, als Mitarbeiter des großen Detektivs bekannt zu sein?

Ellie rechnete damit, dass Lord Pembroke die Polizei rufen würde, und überlegte, ob sie warten sollte, bis ein Polizeibeamter erschien, ehe sie sich offenbarte. Doch zu ihrer Überraschung hoben der Detektiv und der kräftige Kerl die tote Frau hoch, während der dritte Mann nutzlos herumstand, und begannen, sie nordwärts zu tragen. Die Zehen der Frau schleiften über den Boden, als sie sich in die ungefähre Richtung des verwüsteten Gebietes bewegten, das einmal Whitechapel gewesen war.

Das war interessant. Versuchten sie, das Verbrechen zu vertuschen? Wenn ja, weshalb? Oder war die Frau nur verletzt? Sie sah auf jeden Fall aus wie tot, aber sie mochte bloß in Ohnmacht gefallen oder durch einen Schlag auf den Kopf bewusstlos geworden sein. Ellie beschloss, ihnen in unauffälligem Abstand zu folgen.

Als hätte sie irgendeine andere Möglichkeit gehabt. Wie hätte sie jetzt gehen können, ohne Näheres herausgefunden zu haben? Eher würden ihr Flügel wachsen, denn Ellie war viel zu neugierig. Diese übermäßige Neugier hatte sie im Laufe der Jahre schon oft in Schwierigkeiten gebracht, doch noch viel öfter hatte sie ihr Freuden und Wunder beschert.

Nachdem sie einige Häuserblöcke weit gelaufen waren, blaffte der große Mann den kleineren an, der daraufhin die Schultern zuckte und in eine andere Richtung eilte. Ellie folgte weiterhin den anderen beiden. Lange ging es durch verschlungene Gassen, bis sie schließlich eine wirklich grässliche Gegend erreichten, die zwar nicht direkt gefährlich, aber fast völlig verlassen war. Kein vernünftiger Stadtbewohner hielt sich hier länger auf als nötig. Sie sah schiefe Speicher, in denen schon seit Jahren nichts mehr aufbewahrt wurde. Häuser mit eingestürzten Dächern, in denen verzweifelte Menschen wohnten, die für eine Unterkunft das Risiko eingingen, so nahe am zerstörten Gebiet von Whitechapel zu leben. Lord Pembroke hielt vor der Tür eines besonders schmalen Hauses an, das von zwei Lagerhäusern flankiert wurde, und beriet sich dort mit seinem Begleiter. Dann folgten sie weiter der Straße, umrundeten eine Ecke und verschwanden aus ihrem Blickfeld. Ellie ging ihnen nach, so unauffällig sie nur konnte. Trotzdem war sie sich der Blicke der Kinder bewusst, die als kleines Grüppchen auf den Stufen eines halbverfallenen Ziegelbaus auf der anderen Straßenseite hockten. Sie drückte sich gegen die Wand des Lagerhauses, schlich vorwärts und spähte ums Eck. Gerade verschwanden Pimm, sein kräftiger Partner und die anscheinend tote Frau in einem Eingang, der aussah wie eine Kellertür. Er wurde von einem zerlumpten Mann bewacht, der wohl entweder in Lord Pembrokes oder in Values Diensten stand. Waren sie dabei, die Leiche zu verstecken? Der Keller eines Gebäudes in nächster Nähe von Whitechapel war sicherlich ein geeigneter Ort dafür, doch warum wollten sie die Tote überhaupt verstecken?

Ellie beschloss, im Schatten auf der anderen Straßenseite Stellung zu beziehen und dort zu warten, bis Lord Pembroke wieder auftauchte. Falls der Eingang zum Keller irgendwann einmal unbewacht sein würde, könnte sie sich auch hinunter stehlen und selbst herausfinden, was da im Dunkeln lauerte. Vielleicht würde das, was sie dort fand, einige ihrer Fragen beantworten. Lord Pembroke, Value, Oswald, die mechanischen Kurtisanen, ermordete Mädchen – wie hingen all diese Dinge nur zusammen?

Ellie hatte das Gefühl, einen kurzen Blick auf etwas weit Größeres erhascht zu haben, als es zunächst den Anschein hatte – einen Berggipfel, der durch die Wolken brach, die zerklüftete Spitze eines Eisbergs, der auf der Meeresoberfläche zu sehen war. Dieses Gefühl hatte sie schon in viele große Geschichten hineingeführt. Cooper nannte es ihre „weibliche Intuition“, zwar nicht ohne ein gewisses Maß an Bewunderung, doch sie zog es vor, von journalistischem Instinkt zu sprechen.

Sie schlich über die Straße und fand einen geeigneten Hauseingang, wo sie sich unterstellen konnte. Die Tür hatte man ungeschickt mit Brettern verbarrikadiert, die rechtmäßigen Bewohner würden also wahrscheinlich nicht allzu bald zurückkommen. Im Vertrauen darauf, dass die Schatten sie ganz und gar verbergen würden, drückte Ellie sich mit dem Rücken gegen die zugenagelte Tür und konzentrierte sich darauf, die Gasse zu beobachten.

Nach wenigen Minuten erschien der große Mann wieder, der Lord Pembroke geholfen hatte, den Körper der Frau zu tragen. Er hielt kurz an, um mit dem Mann zu sprechen, der die Kellertür bewachte, und ging dann eilig seiner Wege. Ellie wurde nervös, während sie darauf wartete, dass Lord Pembroke herauskam, was er aber nicht tat. Aus zehn Minuten wurden fünfzehn, dann zwanzig, dann eine halbe Stunde und schließlich beinahe eine ganze Stunde. Ihr schmerzten die Füße, ihr Bein schlief immer wieder ein, und die Bandagen um ihre Brust juckten. Sie fürchtete, dass sie mit einem Krampf im Bein zusammenbrechen würde, falls sie in Gefahr geriet und rennen musste. Als sie das Stillstehen schließlich nicht mehr aushielt, trat sie aus dem Türrahmen heraus und schlängelte sich am Gebäude vorbei, bis die Tür und der Wächter nicht mehr zu sehen waren. Sie streckte die Arme über dem Kopf aus, beugte die Knie und drehte den Oberkörper, wobei sie zusammenzuckte, weil ihre Muskeln gegen die Dehnung protestierten. Sobald sie sich wieder wie eine lebendige Frau und nicht mehr wie eine halbgeschnitzte Statue fühlte, bewegte sie sich zurück zu ihrem Hauseingang.

Sie war kaum fünf Schritte gegangen, als etwas Scharfes und Spitzes sie in den Rücken stach, rechts von ihrer Wirbelsäule, direkt über ihrer Niere. „Na, endlich kommst du mal raus aus diesem Hauseingang“, zischte ihr eine Männerstimme ins Ohr. „Ich dachte schon, ich müsste ganz frech auf dich zugehen, um rauszukriegen, was du hier willst.“ Der Mann, der das Messer gegen sie hielt, pfiff, und der zerlumpte Wächter vom Ende der Gasse tauchte auf und trottete herüber.

„Wer ist das denn?“, sagte er.

„Ein Spion, aber ich weiß nicht, für wen oder warum“, sagte der Mann hinter ihr. Ellie drehte sich der Magen um, als sie seine Stimme erkannte. Es war „Crippler“ Crippen aus dem mechanischen Bordell. Vielleicht musste er zur Strafe in diesem heruntergekommenen Viertel Wache halten, weil Mr. Smythe ihm gestern entwischt war. Diesen Fehler hatte er nun wieder gut gemacht, auch wenn Ellie fürchtete, dass ihr das ganz und gar nicht gut tun würde. Crippen stieß sie mit dem Messer an, nicht so fest, dass er die Haut ritzte, aber doch fest genug, um sie an diese Möglichkeit zu erinnern. Ellie hoffte, dass das Messer Mr. James’ Mantel nicht beschädigt hatte. Einen Augenblick später wurde ihr klar, dass diese Hoffnung doch etwas lächerlich war. Der Mantel und der Mensch, der ihn trug, würden wahrscheinlich beide bald in der Themse versunken sein oder in einem dunklen Keller begraben liegen, zusammen mit mindestens einer weiteren Frauenleiche.

„Aber wir werden schon rausfinden, was er hier will, nicht wahr?“, sagte Crippen. „Die Leute beantworten mir meine Fragen immer gern, wenn sie hören, wie nett ich frage.“

Schritte erklangen auf den Pflastersteinen, als ein weiterer Mann aus der Gasse kam. Er blieb einige Fuß entfernt stehen, runzelte die Stirn und seufzte tief. „Meine Herren“, sagte Lord Pembroke. „Darf ich fragen, warum Sie meinen Assistenten bedrohen?“