Deduktion

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Eine Karte“, meinte Abel Value und rauchte mit nachdenklicher Miene seine Zigarette. Pimm war nicht begeistert davon, den Morgen im Büro dieses Mannes verbringen zu müssen, vor allem in Anbetracht der abscheulichen Kopfschmerzen, die er in der Nacht zuvor entwickelt hatte. Es wäre allerdings schlimmer gewesen, den Verbrecher wieder bei sich zu Hause zu haben. Abels momentaner Schlupfwinkel war ein kleiner Raum über einer Schusterwerkstatt, vollgestopft mit schwankenden Papierstapeln. Nur die Oberfläche seines Schreibtischs war merkwürdig sauber. Pimm fragte sich, welche Papiere wohl eilig beiseite gefegt und versteckt worden waren, ehe er gekommen war. In einer Ecke ragte Big Ben in die Höhe und schien gut ein Drittel des Raumes einzunehmen.

„Ich weiß nicht“, sagte Value. „Mit dieser Information könnte man mir schaden. In meiner Branche tut man so etwas nicht – jemandem, der Verbindungen zur Polizei hat, eine Karte zeichnen.“

„Sie wollten meine Hilfe“, sagte Pimm. „Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich nicht angemessen informiert werde. Wenn ich nicht weiß, wo Ihre weiblichen Angestellten ihr Gewerbe ausüben, wie soll ich dann verhindern, dass noch mehr von ihnen ein Leid geschieht?“

Value knurrte, griff hinter sich und fand einen zusammengerollten Stadtplan von London. „Das hier ist Stanfords Plan“, sagte er. „Kennen Sie ihn? Für Männer aus der Branche ist er unentbehrlich. Zeigt jede Bahnlinie und jede Straße.“ Er rollte die Karte aus, die fast den ganzen Tisch bedeckte. Pimms Interesse war geweckt, und er beugte sich widerwillig vor. Auf den ersten Blick schien die Karte nur ein Chaos aus Linien und Buchstaben darzustellen, doch das gekrümmte Band der Themse half ihm, sich zu orientieren. „Auf dem Papier sieht die Stadt so viel ordentlicher aus, als wenn man auf ihren Straßen unterwegs ist, nicht wahr? Aber sie ist immer noch ein Durcheinander von Straßen, die kreuz und quer in alle Richtungen führen. Die Gegenwart ist auf die Vergangenheit gebaut, während die Zukunft auf der Lauer liegt und darauf wartet, dass sie an die Reihe kommt. Ich liebe diese Stadt. Südlich des Flusses, in Southwark, habe ich natürlich geschäftliche Interessen. Ich habe auch ein paar Mädchen, die spät nachts im West End arbeiten. Am Leicester Square geht es manchmal hoch her, wissen Sie.“ Pimm, der dort auch schon mehr als einmal aus dem Varieté gestolpert war und sich mit viel Gin im Magen der lärmenden Menge angeschlossen hatte, nickte bloß. „Keine der Frauen ist jedoch in diesen Gebieten ermordet worden. Die, die gestorben sind, haben alle nördlich des Flusses gearbeitet.“ Er tippte die Karte an und zeigte auf eine alles andere als respektable Gegend, die Alsatia genannt wurde. Pimm war überrascht. Er hatte gehört, die Gegend sei sehr viel sicherer geworden, seit man vor einigen Jahren in der Nähe eine Polizeiwache aufgemacht hatte. Doch solche Verbesserungen waren vermutlich relativ.

Value fischte einen Shilling, einen Penny und ein paar Florine aus seiner Hosentasche und verstreute sie auf der Karte. Dann begann er sie mit wohlüberlegter Sorgfalt zu verteilen, wobei er sich tief über die komplizierte und detaillierte Karte beugte, um die Straßennamen lesen zu können. „Molly.“ Er legte einen Shilling hin. „Letitia.“ Einen Florin, vielleicht einen Zoll entfernt. „Juliet.“ Ein weiterer Florin. „Abigail, wir nannten sie ‚süße Abi‘. Man hätte sie für ein Chormädchen halten können, bis sie einem die Hand in die Hose steckte.“ Der Penny war für sie. „Schließlich die letzte, Theodosia, deren Leiche Sie heute gesehen haben.“ Der letzte Florin.

„Wann starb die Erste?“, fragte Pimm.

Value sah Ben an. Dieser sagte: „Vor siebenundzwanzig Tagen, M’lord.“

„Mr. Value. Fünf Morde in einem Monat? Jemand versucht, uns etwas mitzuteilen, und zwar äußerst vehement.“

„Ich kann nicht behaupten, dass mich die Botschaft interessiert. Ich will nur, dass die Morde aufhören. Können Sie dafür sorgen?“

„Haben Sie Männer abgestellt, um die Gegend zu überwachen?“

„Selbstverständlich. Aber die Mädchen ziehen mit ihren Männern los und suchen sich eine nette kleine Gasse. Wir können sie nicht immer alle im Auge behalten.“

„Wo haben Sie Ihre Wachleute platziert?“

„Natürlich in der Nähe der Tatorte.“

„In der Nähe des letzten Tatorts?“, sagte Pimm. „Durchaus verständlich, aber trotzdem erscheint es mir besser, ein zukünftiges Verbrechen verhindern zu wollen, als eines, das schon längst geschehen ist. Wir sollten die Wachen dort aufstellen, wo der Mörder als Nächstes zuschlägt.“

Value schnaubte. „Wie finden wir das bitte heraus? Sind Sie etwa auch noch ein Okkultist, Sir? Ein Wahrsager?“

„Wohl kaum. Aber der Mörder hat sich die ganze Zeit durch Alsatia am Fluss entlang nach Osten bewegt und ist mit jedem Mord ungefähr eine halbe Meile weitergerückt. Ich vermute, dass er sich immer gerade so weit bewegt, dass er außerhalb des überwachten Bereiches bleibt.“

Value beugte sich vor und runzelte die Stirn. „Aber woher weiß er, wo wir Wache halten?“

„Offenbar ist er mit Ihren Geschäften vertraut“, meinte Pimm. „Wie sonst erklären Sie sich, dass er fünf Morde begeht und jedes Mal eine von Ihren Huren tötet? Nicht alle Mädchen und Zuhälter in dieser Gegend arbeiten für Sie, doch nur Ihre Interessen wurden verletzt. Er wusste auch, wo er Ihre mechanischen Freudenhäuser finden konnte, obwohl deren Adressen nicht gerade hinausposaunt werden. Die meisten Männer, die solche Etablissements kennen, wissen vielleicht von einem oder zwei. Dieser Bursche kennt fünf, und ich bin ehrlich gesagt erstaunt, dass es so viele gibt. Es lässt doch darauf schließen, dass er gewisse vertrauliche Informationen besitzt.“

„Verrat“, murmelte Value.

„Gibt es in Ihrer Organisation irgendjemanden, gegen den Sie begründetes Misstrauen hegen?“

„Die, die mir Gründe für Misstrauen geben, bleiben nicht lange in meinen Diensten.“

Value zog an seiner Zigarre, kniff die Augen zusammen und blickte finster drein. „Meine Leute stehen Ihnen zur Verfügung, Halliday. Sagen Sie Ben, wo Sie Wachen haben wollen, und er wird dafür sorgen, dass sie aufgestellt werden.“

„Vielleicht sollten Sie Ihre Mädchen anweisen, heute Abend nicht zu arbeiten“, sagte Pimm. „Zu ihrer eigenen Sicherheit.“

Value schüttelte den Kopf. „Wenn sie kein Geld für mich verdienen, Halliday, interessiert mich ihre Sicherheit nicht.“

„Sie stellen Ihren eigenen Wohlstand über das Leben dieser Frauen?“

„Jeder stellt seinen persönlichen Vorteil über die Interessen dieses Abschaums, Halliday.“ Eine weitere Rauchwolke. „Ich mache mir nur nicht die Mühe, es zu leugnen.“

Pimm versuchte, seine Wut zu unterdrücken. Wenn er nur mit diesem Mann sprach, fühlte er sich schon schmutzig. „Ich habe Grund zu hoffen, dass solch eine herzlose Sichtweise bald nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme sein wird. Wir leben in einer neuen Welt, Value, einer Welt des Fortschritts und der wissenschaftlichen Entwicklung, die allen Menschen ein besseres Leben verspricht.“

Value brach in Gelächter aus. „Ben“, sagte er, „Erzähl dem Lord von deinem Cousin, der in einer von Sir Bertram Oswalds Fabriken gearbeitet hat.“

„Timothy, Sir“, sagte Ben mit unbeteiligter Stimme. „Zehn Jahre alt war er. Hat an den alchemistischen Lampen gearbeitet. Sie wissen schon, die mit den Glaskugeln und dem hübschen gelben Licht. Timothy hat eigentlich nur ausgeholfen, Glasscherben aufgefegt, Werkzeuge geholt und so. Vielleicht wissen Sie’s nicht, Sir, aber der Stoff, der diese Lampen erhellt, wird aus ganz verschiedenen Chemikalien hergestellt, die auf besondere Weise zusammengemischt werden. Die Chemikalie, die am Ende rauskommt, ist nicht so gefährlich. Man sollte sie nicht trinken, und sie stinkt ein wenig, aber man kann sie mit einem Lappen aufwischen und auf den Müll werfen, wenn einem mal eine Lampe zerbricht. Aber eine von den Chemikalien, die sie bei der Herstellung verwenden, ist ’ne entsetzlich starke Säure. So geschah es eines Tages, dass Timothy mit einem Auftrag durch die Fabrik rannte. Es ist furchtbar laut dort, und obwohl der Mann ‚Pass auf‘ gerufen hat, hat Timothy ihn nicht gehört. Ist einem Mann gegen die Beine geprallt, der gerade ein Glas von dieser Säure in ein Fass gießen wollte, und stattdessen hat Timothy die Säure abbekommen. Hat ihm ein Loch in den Schädel geätzt. Ich will gar nicht mehr drüber nachdenken. Er war ein guter Junge.“ Ben verstummte.

„Der Fortschritt ist schön für die, die seine Früchte genießen dürfen, Halliday“, sagte Value. „Weniger schön für die, die seine Wurzeln gießen. Die Maschinen verstümmeln ihnen öfter einmal die Hände, und der Dampf verbrennt ihnen das Gesicht, und am Ende haben sie mehr Löcher im Kopf als bei ihrer Geburt. Aber Sie und ich, wir sind von Gott gesegnet, nicht wahr? Ach, wie schön es ist, reich zu sein.“

Pimm erhob sich steif. „Ich werde versuchen, diesen Mörder zu fassen“, sagte er. „Danach möchte ich nichts weiter mit Ihnen zu tun haben.“

„Dann sollten Sie hoffen, dass ich Ihre Dienste nie wieder benötige“, entgegnete Value.

„Kommen Sie heute Nachmittag bei mir vorbei, Benjamin“, sagte Pimm. „Dann können wir uns besprechen.“

„Werd ich tun, Sir“, sagte Big Ben.

Pimm ging die enge Treppe hinunter, nickte dem Schuhmacher zu, der auf seiner Bank arbeitete, und trat hinaus auf die Straße. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag, und er lief in flottem Tempo vor sich hin, als eine junge Frau über die Straße geeilt kam, um ihn abzufangen. Sie trug ein strenges graues Kleid, das nicht sonderlich modisch geschnitten war. Ihr Gesicht sah jedoch jünger aus, als ihre Matronenkleidung vermuten ließ, und auf dem Hinterkopf trug sie eine schicke kleine Haube über einer Lockenpracht. „Entschuldigung“, sagte sie, und Pimm sah sich nach ihrer Begleitung um. Sie schien allein unterwegs zu sein, was es noch seltsamer machte, dass sie ihn auf der Straße ansprach.

„Miss? Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hoffe doch, Lord Pembroke. Verzeihen Sie mir, aber ich kenne Sie vom Argus, aus der Berichterstattung über den Fall Trent.“

Pimm nickte und zwang sich, zu lächeln. Sein Schädel dröhnte noch immer, und das Treffen mit Value hatte seine Laune auch nicht gebessert. „Oh, natürlich, mein Gesicht war in der Zeitung. Eigentlich recht dumm, schließlich habe ich nur Detective Whistler geholfen.“

Die Frau schlug die Hand vor den Mund. „Ach, du liebe Güte“, sagte sie. „Ich habe mich nicht klar ausgedrückt. Ich kenne ihr Gesicht nicht aus der Zeitung, sondern von ihren Besuchen im Büro des Argus. Mein Name ist Eleanor Skyler. Damals habe wir uns nicht getroffen, doch ich war gerade im Büro meines Chefredakteurs, und er hat Sie mir gezeigt.“

Pimms, musste seine Gedanken vollkommen neu ordnen. „Sie sind Journalistin, Miss?“ Sie konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, ein paar Jahre jünger als er. Natürlich gab es Frauen, die schrieben. Freddy hatte ein Abonnement für das „English Women’s Journal“ gehabt, ehe es Anfang des Jahres eingestellt worden war, und hatte nun Gefallen am „Alexandra Magazine“ und am „Englishwoman’s Journal“ gefunden. (Freddy, dessen Interesse an Frauen sich einst darauf beschränkt hatte, ob sie seine schlechten Manieren zugunsten seines Vermögens ignorieren würden, war in letzter Zeit eine heftige Verfechterin der Frauenrechte geworden.) Doch Pimm hatte nicht gewusst, dass auch der relativ biedere Argus eine Reporterin beschäftigte. Moment mal, Eleanor Skyler – ach ja, Mr. E. Skye. Mysteriöser Skye? Wie drollig.

„Ich bin tatsächlich Journalistin“, sagte sie. „Im Moment recherchiere ich für eine Geschichte, die auch sie betrifft, was mich sehr überrascht.“

Pimm schmunzelte so selbstironisch wie nur möglich. „Miss Skyler, natürlich helfe ich mit Freuden, wo ich kann. Doch leider war der Fall Trent mein letzter Vorstoß in die Verbrechensaufklärung.“

„Wirklich, Sir?“ Sie blinzelte, und er kam nicht umhin, ihre langen Wimpern zu bemerken. Ihre Augen waren so dunkelblau wie ein schottischer See an einem Sommertag, und was machte es schon, dass sie eine recht lange Nase hatte? Sie passte zu ihrem Gesicht. Sie neigte den Kopf in unschuldiger Neugier und meinte: „Darf ich fragen, warum Sie sich dann gerade mit dem berüchtigten Verbrecher Abel Value getroffen haben?“

Das Lächeln gefror auf Pimms Gesicht. „Ich weiß leider nicht, was Sie meinen.“

„Also bitte, Lord Pembroke. Ich habe nicht vor, Ihnen zu schaden. Wenn ich Sie in Verlegenheit bringen wollte, wäre ich Ihnen heimlich gefolgt.“

„Genau das haben Sie ja anscheinend getan.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Ich habe Mr. Value beobachtet. Stellen Sie sich vor, wie überrascht ich war, jemanden wie Sie zu sehen, der als Freund der Polizei bekannt ist. Jemanden, der die gestohlenen schwarzen Perlen der Baronin zurückgebracht hat. Jemanden, der bewiesen hat, dass das Gespenst von Hodgson Manor kein Geist, sondern ein Verrückter war, der jahrelang dort im Gemäuer versteckt lebte. Was hat ein Mann wie Sie mit Abel Value zu schaffen?“

Pimm war froh, dass er sich an diesem Morgen keinen Drink genehmigt hatte. Nun, einen hatte er gehabt, aber einer zählte kaum. Das war praktisch Medizin. Er brauchte jetzt seinen Verstand. „Miss, ich werde so tun als, ob ich Ihnen den Weg erkläre, einverstanden? Sie müssen nicken, sich bedanken und dann gehen.“

„Value lässt Sie also beobachten?“

Pimm war beeindruckt. Er zeigt die Straße hinunter und gestikulierte mit der anderen Hand. „Ich bin mir fast sicher. Ich nehme nicht an, dass Sie mich wirklich in Ruhe lassen werden?“

Ihr Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an, und es dauerte einen Moment bis Pimm begriff, dass sie das mit Absicht tat, um zu täuschen. Sie zeigte in die entgegengesetzte Richtung, neigte fragend den Kopf und sagte: „Nun, da ich weiß, dass es hier eine Geschichte gibt? Mit Sicherheit nicht. Wo und wann wollen wir uns treffen, um Ihre Situation zu besprechen?“

Es war wirklich äußerst elegant von ihr, die Drohung implizit zu machen, anstatt sie unverblümt auszusprechen. Wie unfein es gewesen wäre, wenn sie verlangt hätte, dass er sich mit ihr träfe, damit nicht am nächsten Tag ein Artikel im Argus erschiene, in dem Pimms Name mit bekannten Verbrechern in Verbindung gebracht würde.

„Treffen Sie mich in einer halben Stunde im St. James’ Park, in der Nähe der Ornithologischen Gesellschaft. Dort können wir uns hinsetzen und reden.“

„Dann werden Sie mir alles erzählen?“ Ihre Augen funkelten. Sie hatte offensichtlich großen Spaß an dieser Sache. Pimm konnte das nachempfinden, auch er fühlte sich am lebendigsten, wenn er jemandem auf der Spur war. Aber er war nicht allzu erfreut darüber, nun selbst der Gejagte zu sein.

„Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich kann.“

„Oh, ich muss also in diese Richtung“, sagte Miss Skyler laut. „Meine Güte, jedes Mal wenn ich meine Küche verlasse, bin ich so schrecklich orientierungslos.“ Sie machte einen Knicks, zwinkerte ihm zu – schockierend! – und ging ihrer Wege.

Pimm sah ihr nach. Oje, oje. Er hatte schon genug Sorgen. Er hatte einfach nicht die Zeit dafür, eine Frau so interessant zu finden.