Weibliche Künste
Zu Ellies Bekanntenkreis gehörte ein gewisser Schneider in der Savile Row, der neben seinen übrigen Geschäften auch die Männer versorgte, die sich durch Morbus Konstantin verwandelt hatten und diese Tatsache geheim halten wollten. Obwohl Mr. James wie die meisten Leute ein starkes Misstrauen gegenüber der Presse hegte (diese Einstellung wurde durch die Geschäfte in seinem Hinterzimmer, die geheim bleiben mussten, womöglich noch verstärkt), mochte er Ellie. Immerhin war sie einst mit seinem Neffen David verlobt gewesen, und deshalb duldete er ihre Neugierde. David hatte bei der britischen East India Company gearbeitet und war traurigerweise 1858 beim Indischen Aufstand umgekommen, als einer der schrecklichen Dampfelefanten des Stahlradschas ihn zerquetscht hatte. Sein Tod hatte Ellies Hoffnungen auf ein traditionelles Leben als Ehefrau und Mutter ein Ende gesetzt, und seitdem schrieb sie nicht mehr bloß nebenbei für Frauenzeitschriften, sondern war – sowohl aus finanzieller Not wie auch aus Leidenschaft – hauptberufliche Journalistin geworden.
Mr. James begrüßte sie freundlich, nahm sie bei der Hand und wies seinen Gesellen an, den Laden im Auge zu behalten. Er führte sie derweil durch die Werkstatt hinter dem Laden in ein kleines Büro, wo es einen Gaskocher und einen Wasserkessel gab, und machte sich daran, den Tee vorzubereiten. „Wie schön, Sie zu sehen, Eleanor“, sagte er und ordnete Tassen, Löffel und Zucker mit derselben Genauigkeit an, mit der er sonst die Maße für einen neuen Anzug nahm. „Wie geht es Ihnen?“
„Sehr gut, danke.“
„Führen Sie noch immer Ihre spitze Feder?“
„Das tue ich in der Tat, Onkel“, sagte sie und gebrauchte die vertrauliche Anrede, die er ihr vor langer Zeit angeboten hatte. „Ihre Hilfe bei dem Artikel, den ich letztes Jahr geschrieben habe, war ein großer Segen für meine Karriere.“ Mr. James hatte sie mit einigen seiner Kunden bekannt gemacht, die bereit gewesen waren, von ihren Erfahrungen mit Morbus Konstantin zu erzählen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Anonymität gewahrt wurde. Ellie hatte auch mit den Angehörigen der Betroffenen gesprochen, mit Müttern, Vätern, Kindern, Ehemännern und Ehefrauen. Der daraus entstandene Artikel war eine große Sensation geworden, und aus den Recherchen hatte Ellie viel Überraschendes erfahren. Zwar hatte sie gewusst, dass einige illustre Persönlichkeiten der Krankheit erlegen waren – jeder wusste über Prinz Albert Bescheid, der nun als Strafe für seine Untreue im Tower saß, und nur wenige hatte Mitleid mit ihm. Aber sie hatte auch zwei Parlamentsabgeordnete, einen Professor aus Oxford und einen Richter interviewt, die alle erfolgreich ihre Verwandlung verborgen hatten. Sie war weniger verwundert gewesen, dass ihnen diese Täuschung gelungen war. Ihre Körper hatten nicht so offensichtlich weibliche Formen angenommen wie die manch anderer, und Mr. James’ Können tat sein Übriges. Stattdessen hatte es sie vielmehr überrascht, zu erfahren, dass jeder dieser hochangesehenen Männer irgendwann einmal die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hatte, die ihn mit der Krankheit angesteckt hatte. Seitdem hatte sie sich einen gewissen Zynismus angewöhnt, der ihr in ihrer journalistischen Laufbahn gute Dienste geleistet hatte, obwohl er sie manchmal traurig stimmte.
Wie man herausgefunden hatte, war die Krankheit von einem gebürtigen Engländer namens Orlando ausgegangen, der zeitweise in Konstantinopel gelebt hatte. Es wurde vielfach angenommen, dass die Krankheit dort ihren Ursprung hatte und sich möglichweise unter den Eunuchen entwickelt hatte, daher „Morbus Konstantinopolis“. Orlando selbst war ein häufiger Gast in den gehobenen Bordellen Londons gewesen, wo er mehrere Prostituierte angesteckt hatte. Von dort hatte die Krankheit sich bis in überraschend hohe Gesellschaftsschichten verbreitet. Orlando hatte das Land schon vor langer Zeit verlassen, was zu schade war. Das wäre ein Interview geworden!
„Könnten Sie Ihre Wunder an mir wirken, Onkel?“, fragte Ellie und schob ihre Teetasse beiseite. „Könnten Sie mich in einen Mann verwandeln?“
Er runzelte die Stirn. „Eleanor, ich helfe bereitwillig, die Verkehrung der Natur zu verbergen, doch Sie bitten mich, bei einem Betrug behilflich zu sein – warum möchten Sie, dass ich so etwas tue?“
„Es ist für eine Geschichte“, sagte sie und wog ihre Worte sorgsam ab. Ihrem Onkel würde es nicht gefallen, dass sie eine verdeckte Exkursion in ein mechanisches Bordell plante. „Ich muss einen bestimmten Herrenclub betreten, ohne aufzufallen.“
„Sie haben nicht vor, irgendeinen Ruf zu ruinieren, oder?“
„Nein, Onkel, und keiner Ihrer … besonderen Kunden … hat damit zu tun.“ Zumindest das entsprach wohl der Wahrheit. Sie stand auf und drehte sich. „Was meinen Sie? Können Sie einen Mann aus mir machen?“
Er grunzte. „Ich glaube schon. Es gibt, ähm, gewisse Stoffwickel, die wir für Ihre …“, er zeigte vage auf seinen eigenen Oberkörper. „Ihre Hüften sind recht schmal. Ich habe einige Hosen, die Ihnen passen könnten, und Hemd und Weste. Glücklicherweise ist weite Kleidung derzeit in Mode. Ein falscher Schnurrbart noch … aber das Haar, Eleanor.“ Er schüttelte den Kopf. „Meine besonderen Kunden tragen natürlich Männerhaarschnitte, doch Sie …“
Eleanor berührte ihr Haar, das sie im Moment nach hinten gekämmt und in einem festen Knoten hochgesteckt trug. Wenn es nicht zusammengebunden war, fiel es ihr bis über die Schultern. „Dann schneide ich es eben ab“, meinte sie nach kurzem Nachdenken. „Bis es wieder nachgewachsen ist, trage ich eine Perücke, und ich habe eine Fanchon-Haube, die meinen Hinterkopf ohnehin fast vollständig bedeckt.“
„Ist Ihnen die Geschichte so wichtig, meine Liebe?“
„Das ist sie in der Tat, Onkel, und ich würde auf ewig in Ihrer Schuld stehen.“
„Das haben Sie schon das letzte Mal gesagt, als ich Ihnen bei einem Artikel geholfen habe.“
„Dann sind es zwei Ewigkeiten“, meinte Ellie, und er lachte.
* * *
Als Ellie sich im Spiegel betrachtete, sah sie so anders aus, dass sie es kaum glauben konnte. „Sie haben aus mir wirklich den Prototyp eines ehrbaren Geschäftsmannes gemacht, Onkel.“ Sie trug einen schwarzen Gehrock und darunter eine passende Weste, ein weißes Hemd und eine kunstvolle Krawatte. Ihre Hosen waren frisch gebügelt und hochtailliert, und die polierten Schuhe passten recht gut, nachdem Mr. James vorn etwas Papier hineingeschoben hatte. Er hatte ihr das Haar abgeschnitten und gestutzt, allerdings nicht ohne Seufzer und Klagen. Das übrige Haar hatte er nach hinten gekämmt und mit Pomade geglättet. Ellies Kopf fühlte sich mehrere Pfund leichter an, eine merkwürdige, aber nicht unangenehme Empfindung.
„Nun brauchen Sie noch einen Schnurrbart. Wenn ich genügend Zeit hätte, würde ich für Sie einen aus Ihrem eigenen Haar machen, aber das dauert mehrere Stunden, und Sie scheinen in Eile zu sein. Wir müssen also mit einem fertigen auskommen, auch wenn es mich schmerzt.“ Mr. James holte ein Tablett hervor, das mit schwarzem Samt ausgeschlagen war und auf dem gut zwanzig Schnurrbärte in verschiedenen Farben und Formen saßen. Sie waren mit Nadeln festgesteckt wie die Sammlerstücke eines Schmetterlingsforschers, und der Anblick hatte für Ellie etwas Surreales. Mr. James hielt ihr einige Schnurrbärte unter die Nase und schüttelte jedes Mal den Kopf, bis er schließlich meinte: „Ah. Dieser hier passt.“
Ellie beäugte den Schnurrbart misstrauisch. „Er ist … ein wenig groß, Onkel.“ Kunstvoll frisierte Bärte waren in Mode, seit sich die Krankheit verbreitet hatte. Doch Ellie befürchtete, dass eine dermaßen beeindruckende Zurschaustellung von Gesichtsbehaarung an ihr lächerlich aussehen könnte.
Er knurrte. „Ungarischer Stil, ja. Er hat gewisse Vorteile, da er einen größeren Teil Ihres Gesichts bedecken wird – Ihres schönen Gesichts“, fügte er schnell hinzu, „wenn Schönheit auch unter diesen Umständen nicht von Nutzen ist. Was noch wichtiger ist, er passt besser zu Ihrer Naturhaarfarbe als jeder andere.“ Mr. James erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Es ist ein recht … mächtiger Schnurrbart, der die Aufmerksamkeit von Ihren anderen Eigenschaften ablenken wird.“
„Dann werde ich also als Mann durchgehen?“
„Sie werden zumindest als ein Opfer von Morbus Konstantin durchgehen, das als Mann durchzugehen versucht. In der gehobenen Gesellschaft reicht das in der Regel aus.“
Hmm. Für ihre Zwecke war das etwas zu wenig. Männer, die sich in Frauen verwandelt hatten, weil sie mit Prostituierten geschlafen hatten, gehörten wahrscheinlich nicht zur Hauptkundschaft eines Bordells, selbst wenn es mechanische Prostituierte anbot. Aber wenn sie den richtigen Hut und genügend Selbstvertrauen hatte … „Ich danke Ihnen, Onkel. Wie bringt man ihn an?“
Mr. James trug eine klebrige, süßlich riechende Paste auf ihre Oberlippe auf und drückte vorsichtig den Schnurrbart dagegen. Er hielt ihn einige Augenblicke fest. Ellie fühlte sich, als ob ein Nagetier in ihrem Gesicht nisten wollte, doch sie konnte nicht ohne ihn gehen. „Ich danke Ihnen, Onkel.“
„Sie können mir am besten danken, indem Sie diese Gegenstände sobald wie möglich sauber und unbeschädigt wiederbringen. Gehen Sie gleich zu Ihrem mysteriösen Treffen?“
„Erst in ein oder zwei Stunden.“ Sie war sich nicht sicher, was das Protokoll vorschrieb, doch es war wohl sinnvoller, ein Bordell erst nach dem Abendessen aufzusuchen.
„Was werden Sie solange tun?“, fragte er.
Ellie schenkte ihm ein Lächeln und fragte sich, wie viel davon der schreckliche Schnurrbart verdeckte. „Ich denke, ich werde ein wenig spazieren gehen und herausfinden, wie es sich als Mann so lebt. Das könnte auch einen Artikel hergeben.“
„Ebenso gut könnte es einen Skandal auslösen.“
„Es gibt nichts Besseres, um Zeitungen zu verkaufen, Onkel.“