Die Ehe zweier Herren
Pembroke „Pimm“ Halliday erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen. Seine Kehle war so trocken wie mehrere Wochen altes Brot, und sein Atem duftete nach dem Erbrochenen von letzter Nacht. Er klingelte nach seinem Diener und vom Läuten der Glocke schien ihm schier der Schädel zu zerspringen. Doch der verfluchte Mensch erschien nicht mit der üblichen Tasse Tee und einem dienstbeflissenen Lächeln in der Tür. Er erschien überhaupt nicht.
Pimm quälte sich in seinen orientalischen Morgenmantel aus Seide. Es war ein bisschen wie ein Ringkampf mit einem Affen, was Pimm tatsächlich schon einmal erlebt hatte, allerdings nicht in nüchternem Zustand. Dann ging er sehr vorsichtig ins Empfangszimmer seines Apartments. Mit leiser Stimme fragte er: „Ransome, sind Sie da?“. Ein lauteres Rufen hätte nur einen weiteren Aufruhr in seinem Schädel verursacht.
„Ransome hat gekündigt“, sagte Freddy. Pimms ältester Freund und liebster Vertrauter saß in einer hellen Ecke des Zimmers und las Zeitung. Er hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, der leider an einem nicht verhangenen Fenster auf der Ostseite stand. „Hast du die neueste Ausgabe des ‚Argus‘ gesehen? Ach, natürlich nicht, du lagst ja noch im Bett. Dieser Artikel von Mr. E. Skye über die sogenannten Flussmonster, die angeblich in der Themse gesehen worden sind, und ein Zeuge betrunkener als der andere? Er ist entzückend. Obwohl ich wette, dass keiner der Zeugen betrunkener war als du letzte Nacht, mein Lieber. Du hättest ein Flussmonster nicht einmal bemerkt, wenn es durch deine Badewanne geschwommen wäre. Mr. Skyes Geschichte trifft genau den richtigen Ton, bissig und lustig zugleich, ohne in Respektlosigkeit abzugleiten. Er zitiert ausführlich die Flussarbeiter und lässt ihre eigenen Worte wirken. Im Journalismus ist sein Talent wirklich vergeudet, er sollte lieber …“
Pimms Verstand näherte sich langsam wieder seinem üblichen Effizienzgrad. „Ransome ist fort? Er hat gekündigt? Warum zum Teufel sollte er das tun?“ Pimm ließ sich in einem anderen Sessel nieder, so weit weg vom Licht wie nur möglich. Er blinzelte. Freddy schien nicht viel anzuhaben, und wenn das Gegenlicht nicht gewesen wäre, hätte er wohl schockierend viel Haut gezeigt. „Herrgott, Mann, bedecke dich! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich kein Bedürfnis habe, deine nackte Haut zu sehen?“
„Dann schau nicht hin.“ Freddy schlürfte unbeeindruckt seinen Tee und war dabei geschickt genug, Tasse, Zeitung und Zigarette gleichzeitig zu halten. „Wenn du ein Korsett anziehen müsstest, wann immer du das Haus verlässt, würdest du diese befreiten Augenblicke ebenso sehr genießen wie ich. Was Ransome angeht: Er sagte, er könne es einfach nicht mehr ertragen, ständig die Waschschüsseln von deinem Erbrochenen zu reinigen. Deshalb sprach er uns sein Bedauern aus. Ich sagte ihm, ich könne das recht gut verstehen und zahlte ihm seinen restlichen Monatslohn. Ich habe ihm versprochen, dass sein Zeugnis voll des Lobes sein würde, obwohl mir scheint, man hat ihm bereits eine neue Stellung angeboten.“
„Ich hoffe, du warst während des Gesprächs nicht so angezogen wie jetzt.“ Pimm wand sich in seinem Sessel und zog sich die Vorderseite seines Morgenmantels über den Kopf, um seine Augen zu bedecken. Oh, seliges Halbdunkel. „Oder sollte ich sagen, ausgezogen.“
„Wenn ich so angezogen gewesen wäre wie jetzt, wäre er bestimmt geblieben, meinst du nicht? Er hätte mir vermutlich seine Dienste angetragen. Er war doch immer so schockiert, dass ich keine Kammerzofe habe.“
„Nicht so schockiert wie die Kammerzofe, die käme, um dich zu bedienen“, sagte Pimm. „Hättest du nicht versuchen können, ihn umzustimmen? Ransome macht guten Tee und noch besseren Brandy mit Soda. So einen könnte ich jetzt gebrauchen. Welches von beiden ist mir gleich. Am liebsten beide.“ Er lugte kurz unter seinem Morgenmantel hervor. „Das war ein dezenter Wink.“
„In der Küche steht ein Wasserkessel. Bedien dich.“
„Du weißt, ich habe Angst vor diesem Herd. Zu meiner Zeit haben wir noch überm Feuer gekocht, nicht über eingefangenen Blitzen. Nun ja, man hat gekocht. Ich nicht.“
„Du bist ein Kind, Pimm. Wir leben in einem Zeitalter der Wunder. Elektrizität, Magnetismus und alchemistische Innovationen verwandeln die Welt.“
„Ja, und wofür verwendet man sie, hmm?“ Pimm nahm seine improvisierte Kopfbedeckung ab und warf Freddy seinen bösesten Blick zu. „Neue Methoden, Menschen umzubringen, und die Produktion von mechanischen Prostituierten.“
„Für meinen Geschmack hätte es die mechanischen Prostituierten ruhig schon ein bisschen früher geben können“, sagte Freddy eisig.
Pimm zuckte zusammen. „Sicher, natürlich, ich wollte nicht … Verzeihung.“ Zu Beginn ihrer gegenwärtigen Übereinkunft war Freddy recht oft in düsteren Stimmungen versunken. Manchmal hatten sie tagelang angedauert, mürrische Stürme, ab und zu erhellt vom heftigen Aufblitzen seines ungestümen Zorns. Doch im letzten Jahr hatte sich die Lage beruhigt, Freddy hatte sich an den neuen Status quo gewöhnt und war im Großen und Ganzen eindeutig zufrieden gewesen. Es war beeindruckend. Freddy hatte ein paar harte Jahre durchgemacht und war Opfer einer Krankheit, der Gesellschaft und seiner Familie geworden, alles auf einmal. Pimm war sich nicht sicher, ob er das auch nur halb so gut verkraftet hätte.
Als Freddy sich erhob und durchs Zimmer ging, konnte Pimm sich nicht zurückhalten. Er spähte unter dem Stoff hervor. Einen Augenblick später wandte er den Blick ab von den sahnig aufblitzenden Brüsten, den wohlgeformten Beinen, den geschmeidigen Muskeln der Schenkel. „Bitte zieh dir etwas an, ich ertrag es nicht!“
„Du bist ein Tier“, sagte Freddy amüsiert, während er einen Papierstapel sortierte, der auf dem Tisch neben der Tür lag. „Gut, dass ich nicht wirklich deine Frau bin, sonst könnte so eine Äußerung meine Gefühle verletzen.“
„Erzähl das mal der Kirche“, sagte Pimm. „In deren Augen sind wir jedenfalls verheiratet.“
„Abgesehen davon, dass ich vor dem Gesetz immer noch ein Mann bin, was dein Argument entkräftet.“
„Was die Kirche nicht weiß …“, brummte Pimm. Die Opfer des Morbus Konstantin hatten rein rechtlich gesehen das gleiche Geschlecht, das sie auch bei ihrer Geburt gehabt hatten. Sonst hätte es passieren können, dass eine Tochter sich in einen erstgeborenen Sohn verwandelte und statt ihrer jüngeren Brüder das väterliche Vermögen erbte. In der Praxis tauchten die meisten Opfer des Morbus Konstantin allerdings unter oder versuchten, sich als ihr ursprüngliches Geschlecht auszugeben. Manche wechselten wie Freddy einfach ihre Identität und fingen ein neues Leben an. Vor allem die Frauen, die in Männer verwandelt worden waren, bevorzugten diese Lösung, da sie ihnen allerhand neue Möglichkeiten eröffnete.
„Wir führen eine ziemlich unvernünftige Vernunftehe, was?“, sagte die Dame des Hauses. „Also gut, ich werde mir etwas anziehen.“ Freddy ging ins Schlafzimmer, ohne die Tür zu schließen, und rief heraus: „Ich gehe später zu einem Salon. Es kann sein, dass Christina Rossetti kommt. Ihre letzten Gedichte sind nicht ganz so gut wie ihr ‚Markt der Kobolde‘, aber trotzdem ist sie sehr unterhaltsam.“ Freddy kam zurück und sah im Gehen in einen Handspiegel.
„Ihr fortschrittlichen Frauen mit euren intellektuellen Betätigungen. So wie du im Keller an deinen Erfindungen herumwerkelst und hier oben deine Gedichte schreibst, bist du dein eigener Kunst- und Wissenschaftsverein.“ Pimm riskierte einen Blick auf seinen Freund, zuckte dann zurück und sah weg. „Du warst potthässlich, als du noch ein Mann warst, Freddy, mit einem Froschgesicht und Storchenbeinen. Wie kann es sein, dass du nach dem Fieber so, so …“
Freddy legte den Spiegel auf einem Beistelltisch ab und stellte sich vor Pimms Sessel, die Hände in den Hüften gestemmt. Er … sie … verflucht. Pimm versuchte, die Verwendung von Pronomen in Bezug auf diese Person, die genau genommen sein Ehepartner war, zu vermeiden. Die meisten Menschen sahen Freddy in der Tat als Frau. Allgemeiner war er unter dem Namen „Winifred Halliday, geborene Sandoval“ oder streng genommen als „Lady Pembroke“ bekannt. Freddy eine Sie zu nennen, erschien ihm immer natürlicher. Das machte ihre öffentlichen Auftritte weniger verwirrend, erschien jedoch in gewisser Weise auch wie ein Verrat an dem Mann, der schon so lange Pimms Freund war.
Freddy trug nun ein halb aufgeknöpftes und glücklicherweise zu großes Männerhemd und, wie es schien, nichts darunter. Ihr Haar war eine goldene Wolke, ihre Stupsnase hinreißend. Ihre vollen Lippen hatte sie gerade zu einem Schmollmund verzogen. „Wenn ich hässlicher wäre, würde ich einen falschen Schnurrbart tragen, meine Brüste mit Stoffstreifen abbinden und so als Mann durchgehen. Manche von diesen Mistkerlen hatten mit ihrer Umwandlung sehr viel mehr Glück.“ Freddy seufzte. „Obwohl ich vermutlich auch Glück hatte. Immerhin bin ich nicht gestorben oder mitten in der Veränderung steckengeblieben, wie es anderen passiert ist.“ Morbus Konstantin war unvorhersehbar und sein Verlauf konnte schrecklich sein, wenn auch manche der Ansicht waren, die Verwandlung in eine Frau sei mit Sicherheit schlimmer als der Tod. Da spricht jemand, der noch nie gestorben ist, dachte Pimm sich dabei immer.
„Du hast mir das Grauen erspart, jemand anderen heiraten zu müssen“, sagte Pimm. „Jemanden, der meiner Familie gepasst hätte.“ Pimms Heirat mit der mysteriösen Winifred Sandoval, einer Person ohne besonders namhafte Familie, hatte weder seine Tanten und Onkel noch seinen älteren Bruder, den Marquis, begeistert. Er hatte einen leidenschaftlichen Vortrag über wahre Liebe halten müssen, und sie hatten der Sache schließlich zugestimmt. Hauptsächlich, damit er endlich aufhörte, Liebesgedichte zu rezitieren. Die weisen Oberhäupter der Familie waren froh, dass er überhaupt irgendjemanden geheiratet hatte. Sie hofften wohl, dass er aufhören würde, seinen berühmten älteren Bruder öffentlich zu blamieren, nun, da er bei einer guten Frau zur Ruhe gekommen war.
Er hatte sie leider enttäuscht. Dass er trank, spielte und das Leben eines Bonvivants führte, störte sie nicht wirklich. Zu jeder guten Familie gehörten auch ein paar verlotterte Verschwender. Nein, was sie störte, war diese andere Sache. Sein Steckenpferd. Das Einzige, das er außer trinken und Whist spielen noch gut konnte. Die Sache, die seinen Namen in die Zeitungen brachte.
„Hmm“, machte Freddy. „Es ist gut zu wissen, dass ich irgendeiner armen Frau ein elendes Leben an deiner Seite erspart habe. Oh, es ist übrigens ein Brief für dich gekommen. Er liegt an der Tür. Ich hatte eigentlich vor, ihn dir zu bringen, aus Rücksicht auf deine offenkundigen Kopfschmerzen. Aber dann hast du meine Figur beleidigt und verlangt, dass ich mich bedecke.“
„Du hast eine gute Figur. Das ist ja das Problem.“ Pimm stand ächzend auf und ging zum Tisch neben der Tür, während Freddy wieder zurück in ihr Schlafzimmer tänzelte. Sein Ehepartner versuchte seit längerem, sich eine feminine Körperhaltung anzugewöhnen, doch sie ließ sich zu oft von Frauen aus der falschen Schicht unterrichten. Pimm sah die Post durch, bis er den Brief fand, den Freddy gemeint hatte. Er riss ihn auf und las die wenigen Zeilen, während er noch an der Tür stand. Dann zerknüllte er das Papier in seiner Faust. „Verdammt. Freddy!“, schrie er. „Wann ist dein Salon?“
„Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, obwohl ich davor eigentlich einkaufen gehen wollte.“
Freddy erschien, noch immer nur halbbekleidet. „Warum?“
„Abel Value will sich mit mir treffen.“
„Ach, du meine Güte.“ Freddy sah einen Augenblick an die Decke und summte ein bisschen. „Wann?“
„Er schlägt vor, dass wir uns zum Mittagessen treffen.“
„Verflixt. Dabei sollte doch heute ein Wissenschaftler zum Salon kommen, ein Experte für eine bestimmte Fischart, die manchmal das Geschlecht wechselt. Er hat einige interessante Ideen bezüglich der Ursache des Morbus Konstantin. Verseuchte Wasservorräte oder so etwas, glaube ich.“
„Besser als die Geistlichen, die behaupten, die Verwandlungen seien Gottesurteile, weil die Männer zu verweiblicht geworden seien und die Frau zu sehr wie Männer. Ehrlich gesagt bin ich nicht geeignet, irgendeine der beiden Theorien auf ihre Vorzüge hin zu beurteilen. Ich bin weder in der Biologie noch in der Theologie besonders bewandert. Ich denke, ich kann die Sache mit Value selbst regeln.“
„Papperlapapp“, sagte Freddy. „Wo triffst du ihn? Im Luna Club?“
„Ich will in meinem Club nicht mit ihm gesehen werden, und das weiß er. Er schlägt vor, dass wir uns hier treffen.“
Freddy nickte nachdenklich. „Hmm. Dein begehbarer Kleiderschrank und dieses Zimmer hier haben eine gemeinsame Wand, und mittags liegt diese Seite recht gut im Schatten. Ich kann zwei kleine Löcher bohren, eines zum Durchgucken und eines für den Lauf der Luftpistole. Sorg nur dafür, dass Mr. Value in diesem Stuhl sitzt, gegenüber vom Fenster. So scheint ihm die Sonne in den Augen, und ich kann ihn gut treffen, falls das erforderlich sein sollte.“
„Er wird vermutlich einen seiner Männer mitbringen“, sagte Pimm. „Der zweifellos auf Abruf vor der Tür herumlungern wird.“
„Dann also drei Löcher, und ich werde beide Pistolen vorbereiten.“
„Du bist die beste Ehefrau, die ein Mann sich wünschen kann“, sagte Pimm.
Sein Freund zeigte sein wölfisches Grinsen, zumindest das hatte sich durch seine Verwandlung vom Mann zur Frau nicht verändert. „In gewisser Hinsicht durchaus“, stimmte Freddy zu.