KAPITEL 121
Ich drehte mich um. Da stand Luc im blauen
Overall eines Höhlenforschers. Den gleichen hatte sein Vater auf
dem Foto in seinem Arbeitszimmer getragen. Er saß auf dem Boden,
von Sturmlaternen umgeben. Unbewaffnet. Unser Kampf fand auf einer
Ebene statt, die nichts mit Waffen, Blut und Gewalttätigkeit zu tun
hatte.
Es war der Kampf um die Letzten
Dinge.
Wir beide waren längst
tot.
Tot und begraben.
»Wie findest du mein Fresko?«,
fragte er. »Die Lukaspassion!«
Seine Stimme war zweideutig.
Sarkastisch und verzweifelt. Da stand der zerrissene Jugendliche
von Saint-Michel-de-Sèze wieder vor mir. Sensibel und
herrschsüchtig, aufgekratzt und gleichgültig.
»Ich hoffe, du hast begriffen,
wo wir sind. Eines Tages wird man sagen, dass diese Grotte für mich
die gleiche Bedeutung hatte wie der Mailänder Garten für Augustinus
oder Notre-Dame für Claudel. Der Schauplatz einer Bekehrung. In der
Tat, das Vorzimmer eines Mysteriums. Diese Nische war nur ein
Vorspiel zur wahren Finsternis.« Er deutete mit einem Zeigefinger
auf seine Schläfe. »Der Finsternis des Komas, in dem Er mich
abgeholt hat.«
Luc betrachtete das Fresko in
meinem Rücken einige Sekunden lang nachdenklich. Dann fuhr er
fort:
»Du musst dir zunächst meine
panische Angst während des Abstiegs vorstellen.« Er kicherte kurz
höhnisch. »Ich litt an Klaustrophobie. Mein Vater wusste das, und
trotzdem hat er mich in diese Höhle mitgenommen. Damit ich ein Mann
werde! Kannst du dir meine Panik, meine Verzweiflung ausmalen? Ich
war krank davon. Doch die echte Prüfung begann nach dem Einsturz.
Als mir klar wurde, dass ich mit dem Leichnam meines Vaters
eingemauert war.«
Es war vollkommen still. Kein
Plätschern und kein Rieseln. Ein neues Ökosystem, in dem eine
einlullende Wärme, eine merkwürdige Trockenheit herrschte.
»Komm«, sagte er im Aufstehen.
»Lass uns in den großen Saal gehen.«
Ich folgte ihm auf dem Fuß und
duckte mich unter dem niedrigen Gewölbe. Wir betraten eine riesige
Grotte. Den Ballsaal. Auf einem natürlichen schmalen Gang reihten
sich Lampen aneinander, die die Höhle erhellten. Gewaltige Säulen,
die das Gewölbe stützten, traten aus der Finsternis hervor. Gruppen
von Stalaktiten hingen von der Decke herab wie Kristalllüster. Die
Felswände waren pechschwarz und faltig. Ich hatte das Gefühl, eine
Kathedrale des Bösen zu bewundern, die sich vorzüglich für Lucs
Kult eignete.
Wir gingen den schmalen Steg im
Fels entlang. Auf vorspringenden Felsen unter uns verrieten
Gegenstände die Anwesenheit von Menschen. Ein Zelt, ein Rucksack,
ein Gaskocher. Alles, was man für einen längeren Aufenthalt in der
Höhle benötigte. Ganz offensichtlich kehrte Luc hin und wieder an
den Ort zurück, wo alles begonnen hatte.
»Setz dich. Die Aussicht von
hier ist herrlich.«
Ich setzte mich auf die
Brüstung und vermied es, den Abgrund zu meinen Füßen zu
betrachten.
»Spürst du die Wärme? Die
Braunkohle, Mat. Der Atem der Erde. Glaub mir, es hat nicht lange
gedauert, bis der Körper meines Vaters zu verwesen begann. Sein
aufgedunsener, zerplatzter Leib … Er hat mich nie mehr verlassen.
Als meine Lampe erlosch, blieben mir die Gerüche, die Gase, der
Tod. Ich war erleichtert, als ich den Verstand verlor. Hier, in der
Tiefe des Unbewussten, fand meine Initiation statt.«
»Was hast du gesehen?«
»Du ahnst es allmählich,
oder?«
»Das, was du unter Hypnose
erzählt hast?«
»Ja, ich habe mich von meinen
wahren Erinnerungen inspirieren lassen.«
»Wieso ausgerechnet ein Greis
mit leuchtenden Haaren?«
»Wir sind am Ende des Weges
angelangt, Mat, und du hast noch immer nichts begriffen.«
»Beantworte meine Frage. Wer
ist dieser alte Mann?«
»Es gibt keine Antwort. Man
muss sich vor einem Mysterium verneigen. Denk an deinen Glauben.
Könntest du ihn rational beschreiben? Könntest du ihn erklären? Und
doch hast du nie an der Existenz Gottes gezweifelt.«
»Und der Hölleneid?«
Luc lächelte.
»Nicht übersetzbar, weder in
Worten noch in Gedanken. Du stellst dir wahrscheinlich einen Pakt,
einen Vertrag vor, all diesen Hokuspokus wie bei Faust. Aber der
Hölleneid ist eine Erfahrung, die sich nicht in Worte fassen lässt.
Eine Kraft, die dich so sehr ausfüllt, dass sie das Einzige ist,
was dich am Leben hält. Als mich Satan gerettet hat, hat er nicht
den alten Luc gerettet. Er hat einen neuen Menschen
hervorgebracht.«
Ich meinte spöttisch:
»Du bist also nur ein
Lichtloser unter anderen?«
»Viel mehr als das, und das
weißt du. Ein Bote. Ein Gesandter. Ich schleiche mich in die Seele
der Menschen und verbreite Sein Wort. Ich gieße den Geist des
Teufels in die Menschen ein. Ich baue meine Legion auf!«
Fragen stürzten auf mich ein.
Ich wollte die ganze Geschichte wissen. Doch Luc kam mir zuvor,
indem er in amüsiertem Tonfall fragte:
»Erinnerst du dich an
Kurzef?«
»Unseren
Geschichtslehrer?«
»Er sagte immer: ›Die ersten
Schlachten schlägt man für sein Heimatland oder die Freiheit. Die
letzten für die Legende.‹ Das ist unsere letzte Schlacht, Mat. Die
Schlacht unserer schwarzen Legende. Wenn du die Wahrheit begreifst,
wirst du erkennen, dass ich dich geschaffen habe. Ich bin dein
einziger Lebensinhalt.«
»Erzähl mir alles, und lass
mich selbst urteilen.«
Luc lehnte seinen Kopf
zurück.
In teilnahmslosem, zerstreutem
Ton legte er seine Odyssee dar.
April 1978
Als das Kind aus dem Koma erwacht, ist Moritz
Beltreïn bei ihm. Der Arzt ist völlig aufgewühlt. Es ist sein
persönlicher Triumph, dass der elfjährige Luc, nachdem er bereits
klinisch tot war, wieder zum Leben erwacht. Es ist seine
Tollwutimpfung, sein Penizillin, seine Dreiertherapie. Die
Heldentat, die ihm einen Eintrag in den Annalen der
Medizingeschichte sichert.
Zwei Jahre lang beherbergt
Beltreïn Luc in seinem Haus in Lausanne, während er gleichzeitig
der trunksüchtigen Mutter regelmäßig Geld überweist. Er meldet Luc
in der Schule an, verköstigt und erzieht ihn. Aber vor allem fragt
er ihn aus.
Er möchte wissen, was das Kind
im Schattenreich gesehen hat.
Schon seit Jahren führt
Beltreïn ein Doppelleben. Der Alleinstehende, der nur für seinen
Beruf zu leben scheint, gilt als der perfekte Wissenschaftler. In
Wirklichkeit ist er ein skrupelloser Psychopath, dessen Denken um
das Böse und dessen Transzendenz kreist. Er ist überzeugt davon,
dass die Koma-Erfahrung eine Camera obscura
ist, in der Bilder aus einer anderen – positiven und negativen –
Welt sichtbar werden. Beltreïn ist fasziniert von der dunklen Seite
des Jenseits. Er will ein Pionier im Land Satans sein.
Aber Luc erinnert sich an
nichts. Dafür spricht sein Verhalten Bände. Er quält Tiere. Er hat
absonderliche sexuelle Neigungen. Er liebt die Einsamkeit. Luc ist
ein potenzieller Mörder. Eine tickende Zeitbombe. Beltreïn verfolgt
diese Wandlung mit leidenschaftlichem Interesse und fördert sie
nach Kräften – Luc ist der Bote der Finsternis, die dunkle Kraft,
die auf die Erde zurückgekehrt ist, um ihm die Augen zu
öffnen.
Eines Tages erinnert sich Luc
schließlich. Der Tunnel. Das rote Licht. Die glühende Eisschicht.
Der albinotische Greis. Beltreïn führt Protokoll, macht Aufnahmen
von dem Jungen, studiert ihn genau.
Luc ist sein
Versuchskaninchen.
Aber auch sein Erzähler, sein
Lotse, sein Homer.
Und schon bald sein
Meister.
Mit zwölf Jahren tötet Luc zum
Spaß den Hund von Beltreïn. Jetzt hat der Arzt keinen Zweifel mehr:
Das Kind ist tatsächlich ein Bote des Teufels. Er schwört ihm
Treue. Er ist bereit, seinen Befehlen zu gehorchen, die letztlich
nur den Willen »der Hölle« zum Ausdruck bringen.
1981
Beltreïn beschließt, Luc zu adoptieren – seine
Mutter ist wegen chronischen Alkoholismus in eine Anstalt
eingewiesen worden. Dann ändert er seine Meinung, denn er ahnt,
dass der Junge einen diskreten, anonymen Beistand brauchen wird. Er
wird ihn gegen die Gesetze, die Justiz, die ganze jämmerliche
Ordnung der Menschen beschützen.
Luc ist ein Monster.
Ein Gesandter des
Teufels.
Beltreïn wird sein Schatten,
sein Apostel, sein Beschützer sein.
Er meldet den Jungen in
Saint-Michel-de-Sèze an.
Luc lernt die katholische
Erziehung kennen. Er schleicht sich beim Feind ein und findet
Gefallen daran. Er lernt einen naiven und idealistischen jungen
Katholiken kennen – mich. »Ich habe dich ständig beobachtet«,
betont Luc, »und mit dir experimentiert.«
Das Böse in ihm wird immer
stärker. Das Töten von Tieren genügt ihm nicht mehr: Er beginnt,
Menschen zu opfern. Sobald sich ihm die Möglichkeit bietet, flieht
er aus Saint-Michel und streift durch die umliegenden Ortschaften
auf der Suche nach Opfern. Eines Tages begegnet er der neunjährigen
Cécilia Bloch. Er lockt sie in einen Wald und verbrennt sie bei
lebendigem Leib, indem er sie mit entflammbarem Aerosol
besprüht.
Cécilia Bloch.
Die Kleine, die ich nicht
vergessen konnte.
Das Verbrechen, das mir seit
zwanzig Jahren nachgeht. Luc Soubeyras hat den Mord begangen, mit
dem alles anfing. Lug und Trug, die mir zum Schicksal wurden. Ich
fühle mich mitgerissen von einem Schlammstrom und verliere den
Faden seiner Rede. Es bedarf einer übermenschlichen Anstrengung,
mich wieder auf seine Stimme zu konzentrieren.
In der Nacht, in der Cécilia
verbrennt, verschwindet Luc. Der Rektor des Kollegs verständigt
Beltreïn. Halb verrückt vor Angst, bricht der Arzt sofort auf und
durchkämmt die umliegenden Wälder: Er weiß, dass Luc die Wildnis,
die Finsternis und die Einsamkeit liebt. Seine Suche bleibt
erfolglos. Schließlich steigt er in die Genderer-Höhle hinab und
findet den Jungen völlig niedergeschlagen in der Bildergrotte.
Ausgehungert und verwirrt, gesteht Luc ihm die Tat, aber es ist zu
spät, um die Spuren zu beseitigen. Die Leiche ist bereits entdeckt.
Durch einen glücklichen Zufall fällt kein Verdacht auf Luc. Aber
wer würde auch schon einen Halbwüchsigen eines solchen Verbrechens
verdächtigen?
Die Jahre vergehen. Luc begeht
weitere Morde. Jedes Mal kümmert sich Beltreïn um die Entsorgung
der Leiche und um die Beseitigung der Spuren am Tatort. Luc ist
sein Lehrmeister und seine Kreatur zugleich.
Für den Jungen ist jedes
Verbrechen ein Übergangsritus.
Eine neue Windung der Schlange
vor der vollständigen Häutung.
1986
Luc zieht nach Paris. Er ist achtzehn. Er tötet
noch immer, sporadisch. Ohne roten Faden. Er hat die innere Logik
seines Schicksals noch nicht begriffen.
An seinem Geburtstag macht ihm
Beltreïn eine schreckliche Enthüllung. Luc ist nicht allein. Es
gibt weitere, ähnliche Fälle. Der Schweizer Arzt erzählt ihm von
den Lichtlosen, die er wissenschaftlich untersucht hat. Luc
begreift, dass er eine »Familie« hat. Er ahnt auch, dass er eine
größere Mission hat.
Nicht nur Böses zu tun, sondern
das Böse zu säen und zu fördern …
Weitere Lichtlose zu
erschaffen.
Zu einem Zentrum des negativen
Lichts zu werden.
1988
Beltreïn, mittlerweile Chefarzt an der
Universitätsklinik Lausanne, rettet ein weiteres Kind: Manon
Simonis. Schon am nächsten Tag vertraut ihm die völlig verstörte
Mutter an, das Kind sei vom Teufel besessen. Beltreïn redet ihr gut
zu, sagt sich aber, dass Manon vielleicht ebenfalls eine Lichtlose
sei. Er überredet Sylvie, nichts darüber verlauten zu lassen, dass
Manon überlebt hat. Unter einem Decknamen bringt er Manon in einem
Schweizer Pensionat unter und versucht die Geschichte von Luc zu
wiederholen.
Aber die Kleine zeigt keinerlei
Anzeichen einer Besessenheit, keine Spur zerstörerischer Impulse.
Beltreïn will nicht glauben, dass er sich geirrt hat. Manon ist aus
dem Totenreich zurückgekehrt. Der Teufel hat sie gezeichnet. Er
muss Geduld haben, der Drang zum Bösen wird sich später
offenbaren.
Dann wird er die Hochzeit des
Bösen besiegeln: Luc und Manon.
Während dieser Zeit setzt Luc
seine Lehre fort.
1991
Zuerst der Sudan, dann Vukovar.
In der belagerten Stadt ist die
Gewalt allgegenwärtig. Schwangere werden bei lebendigem Leib
verbrannt, Föten aus den Bäuchen der Mütter herausgeschnitten,
Kindern die Augen ausgestochen. Eine Litanei des Schreckens, in der
Luc schwelgt. Er nimmt an diesen Blutorgien teil. Ein Rausch, eine
grenzenlose Freude. Satan ist tatsächlich der Herr der Welt!
Luc kehrt nach Afrika zurück.
Nach der Ermordung von Samuel K. Doe hält er sich für einige Monate
in Liberia auf. Dort findet er Gefallen daran, sich zu verkleiden.
Er mischt sich unter die maskierten Killer. Mit einer Hexen- oder
Zombiemaske auf dem Gesicht tötet, vergewaltigt und plündert
er.
»Legion ist mein Name, denn wir
sind viele.«
1992
Erneute Wandlung. Luc wird Polizist. Ungestraft
verbreitet er Angst und Schrecken, fördert Korruption und sät
Gewalt. Manchmal leitet er die Ermittlungen in einem Verbrechen,
das er selbst begangen hat. Dann wieder verfolgt er Konkurrenten –
Mörder. Wenn sie mittelmäßig sind, verhaftet er sie. Wenn sie
irgendeine besondere Begabung, eine originelle Seite haben, lässt
er sie laufen. Es ist eine Zeit des Glücks. Luc hat die Fäden in
der Hand. Er unterwandert das Justizsystem von innen. Er ist in
einer äußerst günstigen Lage, um zu betrügen, zu stehlen, zu töten
und die menschliche Zivilisation auszuhöhlen.
Er ist zugleich der Geist des
Teufels und sein Werkzeug.
Lucs Heirat gehört ebenso zum
Plan wie die Zeugung der beiden Kinder. Eine perfekte neue Maske.
Wer wird schon einen rechtschaffenen Familienvater, einen
unbestechlichen Polizisten und praktizierenden Katholiken
verdächtigen?
Aber Luc hat sein Projekt – die
Erschaffung von Lichtlosen – nicht vergessen.
Mitte der achtziger Jahre hört
Beltreïn von der Schwarzen Iboga. Er kennt bereits die chemischen
Substanzen, die todesähnliche Zustände herbeiführen können, aber
die Eigenschaften der afrikanischen Pflanze hat er bislang nicht
erforscht. Beltreïn informiert sich in Paris. Er taucht in den
afrikanischen Kosmos ein. Er lernt Massine Larfaoui kennen, der ihm
die psychoaktive Pflanze besorgt.
Ohne zu zögern, injiziert sich
Luc das Gift, doch das Ergebnis enttäuscht ihn. Die Schwarze Iboga
hält nicht, was sie verspricht. Der von ihr erzeugte Rausch reicht
nicht annähernd an das heran, was er auf dem Grund der Höhle erlebt
hat. Allerdings kann ihm die Wurzel dabei helfen, seine Lichtlosen
»vorzubereiten«.
April 1999
Beltreïn wird ans Krankenbett eines Mannes in
Estland gerufen, der wie durch ein Wunder überlebt hat: Raimo
Rihiimäki. Der Fall ist ideal. Ein junger Gothic-Musiker, der eine
Passion für satanistischen Rock hat und total stoned ist. Sein
Vater, ein Säufer, hat versucht, ihn an Bord seines Fischkutters
umzubringen.
Luc stößt in Tallinn zu
Beltreïn. Raimo ist noch im Krankenhaus. Schon in der ersten Nacht
verabreicht ihm Beltreïn das afrikanische Produkt, das er mit
anderen psychotropen Substanzen kombiniert hat. Der Este begibt
sich auf seine Reise. Er verlässt seinen Körper, sieht den Tunnel,
die rötliche Finsternis, bleibt jedoch halb bei Bewusstsein.
Dann taucht Luc im Zimmer auf.
Er rutscht auf den Knien und hat sich als kleiner Junge verkleidet.
Er hat sich eine von Kratzern und Schnitten übersäte, bluttriefende
Maske gebastelt. Raimo ist entsetzt, aber auch fasziniert. Luc
spricht mit ihm. Raimo hängt wie gebannt an seinen Lippen. Der
Hölleneid nach Luc Soubeyras …
Als der Musiker aus dem
Krankenhaus entlassen wird, ist er fest davon überzeugt, im Namen
des Teufels zu handeln. Er muss fortan Unheil und Verderben
stiften. Gleichzeitig kümmern sich Luc und Beltreïn um Raimos
Vater. Luc hat ein »Behandlungsprotokoll« entwickelt. Fasziniert
vom Phänomen der Verwesung, versetzt er den Körper seines Opfers
gezielt in Fäulnis. Mithilfe seines Mentors bringt er über Kanülen
Säuren und Insekten in den Körper ein und ergötzt sich am Anblick
des zerfallenden und aufgrund der lumineszierenden Flechten, mit
denen er den Bauchraum ausgestopft hat, von innen leuchtenden
Kadavers. Er zerfleischt die Muskeln mit den Fangzähnen eines
Raubtiers. Er schneidet dem alten Mann die Zunge heraus.
Luc ist Satan, Beelzebub und
Luzifer in einem.
Er hat seine Methode
gefunden.
Der Modus Operandi, der ihn in
einen Rausch der Lust versetzt.
April 2000
Beltreïn informiert Luc über weitere Fälle,
darunter den von Agostina. Er tritt immer häufiger im Mummenschanz
auf, und die Morde werden immer raffinierter. Luc verbreitet
Schrecken und Fäulnis auf Erden. Er ist Pazuzu, der die Erde mit
Übeln und Plagen heimsucht.
Es ist Zeit für die Vereinigung
mit seiner »Braut«.
2002
Um das Ereignis zu würdigen, beschließen Luc und
Beltreïn, zunächst Manon zu rächen. Luc opfert Sylvie in einer
Scheune im Jura. Ihr Martyrium dauert eine Woche. Dann erscheint er
vor Manon in Gestalt einer gehäuteten Muskelfigur. Aber der
gewünschte Erfolg bleibt aus. Trotz der Injektionen, trotz der
theatralischen Auftritte von Luc erinnert sich die Frau nicht an
seine »Besuche«.
Manon ist für den Teufel
einfach nicht empfänglich.
Sie wird niemals eine Lichtlose
werden.
In diesem Widerstand sieht Luc
ein Zeichen. Es ist Zeit, den ersten Zyklus seines Werks zu
vollenden. Zeit, Manon auszuschalten. Zeit auch, seine erste
Charaktermaske abzulegen – die des verheirateten bürgerlichen
Polizisten und Vaters zweier Kinder. Luc beschließt, seine Familie
auszulöschen und den Verdacht auf Manon zu lenken. Er beschließt
auch, seinem »Apostel«, seinem positiven Double, die Größe seiner
Herrschaft zu enthüllen …
»Du bist immer Erzengel Michael
gewesen«, murmelte Luc. »Ich, der Engel des Bösen, brauchte einen
Erzengel des Guten.«
»Ich war dir keine
Hilfe.«
»Du irrst dich. Das Böse
existiert in seiner ganzen Erhabenheit erst dann, wenn es über das
Gute triumphiert. Ich wollte, dass du mit der Wirklichkeit des
Teufels – seiner Intelligenz – konfrontiert bist. Du warst perfekt.
Du bist meinem Plan Schritt für Schritt gefolgt und hast das ganze
Ausmaß meiner Macht ermessen. Ich war deine Apokalypse, und du
warst mein Sieg über Gott.«
Die Offenbarungen Lucs
bestätigten mir, was ich sowieso wusste. Luc Soubeyras und Moritz
Beltreïn, zwei Psychopathen, die Gefangene ihrer Wahnideen waren
und den Weg blutrünstiger Gewalt eingeschlagen hatten.
Aber es gab Details, die ich
unbedingt wissen wollte.
Wie immer dieses Bekenntnis
ausgehen würde, ich wollte völlige Klarheit haben.
»Dieser Selbstmordversuch«,
sagte ich, »war doch ziemlich gewagt, oder?«
»Der war nur vorgetäuscht. In
Vernay war Beltreïn bei mir. Er hat mir Pentotal injiziert, um mich
in ein künstliches Koma zu versetzen. Später, im Hôtel-Dieu, war er
anwesend und überwachte sämtliche Medikamente, die ich bekam. Und
er hat mich zum richtigen Zeitpunkt aufgeweckt.«
Das war so offenkundig, dass
ich es mir verübelte, nicht eher daran gedacht zu haben. Ein
Spezialist wie Beltreïn konnte alles simulieren, alles
organisieren. Ein vorgetäuschter Suizid und ein reversibles
Koma.
»Woher wusstest du, wann der
richtige Zeitpunkt war, um wieder aufzuwachen?«
»Du hast das Signal gegeben.
Der Tag, an dem du an Beltreïns Tür geläutet hast. Das bedeutete,
dass du herausgefunden hattest, dass Manon am Leben war. Du warst
kurz vor dem Ziel. Ich konnte wiedererwachen, um den letzten Akt zu
spielen. Meine Besessenheit vortäuschen und Manon den Mord an ihrer
Mutter in die Schuhe schieben. Sie war eine von uns. Sie war
schuldig! Ich wusste, dass Manon schließlich verhaftet würde. Dass
sie ihren Hass auf mich herausschreien würde. Ich musste nur noch
meine Familie auslöschen und ihr dann den Dreifachmord anhängen.
Die Sache würde sich von selbst erledigen.«
»Und wie hast du die Leichen
tiefgekühlt?«
»Du bist ein guter Polizist,
Mat. Ich wusste, dass du auch diesen Trick durchschauen würdest. Im
Keller meiner Wohnung steht eine große Gefriertruhe. Ich musste die
Leichen nur nach unten schaffen. Ich habe daran gedacht, auch ihr
Blut aufzufangen und es einzufrieren, für eine perfekte
Inszenierung am Tatort. Aber auf eine Sache bin ich wirklich stolz:
auf die Fingerabdrücke. Beltreïn hatte eine haftende Matrize mit
den Fingerabdrücken Manons angefertigt. Ich musste damit nur ein
wenig in der Wohnung herumstempeln. Die gleiche Technik hatte ich
schon bei Agostina am Tatort angewandt, einer verlassenen
Baustelle.«
»Du bist ein Monster!«
»Das solltest du aus deinen
Ermittlungen gelernt haben, Mat. Du beginnst erst die Kräfte, die
hier am Werk sind, zu ermessen! Eure erbärmliche Logik trifft nicht
auf mich zu!« Mit einem Mal wurde er ruhiger und fuhr fort: »Die
Tiefkühltechnik hatte zwei Vorteile. Sie lieferte mir ein Alibi,
aber sie war auch wie eine Signatur. Satan hält sich immer an seine
Regeln. Das beherzigte auch Beltreïn, als er Sarrazin umbrachte.
Man musste den Leichnam manipulieren, den natürlichen
Verfallsprozess stören.«
In diesem Augenblick bemerkte
ich ein verhängnisvolles Detail. Luc hielt jetzt eine automatische
Pistole in der Hand. Wir kehrten also zu ganz alltäglichen
Kräfteverhältnissen zurück. Ich würde keine Chance haben, meine
Waffe zu ziehen, bevor er abdrückte. Sobald ich alles wüsste, die
ganze Größe seines »Werks« bewundert hätte, würde mich Luc
erschießen.
Eine letzte Frage – weniger um
Zeit zu gewinnen, als um reinen Tisch zu machen:
»Larfaoui?«
»Ein Kollateralschaden.
Beltreïn kaufte immer mehr Iboga bei ihm. Diese Bestellungen haben
den Kabylen stutzig gemacht. Er ist Beltreïn bis nach Lausanne
gefolgt und hat herausgefunden, dass er Arzt war. Er glaubte,
Beltreïn würde die Schwarze Iboga für verbotene Experimente an
seinen Patienten verwenden. Er wollte ihn erpressen. Er irrte sich
natürlich, aber wir mussten einen solchen Schnüffler aus dem
Verkehr ziehen. Deshalb habe ich ihn ausgeschaltet.«
»In der Nacht, in der Larfaoui
erschossen wurde, war er nicht allein. Eine Prostituierte war bei
ihm. Sie hat dich gesehen. Sie hat immer von einem Priester
gesprochen.«
»Ich mochte diese Idee: das
römische Habit anziehen, um Blut zu vergießen. Ich musste sie kurz
danach erschießen.«
Luc hob den Hahn seiner Waffe.
Ein letzter Versuch:
»Wenn ich dein Zeuge bin,
weshalb willst du mich dann umbringen? Ich kann dein Wort nicht
mehr in die Welt tragen.«
»Wenn das Bild im Spiegel
perfekt ist, ist es Zeit, den Spiegel zu zertrümmern.«
»Aber niemand wird je deine
Geschichte erfahren!«
»Unser Kampfplatz liegt in
einer anderen Dimension, Mat. Du bist der Stellvertreter Gottes.
Ich bin der Repräsentant des Teufels. Sie sind unsere einzigen
Zuschauer.«
»Was wirst du … danach …
tun?«
»Ich werde weitermachen. Ich
werde mich in Seelen einschleichen, ich werde neue Diener meines
Herrn rekrutieren … Andere Masken erwarten mich, andere Methoden.
Die einzige Reise, die wirklich zählt, ist die Reise in die
Hölle.«
Luc stand auf und richtete
seine Waffe auf mich. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meine Glock
in der Hand hatte. Wann hatte er sie mir entwendet? Er setzte mir
die Mündung an die Schläfe: Mathieu Durey, der sich mit seiner
Dienstwaffe erschoss. Wäre es nicht völlig verständlich nach dem
Fiasko meiner Ermittlungsarbeit, dem Tod Manons und dem Blutbad an
der Familie Soubeyras?
»Adios, Erzengel
Michael.«
Der Knall ging mir durch Mark
und Bein. Ein heftiger Schmerz, dann das Nichts. Aber es geschah
nichts. Kein Blut. Kein Korditgeruch. Die nur wenige Zentimeter von
meinem Gesicht entfernte Glock rauchte nicht. Ich drehte mich um,
während meine Ohren dröhnten.
Der schwarze Erzengel taumelte
am Rand des schmalen Gangs und ließ meine Automatik fallen. Bevor
ich irgendwie reagieren konnte, streckte Luc, ungläubig staunend,
seinen Arm zu mir aus und stürzte dann rücklings in den
Abgrund.
Sein Sturz enthüllte eine
schwarze Gestalt ein paar Meter weiter hinten.
Selbst im Gegenlicht erkannte
ich meinen Retter.
Zamorski, der Nuntius und
Rächer aus Krakau.
Römischer Kragen und dunkler
Anzug, bereit für die Letzte Ölung.
Meine erste Intuition war immer
richtig gewesen.
Die Neun-Millimeter, die in
seiner Hand rauchte, passte ihm wie angegossen.