KAPITEL 62
In der unmittelbaren Umgebung von Catania waren
die Aschenwolken noch dunkler. Die Schilder »Sabbia vulcanica« (»Vulkanasche«) waren nicht mehr
zu sehen. Meine Scheibenwischer quietschten, gebremst vom Sand. Ich
fuhr im Schritttempo und streckte die Hand hinaus, um die
Windschutzscheibe zu säubern.
Auch der Vulkan hatte sein
Aussehen verändert. Zwei riesige Rauchwolken schwebten über seinen
Flanken. Die eine war pigmentiert und gräulich – Aschenregen,
Magma, das unter unvorstellbarem Druck pulverisiert wurde –, die
andere diesig und wallend, ausschließlich aus Wasserdampf
bestehend. Man hörte ihr ungeheures Heulen, das die Detonationen
überlagerte. Im Himmel Hubschrauber, die als Maßstäbe für diese
mehrere Kilometer hohen Rauchwolken dienten.
Die Hänge zwischen den beiden
klaffenden Öffnungen waren von einem Netz rötlicher Adern
überzogen, die in glühenden Fontänen explodierten. Der Berg
veränderte sich in seinem geologischen Gefüge. Eruptionskegel
tauchten auf, Erdschichten wurden aufgeworfen. Ich konnte
Erscheinungen beobachten, die aus grauer Vorzeit zu stammen
schienen. Die Oberfläche des Planeten wurde rissig und weich und
dehnte sich aus, um seine lebendige Natur, sein schmelzflüssiges
Inneres zu offenbaren. Der Berg wandelte sich und ich mich
ebenfalls.
Um Catania herum wurden die
Straßensperren immer dichter. Die Mundschutz tragenden Beamten der
Guardia di Finanza überprüften Ausweise und Passierscheine. Wenn
der Verkehr zum Stillstand kam, lasen die Autofahrer ruhig in ihren
Zeitungen. Es war das Ende der Welt, und niemand scherte sich
darum.
15 Uhr, Via Etnea
Ich wollte jetzt den Erzbischof von Catania,
Monsignore Paolo Corsi, persönlich sprechen. Ich wollte klar und
deutlich die Meinung der Kirche über den Fall Agostina Gedda und
den Skandal, den er darstellte, hören.
Die Stadt lag im Dunkeln, und
im erzbischöflichen Palais hatte man sich offenbar geschworen,
keinen Strom zu benutzen. Es war die gleiche Atmosphäre hektischer
Geschäftigkeit wie in der Questura oder in der Redaktion der
Ora, nur etwas finsterer. Priester eilten
durch die Gänge, wobei sie sich Messgewänder überstreiften oder
Kreuz und Räuchergefäß trugen.
Ich hielt einen von ihnen an
und fragte ihn nach dem Büro von Monsignore Corsi. Er riss die
Augen sperrangelweit auf, ohne zu antworten. Ich ließ ihn stehen
und ging die Treppe hinauf, wobei ich im allgemeinen Getümmel die
Ellbogen gebrauchte. Im obersten Stock schließlich fand ich das
Dienstzimmer des Erzbischofs. Der Form halber klopfte ich an und
trat dann ein.
Im Halbdunkel saß ein alter
Mann in schwarzer Robe hinter einem Schreibtisch und schrieb. Ein
großes Fenster hinter ihm warf ein schwaches Licht auf seinen
kahlen Schädel. Er hob seine schweren Lider, ohne seinen fülligen
Körper zu bewegen:
»Wer sind Sie? Wer hat Ihnen
erlaubt …«
Ich streckte ihm meinen
Dienstausweis entgegen und stellte mich vor. Ich kam gleich zur
Sache: Agostina Gedda. Ich hatte keine Zeit mehr für
Katzbuckeleien. Der Mann in der Soutane blickte nach unten auf
seine Schriften. Er hatte ein unerschütterliches
Bulldoggengesicht.
»Verlassen Sie dieses Zimmer«,
sagte er ruhig. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
Ich schloss die Tür zu und
näherte mich dem Schreibtisch. Die Gemälde um uns herum glichen
einfarbigen schwarzen Bildern.
»Ich glaube, im Gegenteil, dass
Ihr mir eine ganze Menge zu sagen habt. Ich werde dieses Zimmer
nicht eher verlassen, bis ich alles gehört habe.«
Der Erzbischof stand langsam
auf, wobei er sich mit den Fäusten auf dem Tisch abstützte. Seine
ganze Fülle atmete eine eindrucksvolle Kraft. Ein Koloss von etwa
sechzig Jahren, der in einer Prozession noch ein Eichenkreuz tragen
oder mich aus dem Fenster werfen konnte.
»Was für einen Ton erlauben Sie
sich?« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, in einem
plötzlichen Anfall von Wut. »Niemand spricht mit mir in diesem
Ton.«
»Es gibt immer ein erstes
Mal.«
Der Kirchenmann kniff die Augen
zusammen, wie um mich deutlicher zu sehen. Das stumpfe Goldkreuz
auf seiner Brust glänzte kaum noch. Er sagte leiser, den Kopf
schüttelnd:
»Sie sind verrückt. Sehen Sie
denn nicht, dass die Welt um uns herum zusammenstürzt?«
»Sie wird warten, bis ich die
Wahrheit kenne.«
»Sie sind verrückt …«
Der Erzbischof setzte sich
langsam wieder hin und meinte:
»Fünf Minuten. Was wollen Sie
wissen?«
»Eure Meinung als Kleriker: Wie
erklärt Ihr Euch das Verbrechen von Agostina Gedda?«
»Diese Frau ist ein
Monster.«
»Agostina Gedda wurde von Gott
auserwählt. Ihre Wunderheilung wurde offiziell anerkannt. Durch
Eure Diözese. Durch Euren Ausschuss aus Sachverständigen und
Klerikern. Durch die Römische Kurie. Ihr habt ihre körperliche und
spirituelle Heilung bestätigt. Wie hat sie sich so … grundlegend
verändern können? Oder vielmehr: Wie konnte Euch ein so schwerer
Fehler unterlaufen? Nicht den Wahnsinn zu erkennen, der in ihr
schlummerte?«
Der Erzbischof hatte die Augen
noch immer niedergeschlagen. Er betrachtete seine großen grauen
Hände, die reglos auf dem Schreibtisch lagen. Er murmelte:
»Ich hatte mir geschworen,
nicht mehr darüber zu sprechen.«
»Antwortet mir!«
Er sah auf. Seine hellen Augen
waren außergewöhnlich ausdrucksstark. Seine Worte mussten seinen
Hörern unter die Haut gehen, wenn er auf die Kanzel stieg und sie
mit den Augen fixierte.
»Wir haben uns geirrt, aber
nicht so, wie Sie glauben.«
»Was glaube ich?«
»Wir haben uns im Lager geirrt.
Das ist alles.«
»Ich verstehe nicht.«
»Agostina wurde nicht von Gott,
sondern vom Teufel geheilt.«
Mir blieb der Mund offen
stehen.
»… vom Teufel geheilt?«
»Der Teufel hat Agostina das
Leben gerettet. Wir sind uns jetzt dessen sicher. Sie hat uns alle
an der Nase herumgeführt. Mit ihren Gebeten, ihren Wallfahrten und
ihrer Tätigkeit als Krankenschwester. Nichts als Verstellung. Seit
Agostina aus dem Koma aufgewacht ist, ist sie vom Teufel besessen.
Satan hat sie gerettet. Sie hatte uns etwas vorgespielt, um uns
besser verhöhnen zu können. Der Teufel ist ein Lügner. Wie heißt es
doch bei Johannes: ›Wenn er lügt, sagt er das,
was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater
der Lüge.‹«
Mir war schwindlig, aber
ungeachtet der Verwirrung merkte ich mir eine wesentliche Tatsache:
Monsignore Paolo Corsi und mit ihm zweifellos seine ganze Diözese
und die päpstlichen Behörden erkannten dem Teufel die Fähigkeit zu
heilen zu. Das bedeutete, dass der Teufel existierte, als eine
höhere Instanz – oder eine niedrigere, wenn man mit Worten spielen
wollte.
Satan, eine physische und
zugleich übernatürliche Kraft!
»Wie könnt Ihr nur so sprechen?
Wir sind nicht mehr im Mittelalter!«
Der Mann nahm ein Blatt Papier
mit dem Briefkopf des Erzbistums. Er kritzelte einen Namen und eine
Adresse darauf und sagte dann mit müder Stimme:
»Ihre fünf Minuten sind
vorüber. Wenn Sie mehr wissen wollen, wenden Sie sich an die
Spezialisten des Heiligen Stuhls. Kardinal Van Dieterling wird Sie
vielleicht empfangen.« Er schob mir das Blatt hin. »Hier ist seine
Adresse.«
»Ist er Exorzist?«
Corsi schüttelte seinen
Bulldoggenkopf. Er lächelte offen im Halbdunkel:
»Ein Exorzist? Dieses Mal sind
Sie im Mittelalter.«